30. August 2022
Die rechtsextreme Partei Fratelli d’Italia hat gute Chancen, die italienischen Wahlen zu gewinnen. Ihr Aufstieg ist auch ein Symptom des Versagens der linken Mitte, die keinen Plan für die stagnierende Wirtschaft des Landes hat.
Giorgia Meloni von den rechtsextremen Fratelli d'Italia bei einer Wahlkampfveranstaltung in Monza, 30. Mai 2022.
IMAGO / NurPhotoWochen vor den italienischen Parlamentswahlen am 25. September erreicht die Koalition, die die italienischen Medien als »Mitte-Rechts« bezeichnen, Umfragewerte von nahezu 50 Prozent – damit ist ihr eine starke Mehrheit im Parlament so gut wie sicher. Noch düsterer werden die Aussichten, sobald man realisiert, dass die Betitelung »Mitte-Rechts« bloße Schönfärberei ist. Sowohl die führende Partei des Bündnisses, Giorgia Melonis postfaschistische Fratelli d’Italia (die derzeit in Umfragen bei etwa 24 Prozent liegt), wie auch die zweite Kraft im Bunde, Matteo Salvinis Lega (etwa 14 Prozent), verbinden Forderungen nach umfassenden Steuersenkungen mit hasserfüllter Propaganda gegen Migrantinnen und Migranten, die LGBTQ-»Lobby«, »Pläne für einen ethnischen Austausch« und ähnlichem.
Dennoch ist nicht garantiert, dass die Fratelli d’Italia stärkste Partei werden wird. In den Umfragen liegt sie Kopf an Kopf mit den Mitte-Links-Demokraten. Da letztere jedoch keine gewichtigen Koalitionspartner haben, werden sie ihre Stimmen nicht so leicht in Parlamentssitze umwandeln können. Die Demokraten wollen im Wesentlichen die Politik von Mario Draghis parteiübergreifender Regierung, die im vergangenen Februar gebildet wurde, um die europäischen Konjunkturmittel zu verteilen, weiterführen. An Draghis Regierungsmehrheit waren ursprünglich auch Silvio Berlusconis Forza Italia, die Lega und die Fünf-Sterne-Bewegung beteiligt, die im vergangenen Juli jedoch allesamt ihre Unterstützung entzogen. Seither sind die Demokraten auf sich allein gestellt.
Das hat wiederum ein Trugbild heraufbeschworen, das für die italienische Politik typisch ist: Rechte Demagogen behaupten, sie würden eine immer hegemonialer werdende Linke besiegen, dabei gibt es in Italien so gut wie keine nennenswerte Linke. Draghis Kabinett reiht sich ein in eine ganze Serie von großen Koalitionen und »Expertenkabinetten« der letzten Jahrzehnte, die unter anderem von den Demokraten unterstützt wurden – den entschlossenen Garanten institutioneller Stabilität. Die gesamte italienische Politik ist ein im Verfall begriffenes neoliberales Substrat und so wird auch der Wahlkampf 2022 wieder zwischen einer neoliberal-technokratischen linken Mitte und rechtsextremen Außenseitern ausgefochten, die ihrerseits behaupten, sie würden »einem Jahrzehnt linker Regierungen« ein Ende bereiten.
Inmitten der anhaltenden politischen Turbulenzen hat es sich für die Fratelli d’Italia sicherlich als nützlich erwiesen, nicht Teil von Draghis Regierung zu sein. Unter rechten Wählerinnen und Wählerin befindet sich die Partei im Aufwind. Im Jahr 2018 erzielte sie gerade einmal 4 Prozent und etwa die Hälfte der Stimmen, die sie heute hinter sich versammelt, stammen von ehemaligen Wählerinnen und Wählern der Lega, die während Matteo Salvinis Amtszeit als Innenminister 2018/2019 einen rasanten Aufstieg erlebte. Doch der Pakt zwischen den anderen großen Parteien, die sich seit Februar 2021 in Draghis Regierung zusammenschlossen, eröffnete Meloni die Möglichkeit, die Rolle der oppositionellen Kritikerin zu vereinnahmen. Dabei betonte sie den »konstruktiven« Ansatz dieser Allianz und richtete ihre Rhetorik lediglichen gegen die »herrschende Linke«, nicht aber gegen Draghi. Die Fratelli d’Italia beschwören routinemäßig ihre Loyalität zur Europäischen Union, der NATO und ihre Unterstützung für die Waffenlieferungen an die Ukraine, um sich als glaubwürdige »Transatlantiker« zu profilieren.
Im Mitte-Rechts-Lager waren viele über das Ende von Draghis Regierung unglücklich. In den ersten Regierungstagen waren die Demokraten von Akteuren wie Renato Brunetta, einem langjährigen Verbündeten Silvio Berlusconis, so angetan, dass dieser daraufhin seine Partei Forza Italia verließ. Eine gewisse Mentalität der linken Mitte – wie sie etwa auch unter den US-Demokraten vorherrscht, die immer auf der Suche nach gemäßigten »Never-Trump«-Republikanern sind – sieht es vor, verantwortungsbewusste Rechte als Gesprächspartner zu finden. Als solche dienen dann selbst Figuren (allen voran Berlusconi), die zuvor als das »Übel« erachtet wurden, das durch die Wahl eines »geringeren Übels« verhindert werden sollte. Das Problem ist nur, dass diese Übel im Laufe der Zeit immer schlimmer werden.
Viele italienische Medien wollen Versuche, Meloni zu »dämonisieren«, nicht dulden. »Kann es nicht einmal zwei Monate geben, in denen wir nicht über die Geschichte sprechen?«, fragte etwa der Journalist Paolo Mieli zu Beginn des Wahlkampfs. Auch wenn Mielis Kommentar anderes vermuten lässt, hatte niemand tatsächlich behauptet, dass die Fratelli d’Italia anlässlich des hundertsten Jahrestags der Machtübernahme Benito Mussolinis plant, einen »Marsch auf Rom« abzuhalten. Vielmehr hatte der Parteivorsitzende der Demokraten, Enrico Letta, in den letzten Jahren sogar geradezu freundschaftliche Beziehungen zu Meloni unterhalten. Und dennoch ist es ungewöhnlich, dass eine Anwärterin auf das Amt der Premierministerin betonen muss, dass die »Nostalgiker« ihrer Partei – ein Euphemismus für Funktionäre der Fratelli d’Italia, die Symbole der Republik von Salò verwenden, die mit den Nazis kollaborierte – »Verräter an der Sache« seien.
Mieli ist ein ehemaliger Schüler des berühmten Mussolini-Biographen Renzo de Felice und hat selbst mehrere Bücher über das Italien des 20. Jahrhunderts verfasst. Sein Aufruf, die Geister der Vergangenheit ruhen zu lassen, wurde dennoch von weiten Teilen der italienischen Medien aufgegriffen, die ihrerseits oft eine bemerkenswerte Amnesie gegenüber der jüngeren Geschichte an den Tag legen. Enthüllungen über den Rassismus ihrer Funktionärinnen und Funktionäre, ihr Lob des Faschismus und ihre Verbindungen zu militanteren Gruppen werden von der Fratelli d’Italia – eine Nachfolgepartei der 1946 gegründeten neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) – routinemäßig zurückgewiesen und als »Schmierkampagnen« deklariert. Unterstützt werden diese Beteuerungen von einem Chor von Journalistinnen und Journalisten rechter Tageszeitungen, die darauf beharren, dass »der Faschismus nicht zurückkehrt« – und wörtlich genommen tut er das natürlich auch nicht – und dass diese Themen der Vergangenheit angehören.
Es scheint, als würden einige Kandidatinnen und Kandidaten von ihrer Vergangenheit eingeholt werden, allerdings gehören diese nicht zum postfaschistischen Flügel der italienischen Politik. Raffaele La Regina, ein Kandidat der Demokraten im süditalienischen Basilikata, zog kürzlich seine Parlamentskandidatur zurück, nachdem bekannt geworden war, dass er im Jahr 2020 das Existenzrecht Israels in Frage gestellt hatte. Führende Tageszeitungen wie Il Corriere und La Repubblica haben originellerweise darauf hingewiesen, dass vergangene Social-Media-Posts von Politikern wohl zu Wahlkampzwecken instrumentalisiert werden. Das funktioniert allerdings nur, wenn es überhaupt möglich ist, jemanden an den Pranger zu stellen. Giorgia Meloni hat in der Vergangenheit wiederholt behauptet, dass der »Wucherer« George Soros, ein ungarischer Jude, »einen Plan zum ethnischen Austausch der Europäer finanziert«. Ihr Wahlkampf ist von diesen Äußerungen jedoch bislang noch nicht beeinträchtigt worden.
Die tatsächliche Bedrohung, die von der Fratelli d’Italia ausgeht, wenn sie einen Teil der Regierung bilden sollte, besteht weniger in einer »Rückkehr zum Faschismus« als in einer Aushöhlung von Normen und einer Verunglimpfung von Kritikern und Minderheiten – eine Form der Politik, wie sie für Länder wie Polen und Ungarn typisch geworden ist. Die polnische Rechte ist das Vorbild für Melonis Partei, die seit der russischen Invasion in die Ukraine im Establishment der EU wieder an Legitimität zu gewinnen scheint. Meloni hat in der Vergangenheit zwar ihre Sympathie für Wladimir Putin kundgetan, ihr Kommitment zu »atlantizistischen« Positionen ist aber stärker als das der Lega – auch wenn die Fratelli d’Italia der Conservative Political Action Conference (CPAC) und Trumps Flügel der Republikaner näher steht als der amtierenden Regierung in Washington.
Meloni wird zwar keinen Bruch mit dem Euro oder der Europäischen Union anstreben, aber eine von ihr geführte Regierung könnte auf anderem Weg nachhaltigen Schaden anrichten. Zum einen ist da die Forderung nach einer Seeblockade gegen Geflüchtetenboote. Diese reißerische Forderung ist nicht nur illegal, sondern würde auch Tausende Menschen das Leben kosten. Zum anderen will Meloni vage und pauschale Regelungen in die italienische Verfassung aufnehmen, die es ermöglichen würden, rigoros gegen linke Oppositionelle vorzugehen, etwa durch die Kriminalisierung einer »Apologie für den Kommunismus« oder den »islamischen Totalitarismus«. Hinter dieser Umkehrung des derzeitigen (selten durchgesetzten) antifaschistischen »Vorurteils« der italienischen Verfassung verbirgt sich der Plan, Italien in eine präsidentielle Republik zu verwandeln und das derzeitige parlamentarische System durch eine Exekutive zu ersetzen, in der sich die Macht in wenigen Händen bündelt.
Aufgrund ihrer starken Umfragewerte hielt sich Meloni bislang im Wahlkampf eher zurück und konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Reaktion auf linke Anschuldigungen, die sie mit dem Faschismus in Verbindung bringen. Besonders bezeichnend für den Grad der Ernsthaftigkeit, mit der diese Fragen in Italien diskutiert werden, ist ein Video, das sie internationalen Medien zur Verfügung gestellt hat – eine Erklärung, die sie vor der Kamera filmte, ohne Gegenfragen von Reporterinnen. Darin insistiert sie, dass der Faschismus bereits »der Geschichte übergeben« worden sei und verurteilt die »antijüdischen Gesetze von 1938« und die »Diktatur«. Mit dieser Wortwahl, die gegenüber der Vergangenheit weniger kritisch ist als die des führenden MSI-Funktionärs Gianfranco Fini in den 1990er und 2000er Jahren, will sie es offensichtlich vermeiden, die (neo-)faschistische Tradition per se zu verurteilen. Sie behauptet vielmehr, dass die Linke über die Vergangenheit sprechen wolle, da sie nichts über Regierungsprogramme zu sagen habe.
Tatsache ist, dass es auf beiden Seiten an echten Vorschlägen für die kommenden fünf Jahre fehlt. Die Suche der Demokraten nach dem weitgehend mythischen Wähler der Mitte (und der Haufen kleiner neoliberaler Parteien, die von sich behaupten, diesen »dritten Pol« zu repräsentieren) ist dafür ebenfalls symptomatisch. Während die Fratelli d’Italia die rechte Wählerschaft unter einer neuen Führung zusammenführt, scheint die linke Mitte gelähmt und zu wenig mehr in der Lage zu sein als der Verteidigung eines Wirtschaftsmodells, das die italienische Wirtschaft seit Ende der 1990er Jahre stagnieren ließ und lediglich einige der Auswirkungen durch temporäre Subventionen und Hilfsmaßnahmen abmilderte. Dabei geht es nicht nur um die Mitgliedschaft in der Eurozone an sich, die von keiner größeren politischen Kraft in Frage gestellt wird. Doch es steht damit insofern im Zusammenhang, als dass Regierungen in einem Teufelskreis aus geringen Investitionen, schmalen Produktivitätssteigerungen, erdrückender Staatsverschuldung und strukturell niedrigen Beschäftigungsniveaus gefangen sind.
Nun ist es nicht so, als wäre Meloni wirklich daran interessiert, über die Wirtschaft zu sprechen. Die Vorschläge von »Mitte-Rechts« signalisieren einen generellen Abbau von Steuern und Bürokratie, gleichzeitig sollen Unternehmen, die von Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürgern geführt werden, stärker belastet werden, da diese allein für Italiens enorme Steuerhinterziehung verantwortlich gemacht werden. Der Vorschlag der Fratelli d’Italia zur Steigerung der Beschäftigung – Steuersenkungen für (italienische) Unternehmen, die zusätzliche Arbeitskräfte einstellen – ist nichts als ein Pflaster für strukturelle wirtschaftliche Schwächen. Das Arbeitslosengeld, das gestrichen werden soll, wird es sicherlich nicht ersetzen können. Ein weiterer Vorschlag, der innerhalb der rechten Koalition von der Lega vorgebracht wurde, sieht einen pauschalen Steuersatz von 15 Prozent vor – das würde in den öffentlichen Kassen voraussichtlich ein Defizit von 80 Milliarden Euro verursachen. Dieser Vorstoß ist so abwegig, dass man sich durchaus fragt, warum die Partei nicht gleich einen Satz von 10 oder 5 Prozent vorschlägt. Die Tatsache, dass der Finanzminister aus der Berlusconi-Ära, Giulio Tremonti, auf der Liste der Fratelli d’Italia kandidiert, ist ein eindeutiges Signal dafür, dass man wirtschaftspolitisch keine allzu drastischen Maßnahmen ergreifen will.
Einige Kräfte, die mehr oder weniger links von den Demokraten stehen, versuchen, die Sozialpolitik in den Wahlkampf einzubringen. Dazu gehört unter anderem Giuseppe Contes Fünf-Sterne-Bewegung. Nachdem diese in der letzten Legislaturperiode als schwacher Koalitionspartner von Salvinis Lega gestartet hatte, machte sie die Verteidigung des 2019 eingeführten Arbeitslosengeldes (das fälschlicherweise als »Bürgereinkommen« bezeichnet wird) zu ihrem wichtigsten Anliegen. Die Lega wird voraussichtlich etwa 10 Prozent der Stimmen erhalten, was im Vergleich zu den 32 Prozent, die sie noch 2018 erzielte, einen deutlichen Rückgang bedeutet. Dieser Stimmenverlust ist sowohl ein Abbild des mäandernden politischen Kurses der Partei als auch des Abgangs des ehemaligen Vorsitzenden Luigi di Maio. Neben links-grünen Kräften (darunter ist besonders die Kandidatur des Gewerkschafters und Organizers Aboubakar Soumahoro zu erwähnen), die mit den Demokraten verbündet sind, gibt es eine unabhängige Linke in Form der Unione Popolare, die von Neapels ehemaligem Bürgermeister Luigi de Magistris angeführt wird. Das Bündnis, das erst kurz vor den Wahlen gegründet wurde, die ursprünglich für das nächste Frühjahr erwartet wurden, wird es aber vermutlich nicht ins Parlament schaffen.
Beobachtet man die italienische Politik, drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die wirklichen Alternativen abseits der extremen rhetorischen Polarisierung und der immer wiederkehrenden historischen Symbolik weniger dramatisch sind. Tatsächlich lässt sich die wirtschaftliche Misslage Italiens nicht auf einen einzelnen Krisenmoment reduzieren, sie ist vielmehr chronisch. Die Parteien haben seit über drei Jahrzehnten ihre Bindekraft an ihre Wählerinnen und Wähler eingebüßt. Wir stehen also nicht vor einer dramatischen Wende. Doch mit dem potenziellen Durchbruch einer Partei, deren führende Vertreter offen rassistische und nationalistische Verschwörungstheorien propagieren und faschistische Kriegsverbrecher verteidigen, birgt die gegenwärtige Situation neue Gefahren in sich. Kürzlich teilte Meloni ein Video, auf dem mutmaßlich zu sehen ist, wie eine Frau von einem Migranten vergewaltigt wird, und ließ damit wenig Zweifel daran, welche Art von Politikerin sie wirklich ist. Die Hoffnung, dass wir sie nicht an der Macht erleben müssen, scheint gering.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).