12. Mai 2021
Linke Politik sollte sich nicht von Trends und Umfragen leiten lassen. Worüber wir wirklich sprechen sollten, erfahren wir direkt in unseren Bezirken, meint Gesine Lötzsch.
Gesine Lötzsch im Bundestag, 8. Dezember 2020.
Dieser Tage wird über alles, wirklich alles, gesprochen. Ich bin froh, dass mich nicht alle diese Gespräche erreichen. Einige schaffen es in die Medien und werden dann zu regionalen, nationalen oder globalen Gesprächsthemen. Diese Themenauswahl will ich hier nicht bewerten. Ich stelle nur fest, dass in meinem Wahlkreis Berlin-Lichtenberg viele Themen besprochen werden, die entweder gar nicht oder nur selten auf den Titelseiten landen. Das ist keine Kritik. Es wird durch schwarze, gelbe, rote und viele andere Filter auf die Welt geschaut. Ohne Filter würden wir alle verrückt werden. Aber ich will wissen, wer welche Filter verwendet.
In meinem Wahlkreis will ich das Leben ungefiltert erleben. Dieser befindet sich in Lichtenberg im Osten Berlins. Bei uns leben ungefähr so viele Menschen wie in Augsburg. Nach Hohenschönhausen, dem Stadtteil im Norden des Bezirks, ziehen immer mehr Menschen, die die absurden Mieten in der Innenstadt nicht mehr zahlen können. Nach Karlshorst, im Süden – auch Zehlendorf des Ostens genannt – verschlägt es immer mehr Menschen, die sich Eigentumswohnungen oder sogar Stadtvillen leisten können.
Ich habe diesen Bundestags-Wahlkreis fünf Mal hintereinander gewonnen. Lichtenberg war schon immer eine Hochburg der PDS und später der Partei DIE LINKE. Seit den 1990er Jahren hat sich der Bezirk dynamisch entwickelt. Ich lebe gern in Lichtenberg und will hier auch nicht weg. Ich habe eine schöne Wohnung in einem Plattenbau in einer gut geführten Genossenschaft. Hier ist die Miete auch für Menschen mit geringem Einkommen bezahlbar. In meinem Bezirk gibt es einen wunderschönen Tierpark, ein großes Kinder- und Jugendtheater und viele Künstlerinnen und Künstler, die aus allen Ecken und Enden zu uns gezogen sind und mit tollen Ausstellungen auf sich und ihre Kunst aufmerksam machen.
Es gibt in Lichtenberg kein Problem, das es in der Bundesrepublik nicht gibt. Sie sind nur unterschiedlich stark ausgeprägt. Wir haben einen sehr hohen Anteil von Alleinerziehenden und damit auch viele Kinder, die in Armut aufwachsen. Bei uns leben Menschen aus fast allen Nationen – besonders viele aus Vietnam und den ehemaligen Sowjetrepubliken. Wir haben zusammen mit unserem Nachbarbezirk Marzahn/Hellersdorf sehr viele Geflüchtete aufgenommen. Da habe ich viel Solidarität erlebt, aber auch viel Hass.
Wer ein Direktmandat für den Bundestag gewinnen will, der muss auch den Menschen zuhören, die eine ganz andere Meinung haben. Ich versuche sie zu verstehen, rede ihnen aber nicht nach dem Mund.
Jede Woche bekomme ich drei oder vier Umfragen. Diese Umfragen sind für viele Menschen im Politikbetrieb ausschlaggebend für ihre tagtägliche Arbeit. Das ist beunruhigend. Abhängig machen will ich mich von diesen Umfragen nicht. Aber ich nehme sie zur Kenntnis und gleiche sie immer mit meinen Erfahrungen in meinem Bezirk ab.
Eigentlich sollte jede Politikerin und jeder Politiker um ein Direktmandat kämpfen. Ein Genosse aus dem Berliner Abgeordnetenhaus hat diese Strategie verfolgt. Er hatte schon um den Wahlkreis gekämpft als er noch gar kein Abgeordneter war. Dann hat er den Wahlkreis direkt gewonnen. Das geht natürlich nicht überall so. Aber der Ansatz ist richtig. Auf diese Weise eröffnet sich eine politische Weite, die dringend erforderlich ist, um nicht in Nischen zu verharren.
Ich bin Haushaltspolitikerin, aber ich bezeichne mich nicht als Fachabgeordnete. Natürlich braucht jede Fraktion unter den Abgeordneten Expertenwissen. Mein Ziel ist es nicht, alle Details aus dem Finanzministerium zu kennen. Mein Ziel ist es, die Fragen anzusprechen, die deutlich machen, welche politischen Ziele ich verfolge. Ich kontrolliere unter anderem den Finanzplan »Arbeit und Soziales« und den Finanzplan für »Verteidigung«. Es geht also um Sozial- und Friedenspolitik.
Es besteht die Gefahr einer ungesunden Arbeitsteilung im Parlament, die dann zu Fehleinschätzungen führen. Natürlich gibt es in unserer komplexen Welt kaum noch Generalisten. Doch Arbeitsteilung darf nicht zu einer grenzenlosen Verantwortungsübertragung führen.
Als 2011 das Erfurter Programm der Partei DIE LINKE beschlossen wurde, gab es rund 400 Änderungsanträge. Das ist nicht ungewöhnlich, sondern eher die Regel. Ich habe mich als damalige Parteivorsitze gefragt, ob wir auch 400 Ideen haben, wie wir unser Programm umsetzen? Die hatten wir nicht. Wir sind der Überzeugung, dass unsere Programme gut und richtig sind. Aber wir müssen uns die Frage stellen, warum die Umfragewerte so sind, wie sie sind.
Die meisten Menschen sind sehr pragmatisch. Sie wollen wissen, ob das, was wir vorschlagen, auch funktioniert. Wenn sie nicht überzeugt sind, dann werden sie uns nicht wählen. Der Berliner Mietendeckel hatte eine unglaubliche Strahlkraft. Wir haben an einem wichtigen Beispiel gezeigt, dass wir es können. Vor dem Bundesverfassungsgericht sind wir gescheitert, doch klar ist, wenn man ein soziales Mietrecht will, dann ist das politisch auch machbar. Das werden wir im Bundestagswahlkampf deutlich machen.
Wir müssen den Anspruch haben, die herrschende Politik nicht nur kritisch zu begleiten, sondern zu verändern. Das kann man nicht nur in der Regierungsverantwortung erreichen. Auch in der Opposition hat man eine Verantwortung und kann die Gesellschaft verändern.
Worüber sollten wir also eigentlich reden? Vielleicht darüber, wie wir unsere Gesellschaft sozialer und friedlicher gestalten können. Mein Wahlspruch ist immer der gleiche: »Solidarisch geht es besser.«
Gesine Lötzsch sitzt für Berlin-Lichtenberg im Bundestag und ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Partei DIE LINKE.