03. Juli 2024
Die italienische Verfassung wurde in der Nachkriegszeit von antifaschistischen Parteien geschrieben, um eine Machtkonzentration, wie sie für den Faschismus typisch war, zu verhindern. Genau diese Verfassung wird jetzt von Melonis postfaschistischer Partei angegriffen.
Durch die Verfassungsreform verschafft sich Meloni selbst mehr Macht.
IMAGO / Christian SpickerMit dem wichtigsten Reformvorschlag der rechtsradikalen Regierungschefin (dem sogenannten Premierato) sollen dem Amt der italienischen Ministerpräsidentin mehr Befugnisse übertragen werden. Wenn er angenommen wird, würden der oder die Premierministerin künftig direkt gewählt, wohingegen andere demokratische Institutionen wie das Parlament geschwächt würden. Kritiker sprechen von einem »Rachefeldzug« gegen die antifaschistische Verfassung, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurde und die eine ebensolche Machtkonzentration verhindern soll.
»Meloni tritt in die Fußstapfen des verstorbenen Silvio Berlusconi, der die Lega 1994 erstmals in eine Regierungskoalition aufgenommen hatte.«
Es wäre nicht die einzige Änderung in den Spielregeln der italienischen Politik: Hinzu kommt die Kontroverse über ein am 19. Juni verabschiedetes Gesetz namens DDL Autonomia. Dieses räumt den Regionalregierungen eine bisher nie dagewesene Unabhängigkeit ein – auf Kosten der nationalen Einheit und des Grundsatzes, allen Bürgerinnen und Bürgern im Land gleiche Dienste und Leistungen zu bieten. Im Gesetz selbst ist die Rede von einer »differenzierten Autonomie«. Dabei geht es darum, jeder Region Italiens die Möglichkeit zu geben, sich in ihrem jeweiligen Tempo zu entwickeln. Dadurch dürfte das Gesetz die reicheren nördlichen Regionen wie die Lombardei und Venetien gegenüber den ärmeren südlichen Regionen privilegieren.
Die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische Partito Democratico (PD), bezeichnete das Gesetz als versuchte »Spaltung Italiens«. Die Parteivorsitzende Elly Schlein warf Melonis rechter Koalition vor, den »Skalp des Südens« zu nehmen. Der Fraktionsvorsitzende der PD im Senat, Francesco Boccia, sprach von einem »Verrat am Süden«. Nach der langen Parlamentsdebatte bis tief in die Nacht kritisierte außerdem der Fünf-Sterne-Chef Giuseppe Conte, das neue Autonomiegesetz sei »im Schutze der Dunkelheit« verabschiedet worden.
Das Gesetz ist nicht weniger als ein direktes Geschenk von Melonis Partei Fratelli d’Italia an den rechtsradikalen Koalitionspartner, die Lega von Matteo Salvini. Letztere setzt sich bereits seit den 1980er Jahren für eine De-facto-Abspaltung der reichsten norditalienischen Regionen ein. Im Gegenzug zum Autonomie-Gesetzentwurf soll die Lega nun Melonis Projekt zur Stärkung ihres eigenen Amtes unterstützen – »die Mutter aller Reformen«, wie die Ministerpräsidentin es selbst genannt hat. Um diese Machtkonzentration zu erreichen, sind die Patrioten um Meloni anscheinend bereit, die Einheit Italiens aufs Spiel zu setzen.
Die Entwicklung ist an sich nichts Neues. Vielmehr tritt Meloni in die Fußstapfen des verstorbenen Silvio Berlusconi, der die Lega 1994 erstmals in eine Regierungskoalition aufgenommen hatte. Für die Lega ist das Autonomiegesetz seit jeher extrem wichtig. Im Senat gab es nun Freudentränen beim Minister für regionale Autonomie Roberto Calderoli und bei Lega-Chef Matteo Salvini, der die Verabschiedung des Gesetzes als ein »historisches« Ereignis begrüßte.
Allerdings ist der Schritt recht unpopulär. Zwar könnte das Gesetz für die beiden Lega-Politiker der Höhepunkt ihrer Karriere sein – und ein Rettungsanker, nachdem sie bei den letzten nationalen und dann auch EU-Wahlen schlecht abgeschnitten hatten. Doch 45 Prozent der Italienerinnen und Italiener sprechen sich gegen das Gesetz aus; lediglich 35 Prozent unterstützen es, wie Umfragen zeigen. Berichten zufolge arbeitet die PD bereits auf ein Referendum zur Aufhebung der Reform hin.
Die sogenannte differenzierte Autonomie wurde sogar von der Europäischen Union kritisiert, da sie das Risiko berge, die Kluft zwischen Italiens Norden und Süden noch weiter zu vertiefen. Erwartungsgemäß wehren sich besonders die südlichen Regionen dagegen, darunter auch die von der Berlusconi-Partei Forza Italia regierten Gebiete, obwohl die Partei als Teil von Melonis Koalition für das Gesetz gestimmt hatte. Der Forza-Italia-Vorsitzende der Region Kalabrien, Roberto Occhiuto, nannte die Abstimmung einen »Fehler«, der die Menschen im Süden vor den Kopf stoße.
Der gerne theatralisch auftretende PD-Vorsitzende der süditalienischen Region Kampanien, Vincenzo De Luca, der für seine Wortgefechte mit Meloni bekannt ist, warf sich umgehend in die Bresche, um die Reformen rückgängig zu machen. »Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer«, betonte er gegenüber der Presse. Melonis Reformen setzten »die Demokratie aufs Spiel«. Schon im Februar hatte De Luca die Bürgermeister Kampaniens bei einem Marsch ins italienische Parlament angeführt, um dort gegen den Plan zu protestieren. In diesem Zuge legte er sich sogar mit Polizisten an, die den Weg zum Gebäude blockierten.
Wenige Tage vor der Abstimmung griff ein Lega-Abgeordneter einen Parlamentarier der oppositionellen Fünf Sterne, der aus Protest eine italienische Flagge schwenkte, körperlich an. Zur Feier ihres Sieges zeigten Lega-Mitglieder im Senat stattdessen das Banner von Padanien, einer imaginären Nation in der Po-Ebene, die die Lega als ihr Kernland betrachtet. Es ist dasselbe Gebiet, in dem Lega-Anhängerinnen und -Anhänger früher an bizarren, vermeintlich nordischen Ritualen teilnahmen, bei denen sie gehörnte Mützen trugen und dem Wasser des Flusses Po ihre Ehrerbietung darbrachten.
In Zukunft soll jede Region nun ihr gewünschtes Maß an Autonomie aushandeln. Zuerst müssen sie allerdings beweisen, dass sie in der Lage sind, ein bestimmtes Qualitätsniveau in der Gesundheitsversorgung, im Bildungswesen und bei anderen Leistungen zu finanzieren. Ähnliche Regelungen wurden bereits in der Vergangenheit mit den Regionen Lombardei und Venetien diskutiert. Auch PD-geführte Regionen wie Kampanien haben derartige Privilegien gefordert – wenn auch nie in demselben Umfang wie in rechtsgeführten Regionen im Norden (und nie mit Erfolg).
Tatsächlich ist die jüngste Autonomie-Entwicklung in vielerlei Hinsicht nicht die alleinige »Schuld« der Lega oder ihrer Verbündeten. Vielmehr war es die sozialdemokratische Mitte, die schon 2001 eine Verfassungsänderung durchsetzte, die den Regionen mehr Unabhängigkeit ermöglichte. Mit dem Gesetzesentwurf von Meloni wird das in dieser Änderung schlummernde Potenzial lediglich ausgeschöpft, wenn auch in einem extremen Ausmaß. Minister Calderoli kommentiert daher nicht unkorrekt: »Ob es euch gefällt oder nicht, wir setzen nur die Verfassung um.«
Meloni zeigt sich zuversichtlich, dass das Premierato den großen Aufwand wert ist. Ihre Reform wird dem Amt des oder der Ministerpräsidentin mehr Macht auf Kosten aller anderen Gewalten in der Republik einräumen. Wenn man der Exekutive eine solche Handlungsfreiheit zugesteht, schafft man allerdings eine Situation, die die Nachkriegspolitiker Italiens aus Angst vor einem Wiederaufleben des Faschismus vermeiden wollten, als sie 1946-47 die aktuelle republikanische Verfassung ausarbeiteten.
»Nach der Reform würde die Ministerpräsidentin hingegen direkt gewählt und hätte darüber hinaus eine garantierte Mehrheit im Parlament.«
Bisher wählen die Bürgerinnen und Bürger lediglich die Parlamentsabgeordneten. Die Ministerpräsidenten werden dann von den siegreichen Parteien vorgeschlagen und anschließend vom Präsidenten der Republik offiziell ernannt. Der Präsident führt indes nicht das politische Tagesgeschäft, sondern wacht über die Einhaltung des demokratischen Prozesses – und kann zu diesem Zweck auch das Parlament auflösen, Neuwahlen ansetzen oder einen neuen Ministerpräsidenten wählen, über den das Parlament dann abstimmen muss. Der Präsident kann sich weigern, Gesetze zu unterzeichnen und damit das Parlament zwingen, sie erneut zu diskutieren.
Nach der Premierato-Reform würde die Ministerpräsidentin hingegen direkt gewählt und hätte darüber hinaus eine garantierte Mehrheit im Parlament. Wie genau diese Mehrheit berechnet wird, muss in einem noch zu erarbeitenden neuen Wahlgesetz festgelegt werden. In jedem Fall soll die größte Koalition einen »Bonus« in Form von zusätzlichen Sitzen erhalten.
Kritiker sind der Meinung, dass dieses System, das der Ministerpräsidentin eine garantierte Mehrheit im Parlament verschafft – und ihr somit freie Hand lässt, ihre politische Agenda auch dann durchzusetzen, wenn sie in den Wahlen eigentlich weniger Stimmen erhalten hat –, vor allem den Juniorpartnern in Regierungskoalitionen mehr Mandate zuschanzt, als ihre Wahlergebnisse rechtfertigen würden. Vor allem würde es bedeuten, dass Abgeordnete ins Parlament einziehen, die von der Wählerschaft nie (direkt) gewählt wurden.
Ähnliches ist allerdings auch schon bei früheren Wahlgesetzen passiert: So war die Lega 1994 die stärkste Kraft im Unterhaus, obwohl sie nur 8 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Diese bizarre Situation kam dank des sogenannten Mehrheitsbonus zustande, den die Lega als Verbündete Berlusconis genoss (sowie dank einiger anderer damals geltender Mechanismen).
»Das Premierato ist keine Demokratie mehr. Es schwächt das Parlament und das Staatsoberhaupt [also den Präsidenten]«, so Schlein gegenüber der Presse. Im Großen und Ganzen gehe es »nicht um die Weise, wie gewählt wird, sondern um ein weniger unabhängiges Parlament«, kritisierte sie. Die Schaffung eines solchen Systems sei weltweit ein Novum.
Nach dem vorgeschlagenen Modell hätte die Ministerpräsidentin auch die Macht, das Parlament aufzulösen (heute ein alleiniges Vorrecht des Staatspräsidenten), im Falle einer Kabinettskrise einen zweiten Ministerpräsidenten aus derselben Mehrheitskoalition zu wählen oder Neuwahlen auszurufen. Der Vorschlag erscheint vielen als juristisches Chaos: »90 Prozent der Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtler haben diese Reform kritisiert, sogar einige, die der Regierung nahestehen«, so Roberta Calvano, Verfassungsrechtsprofessorin an der Unitelma Sapienza Universität in Rom.
Mit dieser Reform erfüllt Meloni den Traum von Berlusconi – nur noch radikaler, als dieser es sich hätte träumen lassen. Berlusconi hatte 2006 versucht, die Befugnisse des Ministerpräsidenten zu erweitern, verlor aber ein entsprechendes Referendum über die Änderung. Dasselbe geschah 2016 als der damalige sozialdemokratische Ministerpräsident Matteo Renzi die Macht des Senats zu beschneiden versuchte, um die Gesetzgebungsverfahren zu beschleunigen.
Renzi hat inzwischen die PD verlassen und seine eigene zentristische Partei gegründet. Die Geschichte zeigt aber, dass eine derartige Verfassungsänderung keine genuin rechte Idee ist. Meloni erinnert gerne daran, dass Achille Occhetto, der damalige Vorsitzende der postkommunistischen Demokratischen Partei der Linken (dem Vorläufer der PD), bereits bei den Wahlen 1994 eine Premierato-ähnliche Reform ins Auge gefasst hatte. So bereitet eine Tendenz in der italienischen Linken, die Exekutive und das Ministerpräsidentenamt zu stärken, seit nunmehr dreißig Jahren den Boden für die derzeitige Offensive der Rechten.
»Das Premierato wird als Lösung für Italiens berüchtigte politische Instabilität beworben.«
Meloni spielt alle ihre Karten aus, um ihre Reform durchzusetzen. Ihr Vizepremier, der Vorsitzende der Forza Italia, Antonio Tajani, glaubt, dass sie das Gesetz durchbringen wird, auch wenn es keinen Kompromiss mit der Opposition gibt. Ihre Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments gibt ihr zumindest momentan die Macht dazu. Andererseits: Da die rechtsradikale Regierung gerne ihre vermeintliche Mäßigung betonen will, versicherte die Ministerin für institutionelle Reformen, Maria Elisabetta Casellati, kürzlich, dass noch Zeit sei, die Reform nachzubessern. In einem Radiointerview sagte sie: »Der Text ist noch nicht fertig. Ich betrachte so etwas nie als abgeschlossen.« Das dürften auch die Oppositionsparteien hoffen.
Die Premierato-Reform wird als Lösung für Italiens berüchtigte politische Instabilität beworben. In den 78 Jahren seit der Gründung der Republik im Jahr 1946 gab es 68 Regierungen. Zugegeben, viele der Wechsel waren lediglich Kabinettsumbildungen bei gleichbleibender Mehrheit im Parlament oder sogar mit genau denselben Parteien (meist den Christdemokraten und ihren Verbündeten) ohne Neuwahlen.
Dennoch: Während die Regierungszeit einer Legislative und einer Exekutive in Italien rein theoretisch fünf Jahre beträgt, hat in der Praxis keine einzige Regierung so lange durchgehalten. Berlusconis zweite Regierung war die am längsten amtierende; sie kam auf immerhin knapp vier Jahre zwischen 2001 und 2005, bevor schließlich die Kabinettskrise einsetzte. Gewählte Parteien wechseln häufig ihre Bündnisse, eine Mehrheit im Parlament ist meist schwer zu halten. In diesem Sinne erscheint das Premierato-Gesetz tatsächlich auf die politische Verdrossenheit der italienischen Bevölkerung zu reagieren.
Verfassungsreformen können durch eine Volksabstimmung bestätigt werden. Die Opposition hat bereits angekündigt, man könne umgehend mit der Unterschriftensammlung beginnen, wenn alles andere scheitert. Dennoch könnten Umfragen zufolge letztlich zwischen 48 und 55 Prozent der Italienerinnen und Italiener für die Reform von Meloni stimmen.
Ein Problem dabei ist, was den Menschen über die Reform erzählt wird. Seit der Wahl 2022 werden die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten Rai von der Regierung Meloni unter Druck gesetzt, positiv über die Koalitionsparteien zu berichten. Rai-Journalisten streikten im Mai für die Medienfreiheit, nachdem es zu eklatanten Zensur- und Propagandamaßnahmen sowie zu Entlassungen von nicht linientreuen Reportern gekommen war. Der Sender beschuldigte teilweise sogar seine eigenen Angestellten, Fake News zu verbreiten. In anderen Medien wird Rai aufgrund seiner mangelnden Unabhängigkeit als »Tele-Meloni« bezeichnet.
»Meloni ist unter anderem auch deswegen so beliebt, weil sie sich in den vergangenen zehn Jahren stets gegen alle diese Notfall-Regierungen gestellt hat.«
Wenn die Ministerpräsidentin mit der Reform einen Teil der Befugnisse des Präsidenten an sich reißt, spiegelt sich darin auch der lange Kampf der rechten Parteien mit der Institution des Präsidentenamtes: Die Rechte befindet sich auf Konfrontationskurs mit dem jeweiligen Staatsoberhaupt, seit Staatspräsident Giorgio Napolitano den von der EU unterstützten Technokraten Mario Monti mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragte, nachdem der zurückgetretene Berlusconi das Land 2011 fast in den Bankrott getrieben hatte. Montis Regierung wurde bald dafür berüchtigt, die Austeritätspolitik der EU hart durchzusetzen. Eine weitere derartige Intervention gab es 2021, als der aktuell amtierende Präsident Sergio Mattarella den ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi aufforderte, inmitten der Pandemiekrise eine neue Regierung zu bilden.
Solche Entwicklungen folgten oft auf chaotische Misserfolge unter einer rechten Regierung – und im Zuge dessen zur Bildung von »Notkoalitionen« in der politischen Mitte, sogenannten Regierungen der nationalen Einheit oder parteiübergreifenden Kabinetten unter Führung der PD. Meloni ist unter anderem auch deswegen so beliebt, weil sie sich in den vergangenen zehn Jahren stets gegen alle diese Notfall-Regierungen gestellt hat.
Diese Wechsel waren höchst traumatische Erfahrungen für die Rechte. Sie hat es sich daher inoffiziell zur Aufgabe gemacht, die Macht des Präsidenten zu beschneiden. Das fügt sich in ein allgemeines Muster ein: Rechte Parteien versuchen immer wieder, Gesetze abzuändern, wenn sie die eigene Stärke beeinträchtigen. Nachdem bei den letzten Kommunalwahlen wichtige Städte in Stichwahlen verloren wurden, will die Meloni-Koalition beispielsweise solche Stichwahlen komplett abschaffen.
Die Reform könnte tatsächlich durchkommen. »Ich fürchte, um die italienische Bevölkerung gegen das Premierato aufzubringen, reicht es nicht aus, sie darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um ein autoritäres Modell handelt«, meint die Verfassungsrechtlerin Calvano. Angesichts der bisherigen Instabilität würde die Bevölkerung eine Machtkonzentration in den Händen einer einzigen Regierungschefin eher als positiv wahrnehmen.
Andere kleinere Mitte-Rechts-Parteien in der Opposition hatten Meloni sogar ihre Hilfe bei der Ausgestaltung der Reform angeboten – darunter Carlo Calendas Azione und Matteo Renzis Italia Viva. Inzwischen wurde jedoch zurückgerudert, da die Unterstützung von den Rechten weitgehend ignoriert wurde.
Die Premierato-Reform hat kürzlich eine erste Abstimmungsrunde im Senat und in der Abgeordnetenkammer überstanden [ohne dabei die benötigte Zweidrittelmehrheit zu erreichen]. Jetzt steht eine zweite, entscheidende Runde an.
»Monatelang hat die Opposition versucht, über den Gesetzestext zu diskutieren, nur um dann den Vorschlag mit tausenden vorgeschobenen Änderungsanträgen abzuwürgen«, so Calvano. Funktioniert habe dies nicht, doch der Kampf werde weitergehen – allein schon wegen der großen Symbolkraft dieser verfassungsrechtlichen Frage.
»Das Premierato und die differenzierte Autonomie sind ein Rachefeldzug gegen die antifaschistische Verfassung.«
Wenn das Premierato durchkommt, hätte Meloni – die Vorsitzende einer Partei mit faschistischen Wurzeln – die Genugtuung, eine Verfassung umzuschreiben, die von den antifaschistischen Parteien verfasst wurde, die im Zweiten Weltkrieg den Widerstand angeführt hatten. Die Parteimitglieder der Fratelli d‘Italia nehmen nach wie vor an faschistischen Zeremonien teil und rufen offen zu einer Wiederbelebung des Faschismus auf. Das zeigt unter anderem eine aktuelle Recherche der Nachrichtenseite Fanpage. Es scheint, als könnten sich die Verlierer des Krieges nun an den Gewinnerinnen rächen.
In gewisser Weise deutete dies sogar Meloni selbst auf einer Konferenz zur Ankündigung der Reform im Mai an. In ihrer Rede hob sie hervor, dass »die Verfassung allen gehört«. Es war eine implizite Anspielung auf die politische Marginalisierung des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano in den Nachkriegsjahrzehnten.
Auf der anderen Seite könnte der Doppel-Schock der »differenzierten Autonomie« und des drohenden Premierato dazu führen, dass sich eine gemeinsame Front in der linken Mitte bildet: PD, Fünf-Sterne-Bewegung und andere Oppositionsparteien haben im Juni in Rom gemeinsam protestiert und dabei gelobt, ihre Differenzen zu überwinden.
Der Vorsitzende der Nationalen Vereinigung der italienischen Partisanen (ANPI) betonte während des Protests seinerseits: »Das Premierato und die differenzierte Autonomie sind ein Rachefeldzug gegen die antifaschistische Verfassung. Es kommen harte Zeiten auf uns zu, wir befinden uns in tiefster, dunkelster Nacht.«
In einer kürzlichen Ansprache per Facebook Live – eine typische Kommunikationsmethode der Ministerpräsidentin, bei der sie niemand aus- oder hinterfragen kann – beschuldigte Meloni die Opposition, dadurch »unverantwortliche Bürgerkriegstöne« anzuschlagen und den Status quo zu verteidigen. Meloni reagiert auf Verweise auf die neofaschistischen Wurzeln ihrer Partei oft mit dem Vorwurf, die Linke würde damit die Bevölkerung zu einem Bürgerkrieg anstacheln. Freilich lässt sich hinterfragen, inwiefern das »Verteidigen des Status quo« der italienischen Verfassung als vermeintlicher Aufruf zum Bürgerkrieg verstanden werden kann.
Insgesamt lässt sich zusammenfassen, dass die drohenden Veränderungen ein Resultat aus den Problemen des italienischen Parteiensystems sind, das mit dem ausgehenden 20. Jahrhundert regelrecht zusammenbrach. Seit dem »Tangentopoli«-Korruptionsskandal in den 1990er Jahren, der zum Absturz aller großen Parteien, angefangen bei den Sozialisten, geführt hat, ist in Italien nichts mehr wie es zuvor in der Nachkriegsgeschichte war. Aus diesen Ruinen stieg dann Berlusconi auf, der für viele die einzig brauchbare Alternative zu sein schien.
Seitdem hat das demokratische System Italiens ohne die Parteien, die die Republik in ihrem ersten halben Jahrhundert geschaffen und geprägt hatten, nicht mehr richtig funktioniert. Besonders dramatisch zeigte sich das immer dann, wenn die ökonomischen Aussichten schlecht waren.
Die Premierato-Reform und der Plan für eine differenzierte Autonomie könnten das Ende der italienischen Republik, wie wir sie bisher kennen, bedeuten. Die langjährige Journalistin Natalia Aspesi fürchtet die Rückkehr des starken Führers (beziehungsweise der starken Führerin) und sagte an ihrem 95. Geburtstag gegenüber La Repubblica: »Ich bin unter dem Faschismus geboren und werde auch unter ihm sterben.«
Eine solche Aussage mag sicherlich ein wenig übertrieben sein. Doch in einem Punkt hat Aspesi recht: Wenn die Reform verabschiedet wird, wird die italienische Verfassung nicht mehr das sein, was antifaschistische Politiker der Nachkriegsjahre einst festgelegt hatten.
Gabriele Di Donfrancesco ist freiberuflicher Journalist aus Rom. Er schreibt unter anderem für La Repubblica, Rolling Stone Italia, Euronews und The Daily Dot.