12. Februar 2021
Damit die arbeitende Klasse das Kapital herausfordern kann, muss sie organisiert sein – und dafür sind Gewerkschaften unentbehrlich. Doch um den Kapitalismus zu überwinden, reicht das nicht.
Der spontane, wilde Streik bei Felten & Guilleaume am 29.5.1973 in Köln.
Gewerkschaften nehmen seit Langem eine widersprüchliche Stellung in der marxistischen Theorie ein. Als Ausdrucksmittel der arbeitenden Klasse sind sie unerlässlich, damit man als handlungsfähiges Kollektiv auftreten kann. Und sie sind zudem ein essenzielles Instrument im Arbeitskampf. Wenn wir über die »arbeitende Klasse« oder eine »Aktion der Arbeiterklasse« sprechen, betrachten wir üblicherweise entweder Aktionen von Arbeitenden, die bereits in Gewerkschaften organisiert sind oder genau das erkämpfen wollen. Gleichzeitig offenbaren sich Gewerkschaften als mangelhaftes und unzureichendes Vehikel für die arbeitende Klasse, um eine der zentralen Ziele der marxistischen Theorie zu erringen: den Umsturz des Kapitalismus. Als Organisationen, die hauptsächlich mit Arbeitgebern über Löhne, Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen verhandeln, existieren Gewerkschaften nur in Relation zu den Kapitalisten. Dadurch entwickelten sie sich fast zwangsläufig zu reformerischen Institutionen, die Arbeitsverhältnisse entschärfen und verwalten, aber nicht transformieren.
Viele Gewerkschaften haben sich an diese konservative, administrative Funktion angepasst. Andere wurden zu entscheidenden Akteuren in der Konfrontation mit der Macht des Kapitals. Manche haben kurzzeitig eine aufrührerische Rolle eingenommen, nur um im nächsten Moment wieder verwaltend zu agieren. Wenn Gewerkschaften in der Vergangenheit Aufstände an Arbeitsplätzen organisierten, entwickelte sich daraus nicht selten politischer Druck, der die Demokratie voranbrachte und zu Reformen führte. In den wenigen historischen Momenten, die wir als revolutionär bezeichnen können, waren Organisationen der Arbeitenden stets von entscheidender Bedeutung, ob sie nun Gewerkschaften hießen oder anders.
Verbände und Bewegungen der arbeitenden Klasse stehen konsequenterweise seit jeher im Zentrum der marxistischen Debatte. Die Streitfragen drehen sich dabei um die Rolle der Gewerkschaften in der Klassenbildung und dem Aufbau einer revolutionären Vertretung der Arbeiterinnen und Arbeiter.
Die Debatte entspinnt sich entlang von vier Schlüsselfragen. Erstens, in welchem Maße spiegeln Gewerkschaften vorhandene Produktionsverhältnisse nur wider oder gestalten diese Verhältnisse aktiv mit? Zweitens, wenn Gewerkschaften den Klassenkampf aktiv prägen, warum und unter welchen Bedingungen verschärfen oder verhindern sie ihn? Drittens, inwieweit werden Klassenidentitäten von Gewerkschaften geprägt und wie sehr wirkt sich dies auf ihren Handlungsspielraum aus? Viertens, in welchem Verhältnis stehen Gewerkschaften und Politik zueinander?
Die letzte Frage besteht aus zwei Teilfragen: In welchem Umfang fördern oder verhindern Gewerkschaften, dass sich Kämpfe am Arbeitsplatz zu politischen Auseinandersetzungen entwickeln, die darüber hinausreichen? Und wie sollten sich Gewerkschaften gegenüber politischen Parteien – den konventionelleren Plattformen für die Durchsetzung politischer Forderungen – verhalten?
Was folgt, ist ein Kapitel aus The Oxford Handbook of Karl Marx. Darin wird anhand der vier oben erwähnten Fragen eine Analyse der marxistischen Debatte um Gewerkschaften unternommen. Im historischen Verlauf wird zuerst betrachtet, wie Marx und Engels anfangs die Zuständigkeiten und Beschränkungen von Gewerkschaften einschätzten. Danach wird skizziert, wie andere Stimmen des späteren Marxismus diese Diskussionen im zeitlichen Wandel der Klassenverhältnisse und Politik fortführten. Das Kapitel zeichnet zwar auch die Geschichte der Arbeitervertretungen und -bewegungen nach, vor allem zeigt es aber, wie marxistische Theoretiker über diese Strömungen dachten.
Marx und Engels schrieben ausführlich über die Gewerkschaften ihrer Zeit, jedoch nicht in systematischer Weise. Die Mehrzahl ihrer Ausführungen bezogen sich auf zeitgenössische Arbeitskämpfe. Schon in ihren frühesten Werken begriffen sie die Notwendigkeit und auch die Begrenztheit von Gewerkschaften, wenn es um die Erschaffung einer Vertretung der arbeitenden Klasse ging, über die sich der Klassenkampf gegen die Bourgeoisie vorantreiben ließ. Dieser Gedanke führte über frühere Varianten des Sozialismus hinaus, in denen man oft von idealisierten Vorstellungen des Wiederaufbaus einer zusehends zersetzten Gemeinschaft von Handwerkern ausging, wobei die Organisation und der Kampf der Klassen nicht im Vordergrund standen.
In Die Lage der arbeitenden Klasse in England schrieb Engels über aufstrebende Formen des Gewerkschaftswesens und beobachtete, dass es in den zeitgenössischen Kämpfen der Arbeitenden zwar vorrangig um materielle Fragen wie Gehälter ging, dabei aber auf tieferliegende soziale und politische Konflikte verwiesen wurde:
»Was aber diesen Assoziationen und den aus ihnen hervorgehenden Turnouts die eigentliche Wichtigkeit gibt, ist das, daß sie der erste Versuch der Arbeiter sind, die Konkurrenz aufzuheben. Sie setzen die Einsicht voraus, daß die Herrschaft der Bourgeoisie nur auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich beruht, d.h. auf der Zersplitterung des Proletariats, aus der Entgegensetzung der einzelnen Arbeiter gegeneinander. Und gerade weil sie sich, wenn auch nur einseitig, nur auf beschränkte Weise gegen die Konkurrenz, gegen den Lebensnerv der jetzigen sozialen Ordnung richten, gerade deshalb sind sie dieser sozialen Ordnung so gefährlich.«
Im selben Zug wies Engels darauf hin, dass der Kampf der Gewerkschaften zwar »die Opposition der Arbeiter gegen die … Allmacht der besitzenden Klasse [lebendig hält]«, solche Zusammenschlüsse »allerdings auch das Geständnis [abzwingen], daß etwas mehr als Arbeiterverbindungen und Turnouts nötig ist, um die Herrschaft der Bourgeoisie zu brechen.«
Damit hatte Engels das grundsätzliche Problem benannt. Erstens sind Gewerkschaften durchaus unerlässlich, damit sich die arbeitende Klasse formieren und als handlungsfähiges Kollektiv auftreten kann, um sich der Bourgeoisie entgegenzustemmen und deren Machtstellung zu bekämpfen. Zweitens jedoch reichen sie als Mittel nicht aus, um dieses Kollektiv aufzubauen und zu mobilisieren. Marx und Engels verstanden, wie wichtig die Gewerkschaften für die Formierung der arbeitenden Klasse waren: Im Kapitalismus, dem System der »freien Arbeit«, in dem die einzelnen Beschäftigten ihre Arbeitskraft für einen Lohn an Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber verkaufen, würden die Arbeitenden in einen Wettbewerb gegeneinander gesetzt und ihre Beziehungen untereinander zersplittern. Wie im Kommunistischen Manifest beschrieben, habe die Bourgeoisie »kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹«, die Arbeitenden blieben »allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.«
Du hast ein Abo, aber hast dich noch nicht registriert oder dein Passwort vergessen?
Klicke hier!
Barry Eidlin ist Assistenzprofessor für Soziologie an der McGill University und vormals leitender Gewerkschaftsvertreter der UAW im Ortsverband 2865.