01. Juni 2022
Die deutschen Medien kokettieren seit Beginn des Ukraine-Kriegs immer wieder mit geschichtsrevisionistischen Thesen. Damit bestärken sie Putins Geschichtsverdrehungen noch, anstatt sie zu entkräften.
Am diesjährigen Tag der Befreiung war in Berlin das Zeigen der Sowjet-Flagge an Gedenkorten und Mahnmalen verboten.
Die Interpretation der Vergangenheit ist integraler Bestandteil politischer Auseinandersetzungen. Schließlich wird dort um die Legitimation und Rechtmäßigkeit der Gegenwart gerungen. So wird auch der russische Krieg in der Ukraine nicht nur um die Kontrolle von Gebieten geführt, sondern auch um ideologisch-politische Deutungshoheit. Putin selbst bildet die Speerspitze der Geschichtsklitterung und konstruiert die Ukraine als Nation ohne Geschichte. Gleichzeitig inszeniert er den russischen Feldzug als Projekt der »Entnazifizierung« und spielt damit explizit auf den Krieg der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland an.
Solche Narrative sind für die russischen Rechtfertigungsversuche der Invasion und der in der Ukraine verübten Kriegsverbrechen essenziell. Es ist daher unerlässlich, den russischen Geschichtsrevisionismus zu entlarven und aufzuzeigen, dass jeglicher Rekurs auf die antifaschistische Vergangenheit der Sowjetunion von seinem Inhalt entleert ist angesichts eines Regimes, das sich für die Finanzierung und Unterstützung rechter Parteien in ganze Europa verantwortlich zeigt.
Seit Kriegsbeginn setzt sich der deutsche Diskurs in weiten Teilen allerdings nicht mit der russischen Geschichtspropaganda auseinander. Teilweise bieten deutsche Medien sogar reaktionär-revisionistischen Positionen, die mitunter offen faschistische Argumente übernehmen, eine Plattform. Dadurch verstärkt die deutsche Debatte revisionistische Narrative, die Russland bewusst mit der Sowjetunion gleichsetzen und osteuropäische Faschisten und Nazi-Kollaborateure zu rehabilitieren versuchen – beides Faktoren, die Putins Narrativ einer »Entnazifizierung« eher in die Hände spielen, als es zu entkräften.
Exemplarisch hierfür steht ein Artikel, der am russischen Tag der Befreiung, dem 9. Mai, in der taz erschien. Aus Solidarität veröffentlichte diese eine Beilage der russischen Zeitung Nowaja Gaseta, deren Redaktion im März vor drohender Zensur aus dem Land geflohen war. Unter dem Titel »Putin ist der zweite Stalin« stellt die russische Journalistin Julia Latynina eine Reihe von Behauptungen über die Sowjetunion auf, die man eher in einer Publikation der Alten oder Neuen Rechten vermuten würde als in einer linken Tageszeitung: Sowjetische Soldaten seien nur Kanonenfutter gewesen, die Partisanen Meuchelmörder und die Rote Armee ein Instrument des Massenterrors. Latyninas Referenzen sprechen Bände: Eine ihrer Hauptquellen ist der Roman Die 25. Stunde von Constantin Virgil Gheorghiu, einem ehemaligen Mitarbeiter des Außenministeriums des faschistischen Antonescu-Regimes. Ihr Artikel gipfelt in der Feststellung, dass es Stalin zwar gelungen sei, die Welt auf seine Seite im Kampf gegen Hitler zu ziehen – ganz so, als hätte Hitler selbst nichts damit zu tun gehabt –, doch Putin habe das nicht geschafft, da die Welt auf der Seite der Ukraine stehe.
Viele der Punkte, die Latynina in Stellung bringt, sind nicht neu, sondern gängige Positionen rechtsradikaler und revisionistischer Literatur. Allen voran steht hier die von ihr vertretene Präventivkriegsthese, also die Vorstellung, Hitlerdeutschland hätte einen Präventivkrieg gegen die Sowjetunion geführt, der aus Gründen der Verteidigung notwendig geworden sei. An einer solchen These hat sich der sogenannte Historikerstreit entzündet. Der zum damaligen Zeitpunkt respektierte Geschichtswissenschaftler Ernst Nolte postulierte 1986 einen kausalen Zusammenhang zwischen den Verbrechen der Sowjetunion und dem Holocaust. Erstere wären eine »asiatische Tat« gewesen, auf die Hitler habe reagieren müssen, um den »Klassenmord« abzuwenden. Nolte – der auch von einer »Kriegserklärung« des jüdischen Volkes gegen Deutschland sprach – erfuhr prominenten Widerspruch, allen voran von Jürgen Habermas. Dennoch half er dabei, die Präventivkriegsthese tief in den Argumentationsmustern der extremen Rechten zu verankern. Inzwischen bildet diese einen Eckpfeiler neurechter Narrative von Rechtskonservativen über die AfD bis hinein in neo-nazistische Kreise.
Ähnlich verhält es sich mit weiteren Positionen, die Latynina in ihrem Artikel vertritt. Das Bild der Partisanen als Saboteure und Instrumente stalinistischen Terrors gegen die eigene Bevölkerung sowie die tendenziöse Darstellung der Gewalt der Roten Armee in Osteuropa und Deutschland sind direkt der NS-Propaganda und ihren geistigen Nachfolgern entlehnt. Damit ist nicht gesagt, dass diese Themen nicht Teil einer kritischen, geschichtswissenschaftlichen Untersuchung sein können und müssen. Vor allen Dingen osteuropäische Historikerinnen und Historiker haben sich diesen Fragen zugewendet – das ist aber nicht Latyninas Anliegen. Ihr geht es darum, Putins Narrativ des Krieges in der Ukraine zu entkräften, indem sie ihm eine Erzählung entgegensetzt, die faschistischer und nazistischer Apologetik und Propaganda entlehnt ist.
Dies sollte nicht verwundern. Latynina ist – gerade auch bei der taz – als Vertreterin reaktionärer und rechter Positionen bekannt. Dieser Umstand trug eventuell auch dazu bei, dass Stefan Reinecke eine Replik auf Latyninas Artikel veröffentlichte, in der er sich klar gegen die Präventivkriegsthese positioniert. Er betont, dass diese und andere Positionen Latyninas den Wesenskern des deutschen Feldzugs im Osten als Vernichtungskrieg verschleiern. Abschließend plädiert Reinecke jedoch dafür, osteuropäische Stalinismus-Erinnerung und Holocaust-Erinnerung in Dialog zu bringen. Man müsse anerkennen, dass es in Osteuropa andere Erinnerungserzählungen gäbe.
Das mag erst einmal nach einem vernünftigen Vorschlag klingen. Doch Reinecke verkennt den existierenden Kontext osteuropäischer Vergangenheitspolitik und wie diese im deutschen konservativen Diskurs genutzt wird. Schon vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine war eine auf Stalinismus und die Sowjetunion fokussierte Erinnerungspolitik in Osteuropa Teil reaktionärer politischer Projekte. Seit Beginn des Krieges kokettiert vor allem die rechte deutsche Presse mit den inhaltlichen Positionen dieser Projekte und trägt so unter anderem zu einer schleichenden Rehabilitation faschistischer Kollaborateure bei.
Was die Ausrichtung osteuropäischer Erinnerungspolitik angeht, schuf etwa die rechtsgerichtete polnische Regierung 2018 ein eigenes Gesetz, um Holocaust-Forschende wie Jan Grabowski, der über die Beteiligung der polnischen Bevölkerung am Holocaust und anti-jüdische Pogrome nach dem Krieg schrieb, zum Schweigen zu bringen. In Litauen fahren Rechte und staatliche Stellen seit 2006 eine Kampagne gegen ehemalige jüdische Partisanen und Partisaninnen, die das schon von den Nazis verwendete Stereotyp des jüdischen Bolschewisten bedient und in einer staatlichen Anklage gegen vier Partisanen wegen Kriegsverbrechen gipfelte. Gerade jene, die den einzigen bedeutsamen Widerstand gegen die Nazis leisteten und Hauptziel antisemitischer Vernichtungspolitik waren, werden im Zuge einer neueren nationalen Opfererzählung zu »Volksfeinden« erklärt.
In der Ukraine selbst wurde während der Regierungszeit von Wiktor Juschtschenko 2004–2010 an der Rehabilitierung von Stepan Bandera und der ihm treuen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B) gearbeitet. Auch wenn Bandera nach anfänglicher Kollaboration mit den Nazis bis 1944 im KZ Sachsenhausen eingesperrt war, war die OUN eine antisemitische und faschistoide Organisation. Wie der Historiker Per Anders Rudling dargelegt hat, verübte sie Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung der Ukraine. Ferner beteiligte sie sich am Holocaust und an der ethnischen Säuberung gegen polnische und belarussische Menschen in der Ukraine.
Ein ernsthafter Dialog würde bedeuten, einer solchen reaktionären Erinnerungspolitik entgegenzutreten. Nur: Gerade jetzt werden viele dieser Kräfte – Historikerinnen, Journalisten, aber auch NGOs – von rechter und staatlicher Seite als pro-russisch diffamiert, weil sie für eine differenzierte Sichtweise der sowjetischen Vergangenheit plädieren oder nicht davor zurückschrecken, zu thematisieren, dass nationale Kräfte, auf die sich die heutigen Nationen Osteuropas berufen, mit den Nazis kollaborierten. In Reaktion auf Putins Geschichtsklitterung, mit der er die Invasion in die Ukraine zu legitimieren versucht, scheint der deutsche politische Diskurs hingegen reaktionär-revisionistische Narrative aus Osteuropa zu übernehmen. Das bevorzugte Vorgehen hier ist, vergangene Verbrechen zwar zu thematisieren, um so der Idee der ausgewogenen Berichterstattung Folge zu leisten, dann aber genau diese Aspekte durch gezieltes Hervorheben bestimmter Standpunkte und abwiegelnde – und oft historisch fragwürdige – Kontextualisierungen wieder zu relativieren.
Exemplarisch hierfür ist ein Aritkel der FAZ von Gerhard Gnauck über Myroslaw Symtschytsch, der einer der letzten noch lebenden Kommandeure der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), dem bewaffneten Arm der OUN-B, ist. Der Artikel übernimmt umkämpfte bis stark verzerrte Narrative der Vergangenheit ohne kritische Kontextualisierung. Wo er einen Versuch macht, problematische Aspekte zu thematisieren, untergräbt er diese sofort wieder. Gnauck bezeichnet die Kämpfer der UPA, die nach Ende des Krieges 1945 noch mehrere Jahre versuchten, einen Guerillakrieg gegen die Sowjets zu führen, durchgehend als »Partisanen«, was sie begrifflich eindeutig in die Nähe des Widerstandes gegen die deutsche Okkupation rücken soll.
Ebenso beschreibt Gnauck die ukrainischen Aufständischen als »Feindbild [der Sowjets] schlechthin«, was angesichts des Kampfes der UdSSR gegen Deutschland tendenziös wirkt – so als hätte die Sowjetunion primär gegen die eigene Bevölkerung und nicht gegen Hitler gekämpft. Zwar erwähnt er durchaus, dass die UPA an Kriegsverbrechen beteiligt war, tut dies aber in relativierender Weise, indem er orthographisch sein Misstrauen gegenüber historischen Fakten signalisiert: »Den UPA-Partisanen sind im Schatten der deutschen Besatzung verübte ›ethnische Säuberungen‹ gegen polnische und jüdische Bewohner der Region anzulasten.«
Der Artikel fährt fort, zu betonen, wie schlecht es dem ehemaligen Kommandeur Myroslaw Symtschytsch heute geht und wie wenig Rente er erhält, obwohl er doch zu den »härtesten, unbeugsamsten« Kämpfern gegen die »schier allmächtige Sowjetmacht« gehört hätte. Die deutsche Presse hat wahrscheinlich seit der Wehrmachtsausstellung in den 1990er Jahren nicht mehr so wohlwollend über einen Kommandeur einer am Holocaust beteiligten Militärorganisation geschrieben.
Die FAZ ist nicht das einzige Medium, das rechte Geschichtsnarrative unkritisch übernimmt und jegliche kritische Kontextualisierung selbst relativiert. Sven Felix Kellerhoff postuliert in einem Beitrag in der Welt: »Schon einmal kassierte Russland die Ukraine ein«. Damit wird eine ungebrochene Kontinuität zwischen Zarenreich, Sowjetunion und Russland unter Putin konstruiert, da der Titel impliziert, dass Lenin und Trotzki mit dem Bürgerkreig in der Ukraine 1918/19 – für den die Mittelmächte inklusive Deutschland starke Mitverantwortung tragen – versucht hätten, das zaristische Imperium wieder zu errichten.
Die Deutsche Welle thematisiert zwar die Kollaboration von Bandera und der OUN-B und deren Verbrechen. Gleichzeitig fragt der Beitrag, ob Bandera »ukrainischer Held oder Nazi Kollaborateur« sei, anstatt anzuerkennen, dass beides gleichzeitig möglich sein kann. Später im Text wird letzteres zwar halbherzig in Erwägung gezogen, allerdings mit sofortigem Verweis darauf, dass auch in anderen Ländern problematische Figuren verehrt würden.
Im Südkurier zieht Alexander Michel direkte Parallelen zwischen dem Krieg in der Ukraine und dem sowjetisch-finnischen Winterkrieg, den er zu einer finnischen »Heldensaga« erklärt. Gänzlich unerwähnt bleibt, dass spätestens seit den Erkenntnissen des finnischen Historikers Oula Silvennoinen das Narrativ eines »reinen« finnischen Krieges nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Wie seit 2011 bekannt ist, kollaborierte die finnische Staatspolizei eng mit der deutschen Gestapo, half den Sonderkommandos der deutschen Juden, politische Kommissare und Kommunistinnen zu exekutieren und deportierte über 3.000 Menschen nach Deutschland, darunter auch Jüdinnen und Juden.
Rechte Narrative, Geschichtsverdrehungen und historischer Revisionismus können kein wirksames Mittel im Kampf gegen den Geschichtsrevisionismus des Putin-Regimes sein. Es ist nicht möglich, Putins rechte Geschichtsklitterung – eine der ideologischen Grundlagen der Invasion – mit rechtem Geschichtsrevisionismus zu bekämpfen, der auch noch faschistische Bewegungen des Zweiten Weltkriegs in positives Licht rückt. Damit kann nichts gewonnen, aber viel verloren werden.
Johannes Breit ist Historiker in Berlin. Er schreibt seine Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin über rassistische Diskurse und die deutsche Okkupation Jugoslawiens 1941–1944.
Johannes Breit ist Historiker in Berlin. Er schreibt seine Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin über rassistische Diskurse und die deutsche Okkupation Jugoslawiens 1941–19.