13. Februar 2023
Hans Modrow wollte die DDR in eine bessere Zukunft führen. Mit seinem Tod verliert die Linke einen integren, wenn auch widersprüchlichen Kämpfer für den Sozialismus.
Der ehemalige DDR-Ministerpräsident Hans Modrow ist im Alter von 95 Jahren verstorben.
IMAGO / IPONHans Modrow, der letzte SED-Ministerpräsident der DDR und bis zuletzt Vorsitzender des Ältestenrates der Partei DIE LINKE, verstarb in der Nacht zum 10. Februar. Er erlangte internationale politische Bedeutung in der dramatischen Umbruchphase der DDR zwischen dem Fall der Berliner Mauer und den ersten und letzten freien Wahlen zur Volkskammer. Seine lange Lebensgeschichte ist mit ihren seinen Widersprüchen exemplarisch für den ostdeutschen Staat und sein ambivalentes Erbe.
Hans Modrow wurde am 27. Januar 1928 Jasenitz (heute Jasienica) geboren; einem kleinen Ort in jenem Teil Vorpommerns, der heute zu Polen gehört. Sein Vater war zuerst Seemann und arbeitete danach als Bäcker. Der junge Modrow erlernte den Beruf des Maschinenschlossers und wurde noch im letzten Kriegsjahr zum Volkssturm eingezogen. Als Kriegsgefangener in der Sowjetunion gehörte er zu den Überlebenden von Hitlers letztem Aufgebot und durchlief bis 1949 eine Antifa-Schule. Modrows ausgezeichnete Russischkenntnisse zeugen von dieser Zeit. Zurückgekehrt, arbeitete er in seinem erlernten Beruf in Hennigsdorf bei Berlin und begann seine politische Arbeit in der FDJ und in der SED.
Nach mehreren Partei- und Gewerkschaftsfunktionen auf lokaler Ebene wurde Modrow 1952 für ein Jahr an die Komsomol-Hochschule in Moskau, die höchste Bildungseinrichtung des sowjetischen Jugendverbandes, delegiert. Unterdessen waren seine Eltern in den Westen geflüchtet. Er sah sie nie wieder. Nach seiner Moskauer Zeit wurde er für die nächsten acht Jahre Erster Sekretär der FDJ-Bezirksleitung Berlin. In dieser Zeit erwarb er im Fernstudium an der SED-Parteihochschule ein Diplom im Fach Marxismus-Leninismus sowie an der Hochschule für Ökonomie einen Abschluss als Diplom-Ökonom. Daran anschließend verfasste er mit seinem Kollegen Rainer Falke an der Humboldt-Universität eine wirtschaftswissenschaftliche Dissertation über »Ermittlung, Auswahl und Entwicklung von Nachwuchskadern für Führungsfunktionen in der sozialistischen Industrie« am Beispiel von Großbetrieben der Kabelindustrie.
Modrows Biographie ist somit beispielhaft für die sich selbst als DDR-Aufbaugeneration bezeichnende Kohorte: für Männer und Frauen jener Jahrgänge, die zu jung waren, um mit den Verbrechen des Hitler-Regimes belastet zu werden, doch alt genug, um historische Verantwortung für diese Verbrechen zu übernehmen. Es waren bei Kriegsende junge Menschen, die nach einer Alternative zum bisherigen Verlauf der Geschichte suchten, die im Kapitalismus die Grundursache für den Faschismus sahen und die sich der Sowjetunion als der Kraft, die den Hauptanteil am Sieg über Hitler hatte, verpflichteten. Modrow, der die entscheidenden Jahre seiner politischen Bildung in und durch die Sowjetunion erfahren hatte, gehörte somit auch kulturell zur neuen nachrückenden Führungsschicht, die den durch die KPD der Weimarer Republik, durch Antifaschismus und Exil geprägten politischen Führungskräften künftig nachfolgen sollte.
Allerdings zeichnete sich sein persönlicher Charakter ganz besonders dadurch aus, dass er ein politisches Grundverständnis besaß, in dem zunehmend demokratische Momente und die Bereitschaft zum Dialog angelegt waren; Eigenschaften, wegen derer auch ich ihn schätzte. Er war nicht nur rhetorisch überzeugend, sondern konnte auch gut zuhören, wusste nie alles von vornherein besser.
Die kulturell enge Bindung an die Sowjetunion kam auch darin zum Ausdruck, dass er und seine 2003 verstorbene Frau Annemarie ihren beiden Töchtern Tamara und Irina russische Namen gaben; der frühe Tod seiner Tochter Irina, meiner Berliner Forschungskollegin, hinterließ in ihm eine unheilbare Wunde.
Zunächst stieg Hans Modrow innerhalb der SED rasch auf: 1954 wurde er Mitglied der Bezirksleitung Berlin der SED. Von 1958 bis 1990 gehörte er der Volkskammer, dem Parlament der DDR, an. Im September 1961 wurde er Erster Sekretär der SED-Kreisleitung Berlin-Köpenick, anschließend war er Sekretär für Agitation in der SED-Bezirksleitung Berlin. In Berlin initiierte er soziologische Erhebungen unter der Bevölkerung und speziell den Produktionsarbeitern, die vom Parteiapparat ansonsten argwöhnisch beäugt und schließlich unterbunden wurden. 1967 wurde er Mitglied des Zentralkomitees der SED und Abteilungsleiter für Agitation, bemühte sich dabei auch mit Erfolg um die Intensivierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Japan. Von 1973 bis 1989 war Modrow Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED in Dresden.
Dort pflegte die Familie Modrow einen recht bescheidenen Lebensstil in einer Dreiraumwohnung. Auf die von anderen hochrangigen Funktionären als selbstverständlich wahrgenommenen Privilegien verzichtete Modrow.
Dresden war für die SED ein schwieriges Pflaster. Anders als das konkurrierende Leipzig war die einstige sächsische Landeshauptstadt weder durch ein selbstbewusstes Handelsbürgertum noch durch eine traditionell starke Arbeiterbewegung geprägt gewesen. Dresden war vielmehr von starken aristokratischen Traditionen und einer geschönten Nostalgie für Erinnerungen an das Königshaus Wettin geprägt; eine Gesellschaft, deren Brüchigkeit der ihr entstammende Ludwig Renn (eigentlich Arnold Vieth von Golssenau) in seinem mexikanischen Exil-Roman Adel im Untergang 1944 einprägsam beschrieben hatte.
Die Erinnerung an das alliierte Bombardement vom 13. Februar 1945 minderte in Dresden auch die ansonsten in der DDR-Jugend verbreitete Amerika-Begeisterung, zumal Impulse der westlichen Populärkultur hier nur begrenzt wirksam wurden, da das westliche Fernsehen – anders als in weiten Teilen der DDR – nicht empfangen werden konnte.
Aus all diesen Gründen musste Modrow als Bezirkssekretär auf eine zugleich antikommunistische wie antiwestliche Stimmung unter der Bevölkerung reagieren – eine Kombination, die etwa in Berlin oder Leipzig so kaum denkbar war. Anders als andere SED-Funktionäre erlag Modrow nicht der Versuchung, durch grobschlächtige Formulierungen wie »anglo-amerikanische Luftgangster« nationalistische Ressentiments zu schüren. Er blieb Internationalist, wobei sein pflichtgemäßer Appell an die Freundschaft zur Sowjetunion plakativ blieb und auf wenig Resonanz stieß.
Dies änderte sich sukzessive mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows in der Sowjetunion 1985. Es zeigte sich, dass Hans Modrow, der über Verbindungen in das höhere Funktionärskorps der sowjetischen Partei verfügte, eine »Antenne« für die überfälligen, nun allmählich anlaufenden Veränderungen in der sowjetischen Gesellschaft besaß. Sehr vorsichtig begann er sich in der Form seiner Repräsentation immer mehr vom hohlen Agitationsstil der Partei-Ideologen abzugrenzen. Er betonte die Notwendigkeit einer Verbesserung der Kommunikation zwischen Partei, Staat und Bevölkerung, während die offizielle Lesart behauptete, dass alles perfekt laufe.
Provozierenden westlichen Fragen, etwa bei der Anbahnung der Städtepartnerschaft mit Hamburg, wich Modrow freilich aus. Dennoch stieß er auf wachsenden Argwohn, zumal sich das Gerücht nicht aus der Welt schaffen ließ, innerhalb der sowjetischen Führungsriege um Michail Gorbatschow würden ihn viele als möglichen Nachfolger von Erich Honecker sehen. Natürlich erfuhr Honecker davon, und ließ Modrow intensiv durch die Stasi bespitzeln. Solange Honecker die Geschicke der DDR und ihrer Staatspartei lenkte, bestand für Modrow keine Chance, ins Politbüro aufzurücken. Modrows bisweilen halböffentlich geäußerte Bemerkung, Politiker sollten mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen, verschaffte ihm unter der Führungsriege der DDR mit einem Durchschnittsalter von fast 80 Jahren keine Freunde.
Im Zeichen einer nahenden gesellschaftlichen Krise initiierte die DDR am 7. Mai 1989 Kommunalwahlen, bei denen jedoch – wie stets seit 1950 – nur eine Einheitsliste der SED und der Blockparteien zur »Wahl« stand. Das von Wahlleiter Egon Krenz verkündete, an die Einhundert-Prozent-Marke fast heranreichende Ergebnis löste starke Zweifel und Empörung aus. Spontan gebildete Bürgerkomitees forderten, den Wahlvorgang zu überprüfen. Es zeigte sich später, dass die Ergebnisse, die ohnehin keinen Einfluss auf das Machtgefüge gehabt hätten, in wesentlichen Teilen gefälscht waren, so auch im Bezirk Dresden. Hans Modrow, der dies lange leugnete, sollte dafür im August 1995 von einem bundesdeutschen Gericht zu einer Bewährungsstrafe mit einer Geldbuße von 5.000 DM verurteilt werden.
Im Herbst 1989 zeigte Modrow zwei Gesichter. Am 3. Oktober 1989 ließ er 1.320 Bürgerinnen und Bürger festnehmen, die am Dresdner Hauptbahnhof bei der Durchfahrt der 14 Sonderzüge demonstrierten. Diese Züge sollten fluchtwillige DDR-Bürger, die auf dem Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag Asyl gesucht hatten, nach Westdeutschland bringen. In fast selbstmörderischer Verblendung hatte die DDR-Regierung darauf bestanden, die Züge über das Territorium des »eigenen« Staates in den Westen fahren zu lassen, um so wenigstens den Anschein einer souveränen Entscheidung zur Ausreise zu erwecken. Doch wurde die Fahrt der Züge zum öffentliches Symbol für die Auflösung der SED-Herrschaft. Am 13. Oktober 1989 legte die Dresdner Polizeiführung unter Modrows Leitung einen Geheimplan zur Unterdrückung der andauernden Proteste vor. 1991 erklärte er, dass er gegen den Plan gewesen sei, die Züge durch das Territorium der DDR in den Westen fahren zu lassen.
Gleichzeitig bemühten sich Modrow und der Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer um eine Deeskalation der Lage und einen friedlichen Ausweg. Trotz zunächst hinhaltender Taktik akzeptierte Berghofer mit Modrows Billigung schließlich die sogenannte Gruppe der 20 als Gesprächspartner. Die Gruppe, zu der der katholische Kaplan Frank Richter (später CDU, dann Übertritt zur SPD) als wichtigster Sprecher gehörte, forderte die Freilassung der Verhafteten, weiterhin Reise-, Demonstrations- und Pressefreiheit sowie die Zulassung des Neuen Forums als wichtigster Bewegung der Opposition.
Im laufenden Erosionsprozess der bisherigen Staatspartei und der kurzen Zeit von Egon Krenz als Nachfolger Honeckers an der Staats- und Parteispitze wurde Hans Modrow am 8. November 1989 ins Politbüro der SED gewählt. Im Dezember wählte ihn ein außerordentlicher Parteitag zum Stellvertreter des Parteivorsitzenden Gregor Gysi mit dem Auftrag zur umfassenden Erneuerung von Partei und Gesellschaft. Wenn es um die Erneuerung gehe, müsse bei sich selbst beginnen, betonte er.
Die Partei ergänzte ihren Namen um die programmatische Bezeichnung »Partei des Demokratischen Sozialismus«, legte alsbald den Namen SED ganz ab und versuchte als PDS die staatliche Existenz der DDR, von der sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger abwandten, zu bewahren. Am 13. November wurde Modrow noch von der amtierenden Volkskammer als Nachfolger von Willi Stoph zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt. Die von ihm geführte Regierung bestand aus Mitgliedern der SED-PDS, der DDR-Blockparteien und seit dem 5. Februar kooptierten Vertretern des Zentralen Runden Tisches, unter denen mit Tatjana Böhm nur eine Frau war. Von den drei SED-Ministerinnen zeichnete sich besonders die Wirtschaftsministerin Christa Luft durch hohe Fachkompetenz aus.
Die Regierung Modrow wurde infolge der Wahl vom 18. März 1990 durch eine bürgerlich-sozialdemokratische Koalitionsregierung unter Lothar de Maizière (CDU) abgelöst, blieb aber noch bis zum 12. April im Amt. Sie sorgte noch für die Aufnahme jüdischer Kontingent-Flüchtlinge nach Ostdeutschland, die angesichts des zunehmend grassierenden Antisemitismus die gleichfalls allmählich zerfallende Sowjetunion verließen. Kurz vor der Volkskammerwahl versuchte Modrow noch, DDR-Hauseigentümer vor dem Ausverkauf zu retten. DDR-Bürgerinnen und -Bürger konnten die Grundstücke, auf denen ihre Häuser standen, preiswert kaufen. In der DDR gehörten den meisten Hausbesitzern in den Ostbezirken zwar ihre Häuser, die Grundstücke darunter jedoch dem Staat.
Das Wahlergebnis vom 18. März hatte dem Wunsch der überwiegenden Mehrheit der DDR-Bürger nach dem Ende ihres Staates und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten entsprochen. Dem staatlichen Vollzug der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 folgte Hans Modrows Einzug in den Bundestag auf der Liste der PDS. Er gehörte nach den Wahlen vom 3. Dezember 1990 dem Bundestag bis 1994 an. Von 1999 bis 2004 vertrat er die PDS im Europaparlament. Danach schied er zwar aus der aktiven Politik aus, nahm aber als Ehrenvorsitzender der Partei sowie als Vorsitzender ihres Ältestenrates noch Ehrenämter wahr und äußerte sich auch weiterhin politisch.
Hans Modrow versuchte vergeblich, die DDR in eine bessere Zukunft hinüberzuretten. Dennoch könne die DDR auch auf Leistungen zurückblicken, unter denen in Modrows Augen vor allem die folgenden hervorzuheben seien: ihre antifaschistische Ordnung, wenngleich diese später nicht mehr ausreichend vermittelt wurde, die Grundlagen einer nicht- und antikapitalistischen Wirtschafsweise, sowie in den 1960er Jahren Ansätze einer ernsthaften Wirtschaftsreform. Ihr Abbruch bedeutete, dass die Wirtschaft die Sozialpolitik nicht dauerhaft habe tragen können.
Am Ende seines Lebens blieb Hans Modrow wenig erspart. Der Krieg in der Ukraine erschütterte ihn, ohne dass er wohl ganz den Charakter des imperialistischen Putin-Regimes durchschaute. Die Bilder des Krieges »bringen meine schrecklichen Jugenderinnerungen zurück. Sie diktieren meine Gefühle. Ich sehe die zerstörten Wohnhäuser, sehe ausgebrannte Fahrzeuge auf den Straßen und Menschen, die verzweifelt vor Bomben und Raketen fliehen. Ich fühle mich um fast 80 Jahre zurückversetzt und werde nachdenklich. Europa hatte sich doch geschworen: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Die Narben sind geblieben – ich spüre sie mit meinen 94 Jahren stärker denn je.«
Was bleibt am Ende als Hans Modrows wichtigste politische Leistung? »Dass sein Kabinett die ökonomisch angeschlagene Republik über die Runden brachte, ohne dass im Winter 1990 die Versorgung der Bevölkerung zusammenbrach oder die Betriebe ihre Produktion einstellen mussten – es war nicht mehr und nicht weniger als eine friedenserhaltende, nach dem 3. Oktober 1990 nie gewürdigte Leistung«, schrieb Lutz Herden mit Recht im Freitag.
Hans Modrow war einer der letzten Vertreter der Generation, die nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus den Versuch unternahm, in Deutschland unter sowjetischem Vorzeichen eine alternative gesellschaftliche Entwicklung voranzubringen. Schon zu DDR-Zeiten nahm er Probleme wahr und regte Veränderungen an in der Hoffnung, die DDR zu verbessern und dadurch zu retten. Ein Problem, dessen Bedeutung er zunehmend, wenn auch spät erkannte, war der Zusammenhang zwischen Sozialismus und Demokratie. Diese kann spezifisch-sozialistische Formen annehmen, ihre Werte sind jedoch überzeitlich. Demokratische Werte in einem sozialistischen Gesellschaftsentwurf zum Tragen zu bringen, ist eine Aufgabe, die Hans Modrow trotz ehrlichem Bemühen nicht lösen konnte – deren Lösung künftigen Generationen jedoch aufgegeben ist.
Nicht vergessen ist Hans Modrows Einsatz für den Fußballsport: Im Januar 1966 war er als Erster SED-Sekretär des Stadtbezirks Berlin-Köpenick an der Wiedergründung des 1. FC Union beteiligt und erlebte den phänomenalen Aufstieg des langjährigen Underdogs zu einem deutschen Spitzenklub. »Seiner Familie und seinen Freunden gilt die herzliche Anteilnahme des 1. FC Union Berlin«, hieß es in einem Nachruf des beliebten Klubs. »Union wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren – Eisern Union!«
Mario Keßler ist Senior Fellow am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.