13. Juli 2025
George W.F. Hallgarten war unter den Historikern der Nachkriegszeit einzigartig. Heute weitgehend vergessen, seine investigativen Studien zum deutschen Militarismus und Imperialismus forderten die etablierte Geschichtsschreibung auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs heraus.
Konterfei von Hallgarten aus der 1976 erschienenen Gedenkschrift »Imperialismus im 20. Jahrhundert«.
Ein »enfant terrible«, ein »Außenseiter« soll er gewesen sein. Allein seinen Schriften nach zu urteilen stand dieser Aufklärer dem Volke weit näher als die meisten seiner Zunft. George W.F. Hallgarten hat die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts durchlebt und als Historiker in beispielloser Manier verarbeitet. Als früher Kritiker der kapitalistischen und militaristischen Verhältnisse des Wilhelminismus schrieb er über die verwinkelten Seilschaften und Verstrickungen zwischen Außenpolitik und Ökonomie. Keineswegs zufrieden, die Außenpolitik ausschließlich an externen Faktoren zu bemessen, untersuchte er stets auch die innenpolitischen Kräfteverhältnisse. Besonderen Fokus legte er auf die Rüstungsindustrie.
Als deutsch-jüdischer Wissenschaftler linksliberalen Schlages wurde Hallgarten von den Lehrstühlen zeitlebens ferngehalten. Vor 50 Jahren, am 22. Mai 1975, starb er, ohne je einen eigenen Lehrstuhl gesehen zu haben. Seine Werke indes, insbesondere sein zweibändiges Imperialismus-Werk, sind historiografische Schmankerl höchster Güte, gründlich recherchiert, detailverliebt, ornamental garniert und mit einer Prise Humor serviert. Zeit, sich seiner wieder anzunehmen und zu fragen: Was bieten uns sein Leben und seine Lektüre heute?
Hallgarten entstammt einer deutsch-amerikanischen Familie aus München. Seine Mutter Constanze, Tochter der auch feministisch engagierten Malerin Philippine Wolff-Arndt, widmet sich zeitlebens den Frauenrechts- und Friedensbewegungen. Im Zuge des Hitler-Putsches 1923 entgeht sie nur knapp und zufällig einer Festnahme durch die Faschisten. Noch 1932 organisiert sie eine große Friedenskundgebung in München, bevor sie das Schicksal des Exils trifft. Sein Vater, Robert Hallgarten, ist Germanist und Jurist, noch interessanter vielleicht sein Großvater: Als Eisenbahn-Spekulant und Bankier hatte Charles Hallgarten in den USA ein Vermögen verdient, das ihm später ein Leben als Philanthrop in Deutschland ermöglichte. Neben seiner führenden Tätigkeit in verschiedensten jüdischen Vereinen machte er weiterhin Geschäfte mit Personen wie Carl Fürstenberg oder Friedrich Naumann, die er finanziell bei seinen Projekten mit der Freisinnigen Vereinigung oder der Zeitschrift Die Hilfe unterstützte. In einem überschwänglichen Nachruf charakterisierte Naumann seinen Gönner als Kapitalisten mit großem Herzen.
»Insbesondere Weber hat es ihm angetan, obgleich er auch häufig auf Karl Marx rekurriert.«
So wird Wolfgang Hallgarten 1901 in eine gebildete, recht betuchte Familie geboren. Sie lassen sich in München ein schickes Haus bauen, leben benachbart und befreundet mit Familie Mann, ihre Kinder spielen gemeinsam. Im Hause wird musiziert und gelernt. Wolfgang wird nach Kräften gefördert, will schon früh Historiker werden. Das ganze Umfeld der Hallgartens liest sich wie ein Who-is-Who Münchens, mit Namen wie Mann, Ganghofer, Thoma, Furtwängler und so weiter – zu den biografischen Kuriositäten dieser Phase zählt ein Mitschüler, der sich durch streberhafte »Überkorrektheit« auszeichnet, wie Hallgarten berichtet. Es ist der spätere »Reichsführer SS« Heinrich Himmler, mit dem er die Schulbank drückt. Abgesehen von diesem retrospektiv skurrilen Umstand wahrlich ein kulturelles Paradies, möchte man meinen, in welchem aufzuwachsen nicht vielen vergönnt ist. Die friedliche Idylle trügt. Der Antisemitismus erstarkt, die Kriegstreiberei auch. 1914 ist der Frieden dahin.
Nach dem Weltkrieg studiert Hallgarten Geschichte, neben Erich Marcks und Hermann Oncken hört er etwa Max Weber, Karl Jaspers und Emil Lederer. Insbesondere Weber hat es ihm angetan, obgleich er auch häufig auf Karl Marx rekurriert. Neben dem Studium wird er in verschiedenen studentischen Gruppen aktiv. 1925 promoviert er zur »deutsche[n] Polenfreundschaft in der Periode der Märzrevolution«. Anschließend arbeitet er kurz in Hamburg am Institut für Auswärtige Politik, den Historiker Alfred Vagts vertretend, der später zum »besten und zuverlässigsten Freund« avanciert. Vagts’ baldige Rückkehr jedoch macht Hallgarten entbehrlich.
In der Weimarer Republik sollte der junge Historiker keine Anstellung mehr finden. Er konzentrierte sich umso akribischer aufs Forschen und sprach in seinen Memoiren von sich als einem »von seinen Renten lebenden Bourgeois«. In der Tat mutet es extravagant an, dass Hallgarten Unter den Linden noch seine Suppe auslöffelte, ehe er zur Preußischen Staatsbibliothek schlenderte, »wo seit Stunden bereits« der Sekretär »Zeitungen für mich durchsah«. Was andere durch das Privileg eines Lehrstuhls gestellt bekamen, studentische Hilfskräfte nämlich, verschaffte sich Hallgarten mithilfe eines reichen Elternhauses. Nachdem er derart fünf Jahre lang Material aus den verschiedensten Archiven gesammelt hatte, »ging es ans Diktieren« seines Opus Magnum, Imperialismus vor 1914. Das Abfassen beanspruchte weitere zwei Jahre.
Über Deutschland hingen die Wolken nunmehr tiefschwarz. Hallgarten wie auch sein Kollege und geschätzter Freund Eckart Kehr, selbst ein begnadeter Historiker, arbeiteten – zu Beginn der 1930er – weiterhin an ihren wissenschaftlichen Projekten. Mit steigendem Rechtsruck verschlossen sich die akademischen und archivalischen Türen jedoch immer mehr. Ohnehin wurden sozialistischen und linksliberalen Historikern die ganze Weimarer Zeit über Steine in den Weg gelegt. »Sie stießen zumeist nicht so sehr auf kritische Gegenargumente«, urteilt der Historiker und Faschismus-Experte Manfred Weißbecker, »eher auf hasserfüllte Ablehnung«.
Die meist anti-republikanischen Historiker, die Gralshüter der historiographischen Zunft, ließen in der Tat nichts unversucht, kritische Meinungen auszuschalten: Intrigen wurden gesponnen, Abschlussarbeiten nicht zugelassen, Stipendien vereitelt, Archivbestände gefilzt, »Akten vorübergehend entheftet«, bevor Hallgarten sie bekam, um anschließend »wieder eingeheftet« zu werden (so Hallgarten in Als die Schatten fielen). Kritische wissenschaftliche Arbeiten wurden »tabuisiert, ihre Autoren gesellschaftlich isoliert«, hielt Werner Röhr in seinem Buch zur Kriegsschulddebatte fest. Doch galt Letzteres nicht auch für Röhr, Weißbecker und Genossen? Eine ähnliche Praxis sollte nach 1989 unter grundlegend veränderten Bedingungen eben auch zahlreiche ehemalige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der DDR samt ihren Werken ereilen, ja geradewegs treffen und ungeniert ausbooten. Zurück zu Hallgarten: Die Gestapo wie auch der faschistische Historiker Walter Frank beschwerten sich nach Machtantritt dennoch, fand er nach 1945 heraus, dass ihm zu viele Akten ausgehändigt worden seien.
Trotz dessen erging es den beiden jungen Wissenschaftlern weit besser als den zahlreichen von den Faschisten schon bis 1933 gefolterten und ermordeten Kommunisten und Sozialdemokraten. Sie steckten nicht im täglichen Straßenkampf, kämpften allerdings in einer abgelegeneren Arena, auf sich gestellt, gegen Rechtskonservative und Faschisten. Ihre Arbeiten verdienen ohne Frage das Prädikat antifaschistisch. Andernorts die zahlreichen weiteren, hier nicht genannten linken und liberalen Wissenschaftler Weimars zu erforschen, lohnt sich allemal.
»Seine ›Kollegen‹ hätten ihm wenige Jahre zuvor Galgen oder Gaskammer gewünscht. Trotz Mitwirkens an diversen Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren sie aber nicht an den Galgen, sondern erneut auf den Lehrstuhl gekommen.«
Während Kehr nun von konservativer Seite als »Edelbolschewist« verschmäht wurde (so der konservative Historiker Gerhard Ritter, der später auch Fritz Fischer bekämpfen sollte), machte er auf das »Sozialismus«-Gehabe bürgerlicher Kreise aufmerksam, wie es nicht zuletzt im Etikett der »National-Sozialisten« wortwörtlich Anwendung fand. Er schrieb dem in den letzten Zügen seines Buches steckenden Hallgarten noch am 6. August 1932: »Wie geht’s Ihrer Arbeit? Es muss Ihnen gerade jetzt besonderes Vergnügen machen, die kapitalistische Verseuchtheit gerade der akapitalistischen oder antikapitalistischen Haltungen des Spießbürgertums nachzuweisen. In 30 Jahren werden wir ja auch genug Material haben, hoffe ich, um im einzelnen zeigen zu können, was Adolf und seine ganzen 13 Millionen wildgewordene Idiotenbürger für Huren der Thyssen etc. waren. Und wenn Geschichtsschreibung überhaupt einen Sinn hat, dann ist es heute der, die innere Verlogenheit all der Schichten aufzudecken, die heute wieder an die Macht kommen und denen das kopflose Spießbürgertum die Steigbügel hält. Bis die S-A. auch uns die Handgranaten ins Bett wirft, wollen wir unsere Pflicht tun.«
So weit kam es nicht. 1933 verließen beide Deutschland. Hallgarten kommentierte noch vor seiner Abreise aus München eben dieses »kopflose Spießbürgertum« und warnte seinen Freund eindringlich vor einer Rückkehr aus den USA: »Radieren Sie alles aus, was nützlich, gut und richtig ist, verbrennen Sie ihre Bücher, zerreißen Sie Ihre Arbeit, hauen Sie sich mit dem Gummiknüttel auf den Kopf, hängen Sie sich ein Plakat um: ›Ich will nie mehr eine Zeile gegen den Staat schreiben‹, lassen Sie sich dann im Hemd und barfuß von einigen handfesten Leuten am hellen Mittag über den Broadway schleifen, und Sie haben ein naturgetreues Porträt des deutschen Durchschnittsrepublikaners«. »Werden Sie Zeitungsschreiber, […], Clown im Zirkus […] – alles besser, als dass Sie nach Großhakenkreuznach zurückkehren. […] Ich werde also in Bälde den Weg aller Herzen, Bakunin, Marx, Heine und Ruge gehen.«
In jüngstem Alter verschied Kehr zwei Monate später in Washington. Was hätte diese Bekanntschaft wohl noch an Früchten getragen? Sie war beiderseits Inspiration und Motivation in einem feindlichen Umfeld. Hier sei wärmstens auf seine Studien zu Preußens Bürokratie, Militär, Flotte und Finanzpolitik, darunter Titel wie Klassenkämpfe und Rüstungspolitik im kaiserlichen Deutschland, verwiesen. Hallgarten ging in der Tat nach Frankreich, um dann über weitere Zwischenstopps in die USA zu gelangen, wo sein Name 1942 beim Militär umgeändert wurde in George W.F. Hallgarten.
Sein Hauptwerk, 1933 fertiggestellt, wurde zunächst 1935 unter dem Titel Vorkriegsimperialismus in Paris publiziert. Diese gekürzte Fassung des Originals half ihm wenigstens in den USA Arbeit zu finden, selbst wenn er auch dort nie einen Lehrstuhl erhielt. Von den Exil-Historikern kamen nicht viele zurück. Jürgen Kuczynski (England), Karl Obermann (USA), Leo Stern (Sowjetunion) oder auch Walter Markov (aus dem KZ) gingen in die DDR. Hallgarten kehrte zurück in seine Heimatstadt München und hielt hier 1949 eine Vorlesung über Diktatur. Aufgrund des Weltkrieges harrte sein vollständiges Manuskript immer noch in der Schublade. Endlich wurde es »durch persönliche finanzielle Opfer« 1951, jetzt unter dem Titel Imperialismus vor 1914, in Deutschland veröffentlicht – 18 Jahre nach seiner Niederschrift. Verband Hallgarten mit seinem Werk die Hoffnung »Bausteine zum geistigen Neuaufbau Deutschlands zu liefern«, wurde dies von anderer Seite wenig goutiert.
Die Historiker in der BRD, die dieses zweibändige Mammutwerk nun erwartungsgemäß bekrittelten, waren häufig noch die alten Konservativen, denen der Faschismus oftmals kein Haar gekrümmt hatte. Im Gegenteil: Historiker wie Theodor Schieder hatten massiv Dreck am Stecken und unterschieden sich nur in Nuancen von Franz Josef Strauß, Hans Globke, Theodor Oberländer oder Adolf Heusinger. So hatte Schieder mit einer erst spät bekanntgewordenen Polen-Denkschrift am Generalplan Ost aktiv mitgewirkt – samt Plänen für Säuberung, Deportation und Entjudung, um nach 1945 als einer der eifrigsten Wortführer der Vertriebenen dem verlorenen Osten hinterherzutrauern und gegen die Sowjets zu hetzen.
»Mit den überkommenen Ansätzen, mit denen die Geschichte auf ›große Männer‹ reduziert, Staaten als monolithische Gebilde gefasst sowie ›England tat dies‹ und ›Russland tat das‹ geschrieben wurde, hatte Hallgarten nichts am Hut.«
Diese perfide Atmosphäre muss man sich erst einmal vor Augen führen, um das Gefilde zu verstehen, in dem sich Hallgarten erneut bewegte. Seine »Kollegen« hätten ihm wenige Jahre zuvor Galgen oder Gaskammer gewünscht. Trotz Mitwirkens an diversen Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren sie aber nicht an den Galgen, sondern erneut auf den Lehrstuhl gekommen. Nun ging die Teilnahme und Verstrickung nicht bei jedem so weit. Andere, gemäßigtere Konservative wie Karl-Dietrich Erdmann hatten »nur« antisemitische Schulbücher und Propaganda-Material verfasst. Hallgarten hielt in seinen Memoiren fest: »Als das Hitlerreich schließlich zusammenbrach, wurde es keineswegs eine Beute deutscher Revolutionäre, sondern die Beute von Siegermächten, die nichts Eiligeres zu tun hatten, als die Monopolisierung der historischen Katheder durch eben jene Kreise zu bestätigen, gegen die sich mein großes Imperialismus-Werk richtete und die – durch die Nazis belästigt, aber nicht verdrängt – sich im großen und ganzen an der Macht gehalten hatten.«
In seinem Werk widmete sich Hallgarten den »soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg«, so der Untertitel. Im Unterschied nicht nur zum Weimarer Mainstream, sondern auch zum heutigen, erörtert er hier den Einfluss ökonomischer und gesamtgesellschaftlicher Faktoren auf die (Außen-)Politik. Er liefert seitenweise penibelste Materialanalyse, ein verworrenes Geflecht aus Finanzkapital, Industrie und Diplomatie enthüllend, ohne auf marxistisch-leninistischer Linie zu sein. Bei ihm stehe »die Taktik der historischen Individuen« im Fokus. Hallgartens wissenschaftliches Ziel »ist ein empirischer Beitrag zur Motivationstheorie« , das heißt die Klärung der Frage: Warum handeln Menschen auf diese oder jene Weise?
Mit den überkommenen Ansätzen, mit denen die Geschichte auf »große Männer« reduziert, Staaten als monolithische Gebilde gefasst sowie »England tat dies« und »Russland tat das« geschrieben wurde, hatte Hallgarten nichts am Hut. Wirtschaftsverbände, Trusts und Monopole, Propaganda- und Kolonialorganisationen (Think-Tanks), Könige und Barone, Sultane und Waffenhändler, Lobbyisten und Verbindungsmänner verschiedenster Länder – sie alle wurden seziert, mit den pikantesten Details charakterisiert und in einen Zusammenhang gebracht. Diesem gigantischen Vorhaben entsprachen die unzähligen, teils neuen Quellen, die er mit einer bisher unbekannten Virtuosität kombinierte. Dem Publikum erschloss er viele Schätze aus Zeitungsbeständen und Akten, mit einer gewissen Vorliebe für Rüstungsgeschäfte und Haute Finance. Schließlich wurde die Dokumentenfülle noch erheblich erweitert und eine zweite Auflage erschien 1963.
Die Systemkonkurrenz nach der Niederschlagung des deutschen Faschismus schuf für Hallgarten auf akademischem Felde eigentlich keine gänzlich neue Situation. Nach wie vor war er dem Gros der bürgerlichen Geschichtswissenschaft in Westdeutschland suspekt als vermeintlich verkappter Marxist. Umgekehrt galt er in der DDR als Vertreter des bürgerlichen Lagers.
Grob zusammengefasst: Kritik aus dem westlichen Lager zielte auf die angebliche Überbetonung des Zusammenhangs zwischen Wirtschaftsinteressen und Staatspolitik; die gesamte Ausrichtung war dieser Seite zu materialistisch. Auch aus Bielefeld (Geburtsstätte der »Sozialgeschichte«) kam Kritik: An der Problematik Bismarck und der Imperialismus entzündete sich ein kleiner Zwist zwischen Hans-Ulrich Wehler und Hallgarten (ausgetragen etwa in Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, dessen Herausgeber jedoch die große Schnittmenge beider heraushoben). Zwar bedankte sich Wehler bei Hallgarten, weil dieser bei der Bereitstellung des Kehr-Nachlasses geholfen habe (Wehler gab 1965 dessen Schriften heraus). Der Bielefelder Ordinarius unterließ es jedoch, Hallgarten in einen Imperialismus-Sammelband der Reihe Neue Wissenschaftliche Bibliothek (Bd. 37) aufzunehmen (sogar Lenin und DDR-Historiker waren in dem Band vertreten!), obwohl dieser maßgeblich dazu beigetragen hatte, den Imperialismus-Begriff in Westdeutschland wieder einzuführen. Marxistisch-leninistische Historiker bemängelten hingegen das Gemisch aus psychologisierend-soziologischen Ansätzen, mal mehr zu Weber tendierend, mal zu Marx, und Letzteres natürlich als zu ungenügend. Trotz der Mängel demonstriere Hallgartens Beispiel, urteilte der emsige Weltkriegsforscher Willibald Gutsche 1975 in retrospektiv wirklich zum Schmunzeln anregender Manier, »dass nüchtern urteilende bürgerliche Historiker trotz klassenmäßig bedingter Erkenntnisschranken zu tiefergehenden Einsichten als Wehler fähig sind«.
Eindeutig lässt sich resümieren: Fortschrittliche Wissenschaftler erkannten Hallgartens bedeutende Leistungen für die deutsche Geschichtswissenschaft. Auch dieses Wissen ist heute verschüttet. Fritz Fischer, der mit seinem Buch Griff nach der Weltmacht eine langwährende Debatte sowohl über deutsche Kriegsziele im Ersten Weltkrieg, den Anteil an der Kriegsschuld, als auch die Kontinuität in der jüngeren deutschen Geschichte entfachte, honorierte »Hallgartens frühes bahnbrechendes Werk«. Obgleich schon 1933 fertiggestellt, hielt Joachim Radkau für die nach dem Krieg publizierte Fassung fest: »Aber selbst damals, 1951, eilte es noch seiner Zeit weit voraus, und Hallgarten blieb in der deutschen Geschichtswissenschaft als Außenseiter abgestempelt.«
»Die Skrupellosigkeit vieler Akteure in seinen Werken wird nicht hinter einer ängstlich-philisterhaften Fassade theoretischer Worthülsen versteckt, Geschichte wird fassbar und zugänglich.«
Die sogenannte Fischer-Kontroverse, faktisch ein Demokratisierungsprozess sondergleichen für die westdeutsche Gesellschaft, befeuerte ganze zehn Jahre nach dieser Veröffentlichung erneut Themen, »die schon in der Weimarer Zeit und in der Emigration von Kehr, Hallgarten u.a. erörtert worden« waren, urteilte Georg G. Iggers anerkennend. Man stelle sich vor, Hallgarten hätte nach 1949 einen eigenen Lehrstuhl bezogen.
In der marxistischen Geschichtswissenschaft nahm sich seiner der auf deutsche Geschichte spezialisierte sowjetische Historiker Arkadij Samsonowitsch Jerussalimski an, indem er das Werk 1961 auf Russisch herausgab. Jerussalimskis Einleitung, die wir in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft abgedruckt finden, erscheint zunächst widersprüchlich. Immer wieder tauchen klassische Versatzstücke auf: »Leider versteht Hallgarten nicht…«, die »Inkonsequenz Hallgartens« und so weiter. Doch an anderer Stelle ist er »meisterhaft und bisweilen nicht ohne beißende Ironie und Sarkasmus«, wie »er den Mechanismus des Einwirkens der Monopole, der Finanzcliquen, der Industriemagnaten und Kanonenkönige auf die Politik der Regierungen« enthüllt. Tatsächlich müssen wir Jerussalimski und sein Verdienst im Unausgesprochenen erkennen: Wenn er das dicke »meisterhafte« Werk in russischer Übersetzung herausgibt und allein die Einleitung in der ZfG fast 40 Seiten beträgt, muss ihm der Autor imponiert haben, was wohl so direkt nicht auszusprechen war, er also einen Weg finden musste, den Bourgeois Hallgarten publik zu machen.
Auch Hans Schleier, der ein wichtiges Werk zur bürgerlichen Geschichtsschreibung der Weimarer Republik schrieb, sieht bei aller Kritik in Hallgarten einen »Gegner der imperialistischen Politik mit wachem Sinn für den parasitären, unhumanen [sic] und katastrophenbringenden Charakter der imperialistischen Politik«. Hinzu kämen »großer persönlicher Mut und Risiko des Verzichts auf eine akademische Laufbahn«. Seine Memoiren zählt er »zu den interessantesten kultur- und zeitgeschichtlichen Einblicken, die der Feder eines Historikers entstammen«. Der einstige Chefredakteur der ZfG und bedeutende Weltkriegsforscher Fritz Klein berichtet in seinen Erinnerungen mit Blick auf beider Freundschaft, dass sich Hallgarten und er gelegentlich bei der wissenschaftlichen Arbeit halfen. Als der betagte Historiker 1975 starb, hielt Klein »eine kurze Ansprache zum Gedenken an einen bedeutenden Historiker und guten Freund«. Zuletzt verwies Werner Röhr auf Hallgartens Bedeutung für die Erörterung der Kriegsschuldfrage
Trotz fehlender fester Anstellung lehrte Hallgarten als Gastprofessor weiter, in den USA und beispielsweise auch in Japan oder Mexiko. Er ließ sich auch das Schreiben nicht nehmen und veröffentlichte noch wichtige Schriften wie Hitler, Reichswehr und Industrie (1955), eine Diktatur-Geschichte (1957) und ein Buch über das Wettrüsten (1967). Neben weiteren Artikeln verfasste er seine Memoiren Als die Schatten fielen (1969). Kurz vor seinem Tod erschien schließlich der mit Radkau geschriebene Band zur Deutschen Industrie und Politik von Bismarck bis heute (1974). Zusammen mit dem Fischer-Schüler Imanuel Geiss veröffentlichte Radkau dann auch postum einen Sammelband zu Ehren Hallgartens (Imperialismus im 20. Jahrhundert, Gedenkschrift, 1976). Hingewiesen sei noch auf den interessanten Artikel Hallgartens, »Fremdheitskomplex und Übernationalismus«, 1938 im Exil erschienen in der Zeitschrift für freie deutsche Forschung.
Zur Würdigung der Hallgarten’schen Leistung sei Folgendes vorab angemerkt: In Deutschland hat es zwei Phasen der intensiven Beschäftigung mit der Kriegsschuldfrage von 1914 gegeben. Die erste folgte direkt auf den Weltkrieg und wurde dominiert von einer starken rechtskonservativen Front, die jegliche Schuld auf die externen (Triple Entente) und internen Gegner (sozialdemokratische/pazifistische Kreise, siehe »Dolchstoß«-Legende) lud. Die zweite Phase wurde eingeleitet durch Fritz Fischers Forschungen (Griff nach der Weltmacht, 1961), obgleich Jürgen Kuczynski mit seinem Buch Der Ausbruch des ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie bereits 1957 »eine historiographische Pionierleistung« auch in puncto Kriegsausbruch vorgelegt hatte, in der BRD jedoch unbeachtet und in der DDR – aufgrund seiner unbequemen Analyse der Rolle der Sozialdemokratie 1914 – »scharf angegriffen« blieb. Eine etwaige dritte Phase im Zuge der 100. Wiederkehr des Kriegsausbruchs 2014 bot keine tatsächliche Auseinandersetzung (ähnelt damit der ersten Phase), war im Gegenteil eine gouvernemental wie medial konzertierte Kampagne zugunsten von Autoren wie Christopher Clark und Herfried Münkler, die mithilfe der Mär vom »Hineinschlittern« an den Quellen vorbei Geschichtsrevisionismus betreiben und damit der aktuellen deutschen Weltpolitik die Flanken decken.
In all diesen Abschnitten arbeitete die konservative, rechte Seite mit der Unterschlagung von Dokumenten und Verschleierung von Sachverhalten, in ihren Monografien wie auch bei der Herausgabe von Dokumenten, ob es die Herausgabe der auswärtigen Akten mit dem Titel »Die Große Politik der europäischen Kabinette 1871–1914« war oder jene der Riezler-Tagebücher. Gerade letztere verdeutlichten allerdings: Der Versuch, mit gezinkten Karten zu spielen, scheiterte grandios, Riezler wurde zum Boomerang für die Konservativen.
Da Hallgarten schon vor der faschistischen Ära statt weniger, immer mehr Quellen ausgegraben hatte (Gleiches gilt für Kehr), musste er in puncto Kriegsschuld unschwer zu anderen Schlüssen kommen. An den Dokumenten prüfend sah er »in diesen zehn oder elf Monaten vor dem Weltkrieg« eine bis dahin »verborgene gesellschaftliche Entwicklung«, die zu einem »Umschwung« in der deutschen Politik führte. Auf Basis seiner Quellenanalyse schlussfolgerte er, dass Deutschland weder von Österreich »verführt« worden noch irgendwie »hineingeschlittert« sei. Als einer der ersten machte er bei der Erörterung dieser Frage auf die verheerende Türkeipolitik des deutschen Kaiserreichs aufmerksam und veröffentlichte unter anderem hierzu in der ersten, folgend auszugsweise zitierten Fassung (Vorkriegsimperialismus, 1933/35) auch schon Dokumente.
»Aufgewachsen in Zeiten der Militarisierung und Faschisierung, sind Hallgartens Werke in eben solchen Zeiten trotz ihrer vorhandenen Mängel von größtem Wert und können als Anregung für investigative Forschungen dienen.«
Die »deutsche Militärmission« (im Osmanischen Reich), hielt er unmissverständlich fest, »schützte strategisch die Expansion des deutschen Industrie- und Finanzkapitals, speziell der Bagdadbahn«, »mit dieser Tendenz verband sich […] ein lohnendes Lieferungsgeschäft«, welches derart wichtig geworden war, »dass z.B. die Deutschen im März 1914 ernsthaft erwogen, die ganze Militärmission aus der Türkei zurückzuziehen, wenn Krupp keine Lieferungsaufträge erhalte, was doch offenbar darauf hindeutet, dass diese Lieferungen wichtiger waren, als die Militärmission«, mit der das Deutsche dem Osmanischen Reich, dem »Waffenbruder«, ja angeblich helfen wollte. Gleichzeitig zeigte Hallgarten, dass auch auf französischer und anderer Seite dieselbe Einstellung obwaltete. Die hier dann genüsslich dargelegte Rüstungsspirale, die sich insbesondere um den Hotspot Bosporus/Dardanellen (Konstantinopel) entspann, erhöhte schon in den Monaten vor der Julikrise die internationale Nervosität. Die steigende »Neigung zu einer kriegerischen Lösung, die nun gleichzeitig in Russland wuchs«, wurde – so Hallgarten – »hauptsächlich durch die deutsche Türkenpolitik und die Militärmission gestärkt und ausgelöst«.
Eine Erkenntnis, die erst Fritz Fischer und seine Schüler auf noch breiterer Aktenbasis in Deutschland durchsetzen konnten. Hallgarten schrieb dies vor 1933: »Überzeugt, dass die große Kraftprobe mit Russland doch einmal kommen müsse, und nicht gewillt, sie durch weitere Konzessionen, etwa im Orient, wiederum zu vermeiden, entschloss sich die imperialistische Führung, nicht erst zu warten, bis die einzige und letzte Waffe Deutschlands gegen Russland, der österreichische Kaiserstaat, zerfressen und verrostet, und der russische Säbel fertig geschliffen sei; die Beschlüsse des 5. und 6. Juli 1914 bedeuten den Versuch einer gewaltsamen außenpolitischen Revolution auf der ganzen Linie von Berlin über Wien bis nach Konstantinopel und hinunter nach Bagdad, mochte auch die Welt darüber in Trümmer gehen oder nicht.«
Obwohl er die Julikrise und den Weg zum Kriegsbeginn aufgrund fehlenden Aktenzugangs noch nicht en détail nachzeichnen konnte, beurteilte er den Sommer 1914 grundsätzlich korrekt. Ohnehin entstand für ihn ein Krieg »nicht durch solche taktischen und strategischen Maßnahmen und Kunstgriffe der letzten zwei oder drei Tage«. Er konnte sich »nur dann entwickeln, wenn dahinter soziale Kräfte stehen, die sich kreuzen«. Eben diesen »sozialen Kräften« galt sein Augenmerk.
Was Hallgarten bis heute lesenswert macht, ist nicht nur sein unvergleichlicher Schreibstil, prägnant, zuweilen spitzzüngig und ironisch. Auch seine Souveränität im Umgang mit dem Material ist beeindruckend. Zwei wesentliche Faktoren seiner Werke sind seine gründliche Materialbasis und die hierauf aufbauende Parteilichkeit, welche von einer humanistischen Grundeinstellung bestimmt wird, die mindestens im mütterlichen Zweig eine Wurzel haben dürfte. Spricht er über Ungerechtes, fällt seine Sprache ein Urteil. Er benennt Täter und bleibt doch eloquent. Seine Wissenschaft vom humanistischen Standpunkt aus macht den Lesenden zum Mitstreiter.
Die Skrupellosigkeit vieler Akteure in seinen Werken wird nicht hinter einer ängstlich-philisterhaften Fassade theoretischer Worthülsen versteckt, Geschichte wird fassbar und zugänglich. Schon fast poetisch schreibt er: »Die Bahnlinie Wien-Konstantinopel, später fortgesetzt in der Bagdadbahn, ist der Ring der Nibelungen. Ihre Geschichte ist List, Gewalt, Raub und Betrug, das Ende aber ist Europas Götterdämmerung.«
Hallgarten schrieb Geschichte von unten. Aufgewachsen in Zeiten der Militarisierung und Faschisierung, sind seine Werke in eben solchen Zeiten trotz ihrer vorhandenen Mängel von größtem Wert und können als Anregung für investigative Forschungen dienen. Beschließen wir diese kleine Hommage an einen großen Wissenschaftler mit dem Schlusssatz aus seinem letzten Vorwort zum Imperialismus-Werk. Mit Blick auf die Gefahren des Atomkrieges warnte er hier die Geschichtswissenschaft: »Fährt sie fort – wie es im Westen noch meist geschieht – die Natur der in vorliegendem Werk behandelten Erscheinungen zu ignorieren, und unterlässt sie, das Publikum über die ungeheuren Gefahren aufzuklären, die ihm aus der ungezügelten Herrschaft und gegenseitigen Förderung blind wütender Militär- und Wirtschaftskräfte erwachsen, so macht sie sich zum Mitschuldigen an der Endkatastrophe, der die Menschheit – wenn die Dinge so weitergehen wie bisher – unweigerlich entgegentreibt.«
Mehmet Can Dinçer ist Lehrer und Historiker in Berlin.