10. September 2025
Von Jahr zu Jahr verschlimmert sich die Gewalt gegen Frauen, obwohl ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit steigt. Das bringt einen Feminismus, der aufs Ökonomische allein setzt, an seine Grenzen.
»Die Forderung, politische Fragen ohne Emotionalisierung zu behandeln, ist berechtigt. Wenn das in der Konsequenz aber zu einer Nichtbeachtung der Frage der Gewalt führt, dann ist eben genau das ein Ausweis analytischer Schwäche.«
Was ist eigentlich los mit dem Feminismus? Er ist überall und nirgendwo. Die These, dass er in seiner liberalen Version vereinnahmt wurde, muss hier nicht noch einmal rekapituliert werden. Aber es hat sich eine Müdigkeit breitgemacht mit dem Feminismus der 2010er Jahre, der irgendwie verkitscht wurde: Es war ein Feminismus, dessen Forderungen auf Demo-Schildern mit Glitzerstaub dekoriert wurden, dessen Provokation sich auf Männer-lol-Gags belief, der Ungerechtigkeiten moralisierte, anstatt sie zu analysieren. Der Feminismus schien seine Ernsthaftigkeit verloren zu haben.
Die Literaturwissenschaftlerin Lori Merish hat »Niedlichkeit« als die Ästhetisierung von Machtlosigkeit beschrieben. So ist es nicht verwunderlich, dass diese Überzuckerung einigen, die den Feminismus als solchen nicht verloren geben wollten, politisch suspekt wurde. Um den Feminismus gegen den Vorwurf der politischen Banalität zu verteidigen und überzeugend hervorzukehren, dass es sich bei der Emanzipation aller Frauen um eine nach wie vor ernstzunehmende Angelegenheit handelt, gingen viele marxistisch orientierte Feministinnen dazu über, genau das in den Vordergrund zu stellen: den nüchternen Ernst der Sache. Statt Gefühlskitsch also eine rigorose, materialistische Gesellschaftsanalyse, statt schwer quantifizierbaren Konzepten wie »Misogynie« empirisch belegbare sozialökonomische Fakten: Ungleichheit, unbezahlte Arbeit, Altersarmut. Der Fokus galt »gesellschaftlichen Strukturen«, nicht »toxischen Männern«.
Ich habe das für die längste Zeit auch so gehandhabt. Die Unterdrückung von Frauen ist eine gesellschaftliche Realität und keine Trivialität – also immer schön sachlich bleiben. Wenn man heute einen ehrlichen Blick auf unsere Gesellschaft richtet und sich fragt, was aus feministischer Perspektive eigentlich die dringendsten Anliegen sind, wird die Sache allerdings komplizierter. Denn es drängt sich ein Thema in den Vordergrund, das man mit der kühlen, ökonomischen Empirie allein nicht zu fassen bekommt: die Frage der Gewalt.
Dass Gewalt gegen Frauen überhaupt als eine Angelegenheit gesellschaftlichen Interesses wahrgenommen wird und nicht als »Privatproblem«, ist eine vergleichsweise junge Entwicklung. Das erste Frauenhaus wurde in Westdeutschland 1976 eröffnet, im Fahrwasser der zweiten Welle der Frauenbewegung. Bis ins Jahr 1997 war eine Vergewaltigung in Deutschland kein strafbarer Tatbestand, solange Täter und Opfer verheiratet waren. Wie groß das Ausmaß häuslicher Gewalt in Deutschland ist, wissen wir überhaupt erst seit 2015, weil es zuvor keinerlei systematische Auswertungen gab.
Im vergangenen Jahr hat das Bundeskriminalamt (BKA) erstmals einen Lagebericht über Straftaten erstellt, die sich gegen Frauen richten. Das umfasst Sexualstraftaten, häusliche Gewalt, Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, Femizide und politisch motivierte Hasskriminalität gegen Frauen. Die Zahlen sind verstörend hoch – und steigen sogar. Um sie einmal plastisch zu machen: Im Jahr der Erhebung tötete in Deutschland alle zwei Tage ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin. Alle drei Minuten wurde eine Frau oder ein Mädchen Opfer häuslicher Gewalt.
Das BKA geht davon aus, dass das nur einen Bruchteil der tatsächlichen Fälle abbildet, da die Opfer den Täter in der Regel kennen und oftmals wiederholt Gewalt erfahren. Viele fürchten eine noch gewaltsamere Vergeltung – entsprechend hoch ist die Hürde, die Tat zu melden. Wer Schutz in einem Frauenhaus sucht, muss ihn meist selbst bezahlen, weil es keine einheitliche Finanzierung solcher Anlaufstellen gibt. Dabei ist längst belegt, dass dies das Risiko erhöht, dass Frauen in eine Wohnung zurückkehren, in der sie Gewalt ausgesetzt sind. Immer wieder werden Frauen abgewiesen, weil die Kapazitäten der Schutzräume erschöpft sind. Obwohl der Bedarf steigt, ist der Anteil von Frauenhäusern leicht rückläufig.
Gewalt gegen Frauen in Beziehungen ist derart weit verbreitet, dass statistisch gesehen jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner erlebt. Wer glaubt, geschlechtsspezifische Gewalt sei ein Randphänomen, weil man selbst im eigenen Umfeld keine solchen Fälle kennt, wird sich mit der unbequemen Wahrheit arrangieren müssen, dass es statistisch gesehen weitaus wahrscheinlicher ist, dass es diese Fälle durchaus gibt, aber die Betroffenen darüber nicht sprechen.
Wie nähert man sich diesem Problem, wenn man es nicht nur skandalisieren, sondern auch realistisch beheben will? Die klassische sozialistische Antwort würde lauten: Wir leben in einer Gesellschaft, die Frauen ökonomischen Zwängen aussetzt, die sie in die Abhängigkeit von Männern treiben. Daher braucht es vor allem mehr ökonomische Gleichstellung, um Frauen aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Durch diese Linse betrachtet muss es uns also primär um den Kampf gegen Armut, gegen die Lohnlücke, den Ausbau von Schutzräumen und mehr bezahlbaren Wohnraum gehen. Das ist als politische Zielsetzung erstmal richtig und unbedingt notwendig.
»Wer glaubt, geschlechtsspezifische Gewalt sei ein Randphänomen, weil man selbst im eigenen Umfeld keine solchen Fälle kennt, wird sich mit der unbequemen Wahrheit arrangieren müssen, dass es statistisch gesehen weitaus wahrscheinlicher ist, dass es diese Fälle durchaus gibt, aber die Betroffenen darüber nicht sprechen.«
Gleichzeitig rennt man mit dem Kopf gegen die Wand, weil sich so allein noch nicht erklärt, warum sich das Problem gerade jetzt verschärft. Denn bei aller berechtigten Kritik an der Trägheit des gesellschaftlichen Fortschritts muss man anerkennen, dass sich in den letzten Dekaden durchaus etwas verschoben hat: Die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen wird schmaler, wenn auch zu langsam, die Erwerbsquote unter Frauen ist insgesamt angestiegen, was ihre ökonomische Unabhängigkeit stärkt, und auch die gesamtgesellschaftliche Zustimmung zur Gleichberechtigung der Geschlechter ist gestiegen. Doch es ist nicht so, dass im Fahrtwind dieses Fortschritts die Gewalt gegen Frauen gesunken wäre. Vielmehr scheint es eine Gleichzeitigkeit gegenläufiger Entwicklungen zu geben: Parallel dazu, dass sich Frauen unabhängiger machen, verschärft sich die Gewalt gegen sie.
Nun könnte man einwenden, dass diese Aussage auf einem Trugschluss basiert. Man könnte argumentieren, dass der statistische Anstieg nicht zwangsläufig auch auf einen Anstieg der Gewalt hinweisen muss, sondern auch schlichtweg das Ergebnis eines veränderten Meldeverhaltens sein könnte. In einer gleichberechtigteren Gesellschaft gibt es schließlich ein wachsendes Problembewusstsein, was dann wiederum dazu führen kann, dass Gewaltfälle in der Statistik sichtbar werden, die vorher im Meer der Dunkelziffern verborgen geblieben wären. Das ist plausibel und lässt sich weder belegen noch widerlegen.
Du hast ein Abo, aber hast dich noch nicht registriert oder dein Passwort vergessen?
Klicke hier!
Astrid Zimmermann ist Managing Editor bei JACOBIN.