01. Mai 2020
Eine kleine Geschichte der Neoliberalisierung in der Schweiz.
Die Schweizerische Bundesbahnen waren für ihre Pünktlichkeit berühmt. Bei Verspätungen gab es Gipfeli – heute ist alles anders.
Ein ungewohntes Ärgernis ist über die Schweiz gekommen. Immer mehr Züge kommen zu spät, die SBB macht mit Pannen und Todesfällen Schlagzeilen. Vorbei die Zeiten, als bei einem Totalausfall des Zürcher S-Bahn-Netzes SBB-Angestellte ausschwärmten, um die wütende Schar von Pendlerinnen und Pendlern mit Kaffee und Gipfeli zu besänftigen.
Die SBB war in den 60er Jahren dafür weltberühmt, während eines Jahres weniger als zwei Minuten Verspätung zu verzeichnen. Heute ist es normal, im dicht getakteten Netz die Anschlüsse zu verpassen. Mittlerweile erreichen pro Tag 300.000 Fahrgäste ihr Ziel zu spät. Dazu platzen die Züge aus allen Nähten, selbst in der ersten Klasse steht man – während die Billetpreise explodieren. Seit 1990 ist die SBB 80 Prozent teurer geworden. Ebenso sehr wuchsen staatliche Zuschüsse an die Bahn, während der Vorstandsvorsitzende sein Jahresgehalt auf über eine Million Franken steigerte. Wenig überraschend sank die Kundenzufriedenheit 2019 auf das niedrigste je erhobene Niveau. Denn wenig rührt so sehr am Selbstverständnis der Schweiz wie Probleme bei der Bahn.
Dabei beschweren sich die Menschen in der Schweiz ohnehin schon über explodierende Mieten, das überteuerte Gesundheitswesen und sinkende Renten – jetzt kommen nicht einmal mehr die Züge pünktlich. Diese Entwicklungen haben alle dieselbe Ursache: Seit den 80er Jahren sind öffentliche Institutionen nach marktwirtschaftlichen Regeln umorganisiert worden. Selbst die Strafverfolgung soll jetzt für private Detekteien geöffnet werden, die gegen Kopfgeld nach vermeintlichen Fällen von Sozialhilfebetrug fahnden sollen. Die SBB gehört zwar Bund und Kantonen, ist jedoch als ein Privatunternehmen organisiert, das Profit machen soll. Das hat absurde Folgen im ganzen Land, selbst auf dem Mietmarkt. Denn die SBB ist eine der grössten Landbesitzerinnen der Schweiz. Nun hat sie damit begonnen, innerstädtische Grundstücke mit Büros für Grossbanken und Konzerne wie etwa Google zu überbauen – oder mit Luxusapartments mit Mieten von 10.000 Franken im Monat. Umfragen zeigen, dass der gestörte Wohnungsmarkt zu den grössten Sorgen der Menschen zählt – nun fängt auch noch der Staat damit an, durch die ihm gehörende SBB mit Immobilien zu spekulieren.
Der grösste Preistreiber bei den Mieten ist aber das Rentensystem. Seit 1985 sind die Bürgerinnen und Bürger der Schweiz gesetzlich dazu gezwungen, einen Teil ihrer Rentenvorsorge privaten Pensionskassen zu überantworten. Die Pensionskassen sind die grössten Immobilienbesitzerinnen der Schweiz – und jagen Mieten in die Höhe, um angeblich die Renten zu sichern. Zugleich verkünden sie jedes Jahr, die Renten müssten sinken – die Situation auf dem Aktienmarkt sei schwierig und so weiter. Zwei Drittel aller neuen Renten aus diesem System belaufen sich auf weniger als 1.000 Franken (die Armutsgrenze liegt in der Schweiz bei 2.300 Franken). Zugleich nehmen sich die Kassen jährlich über sechs Milliarden aus dem Topf, um die Gehälter und Boni des Managements zu finanzieren.
Das Prinzip, die Bürgerinnen und Bürger per Gesetz dazu zu zwingen, private Unternehmen für Dienstleistungen zu bezahlen, die der Staat günstiger und effizienter bereitstellen könnte, gelangt im Gesundheitssystem zur Formvollendung. Es gilt die Pflicht, krankenversichert zu sein, die Kassen sind jedoch allesamt privat. Es gibt 58 verschiedene Kassen – doch was sie unterscheidet, ist nicht klar. Schliesslich ist gesetzlich geregelt, welche Leistungen sie zu bezahlen haben. Konkurrenz auf dem Markt führt nicht zu mehr Effizienz: Die Schweiz hat das zweitteuerste Gesundheitssystem der Welt – nach den USA. Prämien kosten im Schnitt um die 500 Franken im Monat. Und in Städten sowie bei zunehmendem Alter kann dieser Betrag stark steigen. Dazu müssen je nach Kassenmodell die ersten paar hundert bis sogar paar tausend Franken Kosten selbst berappt werden. Bei niedrigen Einkommen zahlt der Staat zwar einen Beitrag an die Versicherungskosten, doch so subventioniert die öffentliche Hand private Unternehmen.
Die Ansicht ist verbreitet, das Schweizer Gesundheitswesen sei zwar teuer, aber auch das beste der Welt. Aber kratzt man an der Oberfläche, erweisen sich die Gesundheitsstatistiken als schlechter, als man es in der rankingverwöhnten Schweiz gewohnt ist. Die Kindersterblichkeit etwa liegt in der Schweiz höher als in all ihren Nachbarländern. Die Schweizer Medien machen dafür Migrantinnen und Migranten verantwortlich, die ihre Kinder aufgrund vermeintlicher Unbildung nicht medizinisch behandeln lassen würden. Eine andere Erklärung liegt näher: In Italien, wo das Gesundheitssystem fast komplett staatlich ist, kostet ein ärztliche Behandlung nichts. In der Schweiz dagegen muss man dafür trotz Versicherung viel Geld bezahlen. Da überlegt man es sich zweimal, bevor man ins Krankenhaus oder in die Praxis geht.
Die Korruption im Gesundheitsbereich ist unverhohlen. Im letzten Parlament übten von 200 Nationalrätinnen und Nationalräten ganze 27 ein bezahltes Nebenamt bei einer Krankenkasse aus – sei es als Beirat oder als Mitglied der Geschäftsleitung. Und das sind nur die öffentlich einsehbar bezahlten Mandate. Die Schweiz kennt als einzige Demokratie der Welt kein Gesetz, das Politikerinnen und Parteien dazu verpflichtet, Spenden oder Nebenämter zu melden. Die Kapitalinteressen haben sich auch auf ideologischer Ebene durchgesetzt. An Schweizer Universitäten wird das New Public Management als die einzige Methode zur Organisation der Verwaltung unterrichtet. Die Theorie verspricht den behäbigen öffentlichen Sektor zu modernisieren, indem Ämter und öffentliche Betriebe zu kleinen Unternehmen umgestaltet werden. Diese Denkweise hat jedoch häufiger Korruption als effiziente Verwaltung zur Folge.
So auch im Fall des Postauto-Skandals, der die Schweiz 2018 erschütterte. Die Post erhält für die Sicherung des öffentlichen Verkehrs in ländlichen Regionen vom Bund Subventionen, darf aber keinen Gewinn schreiben. Allerdings machte sie sehr wohl Profit, den sie jedoch mit buchhalterischen Tricks verheimlichte. So erschlich sich die Post fast 200 Millionen Franken an Zuschüssen. Die Post ist eine private Aktienfirma, die vollständig dem Bund gehört. Somit hat ein Teil des Staates (die Post) einen anderen Teil (das Verkehrsdepartement) betrogen. Verdient hat daran bloss die Konzernleitung, die sich mehrere hunderttausend Franken an Boni auszahlte (zusätzlich zu ihren Gehältern, die bereits höher lagen als die von Regierungsmitgliedern), sowie das Beratungsunternehmen KPMG, das das Management bei seinem buchhalterischen Betrug unterstützte.
Diese Reformen und ihre Folgen widersprechen der weit verbreiteten Überzeugung, der Staat solle gute öffentliche Dienstleistungen zur Verfügung stellen. Diese Überzeugung setzen die Schweizer Wählerinnen und Wähler mit Referenden und Initiativen immer wieder durch, oft gegen den Willen der Politik. So auch gegen den Plan der rechten Parlamentsmehrheit im Kanton Zürich, 2019 die öffentliche Wasserversorgung für private Investitionen zu öffnen. Selbst die medialen Trommeln der NZZ konnten die Menschen in Zürich nicht von der Vorlage überzeugen. Das Vorhaben kam ausgerechnet bei den Wählerinnen und Wählern der rechtspopulistischen und neoliberalen SVP besonders schlecht an. Auch Versuche, das Rentensystem noch weiter zu straffen, scheiterten regelmässig an der Urne.
Das zeigt, wie unbeliebt schleichende Privatisierungen sind – selbst unter Wählerinnen und Wählern bürgerlicher Parteien. Die historische Schlappe für die SVP bei den nationalen Wahlen im Herbst 2019 kam deshalb wenig überraschend. Zwar ist sie noch immer die grösste Partei, doch noch nie in der 172-jährigen Geschichte des Bundesstaates hat eine Partei so viele Stimmen verloren. Die parlamentarische Linke profitiert davon allerdings wenig: Auch die SP erlebte eine historische Schlappe, die der Anstieg der Grünen kaum ausgleicht. Auch wenn die SP linker politisiert ist als vergleichbare sozialdemokratische Parteien wie die SPD, ist der rechte Parteiflügel einflussreich, und sie hat den Reformen der letzten Jahre zu wenig entgegengesetzt. Die SP ist überall an der Macht beteiligt, in der Bundesregierung, den Kantonen, und stellt in allen grösseren Städten die Stadtpräsdentinnen und Stadtpräsidenten. Zugleich sind die Mieten in der Städten explodierter – aber, wie viele sagen, nicht trotz der SP-Stapis, sondern gerade wegen ihnen.
Die Wahlbeteiligung in der Schweiz ist so niedrig, wie in kaum einem anderen westlichen Land ausser den USA. Aber warum sollten die Menschen auch wählen, wenn die linken Parteien keinen Willen zeigen, konfrontativ zu sein? Sie sind zu sehr in das politische System eingebunden, als dass sie eine Alternative darstellen zu könnten. Personell rekrutieren sie sich hauptsächlich aus der Mittelschicht. Die SP ist eine Partei der gut ausgebildeten Städterinnen und Städter – die Grünen sowieso. Dazu muss man wissen: In der Schweiz machen immer noch nur circa 20 Prozent eines Jahrgangs Matur, in Deutschland hingegen fast 50 Prozent das analoge Abitur.
Die Repräsentationslücke ist in der Schweiz also noch viel stärker ausgeprägt als in anderen bürgerlichen Demokratien. Linke Politik wird in der Schweiz von privilegierten Menschen und aus moralischer Überzeugung gemacht, dass die Welt besser sein sollte – nicht aus Betroffenheit und persönlichem Interesse an der Besserung der Verhältnisse. Wenn Politik nur Wohltätigkeit ist, fehlt ihr jede Dringlichkeit. Was der personellen Zusammensetzung von Parteien und Verbänden nicht zuträglich ist: Die Hürden, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu erlangen, sind so hoch, dass fast ein Drittel der Bevölkerung kein Wahlrecht besitzt. Die arbeitende Klasse setzt sich heute grossteils aus Migrantinnen und Migranten zusammen, die von politischen Prozessen ausgeschlossen sind. Dagegen hilft es aber auch nicht, Migrationshintergrund und arbeitende Klasse gleichzusetzen, wie es die Schweizer Linke mit wohlwollendem Chauvinismus oft tut.
»Wenn Politik nur Wohltätigkeit ist, fehlt ihr jede Dringlichkeit.«
Auch setzt sich die Linke nicht ernsthaft mit den eigenen Versäumnissen auseinander. Wie konnte sie es zulassen, dass die SVP zur erfolgreichsten rechtspopulistischen Partei Europas wurde? Offensichtlich gibt es in der Schweiz grosse Angst vor Abstieg und Ärger über korrupte Institutionen – doch die SVP bewirtschaftet diese Stimmung seit 30 Jahren, nicht die Linke. Die SVP macht Buurezmorge und überzieht das Land mit der Propaganda ihrer gekauften Medien. Wo ist die Linke im Leben der Menschen? Die kämpferischen Gewerkschaften und der Frauenstreik sind ein Lichtblick in diesem Trauerspiel, das die Schweizer Linke bietet. Ebenso die Juso. Sollte es noch einmal zu einem Linksruck in der SP kommen, wäre es am wichtigsten, das grosse Geld aus der Politik zu verbannen. Anderenfalls wird es so gut wie unmöglich sein, Forderungen nach einer hohen Erbschaftsteuer oder einer starken öffentlichen Rente und Krankenversicherung durchzusetzen oder die schleichende Privatisierung des service public rückgängig zu machen. Vielleicht kommen die Züge dann auch wieder rechtzeitig. Und es gibt Gipfeli.
Dem Internationalismus verpflichtet:
Caspar Shaller ist freier Journalist.