26. September 2023
Georg Lukács fragt in seinem Klassiker »Geschichte und Klassenbewusstsein« nach der richtigen politischen Organisationsform – und zeichnet einen Weg zwischen individualistischer Unverbindlichkeit und starrer Parteidisziplin.
»Georg Lukács hat sich nach seiner Selbstbeschreibung immer als ein Partisan gefühlt, der in der Partei gegen deren Deformation kämpft.«
Collage: Andy KingIm Dezember 1918 tritt der Großbürgersohn Georg Lukács im Alter von 33 Jahren in die frisch gegründete Kommunistische Partei Ungarns ein – und »wechselt« damit »von einer Klasse in die andere hinüber«, wie er später lapidar bemerkt. In den Jahren zuvor war der junge Lukács als Kulturtheoretiker und Essayist hervorgetreten, sein noch lebensphilosophisch geprägter Großessay Die Theorie des Romans von 1916 zählt zu den Klassikern der Kulturkritik des 20. Jahrhunderts.
Nun in der Partei, empfängt Lukács die Feuertaufe der Revolution: In Ungarn wird im März 1919 eine Räterepublik ausgerufen, Lukács avanciert zum Volkskommissar für Unterrichtswesen, im anschließenden Bürgerkrieg befehligt er als politischer Kommissar eine Einheit der ungarischen Roten Armee.
So radikal der Bruch mit der bisherigen Lebensform auch gewesen sein mag, über seinen intellektuellen Schatten kann Lukács dann doch nicht ganz springen: Er begleitet sein Engagement für Partei und Revolution von Anfang an schreibend und legt von seiner Entwicklung theoretisch Rechenschaft ab. Im Jahr 1923 veröffentlicht er dann das Buch, dessen hundertster Geburtstag in diesem Jahr weltweit mit Konferenzen und Sammelbänden gefeiert wird: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik.
Das Buch erscheint im Berliner Malik-Verlag, der von dem kommunistischen Künstler und Impresario Wieland Herzfelde betrieben wird, dem Bruder des bekannten Dadaisten und Montagekünstlers Helmut Herzfelde, der sich seit 1915 in internationalistischem Geist John Heartfield nennt. Veröffentlicht werden im Malik-Verlag ansonsten avantgardistische Kunstbücher von George Grosz, aber auch kommunistische Traktate über Lenin und die junge Sowjetunion.
Lukács ist mit seinem Werk also gut eingebettet in die künstlerische und theoretische Avantgarde der Zeit. Dass sein überaus kompliziertes und sperriges Buch eine so außergewöhnliche Karriere machen würde, ist allerdings nicht absehbar: Bald wird es in der ganzen kommunistischen Weltbewegung diskutiert, schnell erscheinen Auszüge in russischer Übersetzung, die Kommunistische Internationale verurteilt das Buch schon 1925 als »Rechtsabweichung«, während Lenin höchstpersönlich Lukács kurz zuvor noch als »Linksabweichler« abgekanzelt hatte.
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Patrick Eiden-Offe ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Er hat Bücher über poetische Klassenbildung im Vormärz und über Hegels Logik geschrieben, zurzeit arbeitet er an einer intellektuellen Biographie Georg Lukács’.