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Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

02. Oktober 2025

Deutschland hat die Pflicht, seine Bürger vor der IDF zu schützen

Israel attackiert die Global Sumud Flotilla, doch die Bundesregierung verweigert ihre Schutzpflichten gegenüber den deutschen Zivilpersonen an Bord. Damit stellt sie geopolitische Loyalität über Völkerrecht und Grundgesetz.

Aufnahmen von Überwachungskameras zeigen Soldaten der IDF beim Entern des GSF-Schiffes Oxygono.

Aufnahmen von Überwachungskameras zeigen Soldaten der IDF beim Entern des GSF-Schiffes Oxygono.

IMAGO / Anadolu Agency

Am 24. September 2025 geriet die Global Sumud Flotilla (GSF) ins Fadenkreuz eines bewaffneten Angriffs, während sie auf hoher See – nahe der griechischen Gewässer vor Kreta – humanitäre Hilfsgüter nach Gaza transportierte. Aktivistinnen an Bord meldeten mehrere Explosionen, Drohnenüberflüge und Sabotagehandlungen gegen mindestens elf Schiffe der Flottille, darunter auch Kommunikationsstörungen und den Einsatz von Blend- und Lärmgranaten. Israel bestritt zunächst ausdrücklich, in die Angriffe involviert zu sein, warf der Flottille jedoch zugleich terroristische Absichten vor und bezeichnete sie in offiziellen Erklärungen als »Hamas-Flottille«. Diese Darstellung fügt sich in eine propagandistische Strategie, die darauf abzielt, zivile und zivilgesellschaftliche Initiativen mit Bezug zu Gaza pauschal in die Nähe der Hamas zu rücken, um sie zu delegitimieren und gewaltsame Maßnahmen gegen sie zu rechtfertigen.

Am Abend des 1. Oktober 2025, zwischen 20 und 21 Uhr, stoppten israelische Marineeinheiten mehrere Dutzend Schiffe der Flottille auf internationalen Gewässern und führten ein Boarding durch. Dabei kam es zur Festnahme der jeweiligen Schiffsbesatzungen und Bordkomitees. Unter den Festgenommenen befanden sich auch deutsche Staatsangehörige, darunter Yasemin Acar, Kübra Cinar und Judith Scheytt.

Die GSF versteht sich als zivilgesellschaftliches maritimes Bündnis, das aus mehr als fünfzig Schiffen besteht und von Interessenvertretern aus über 44 Ländern organisiert wird. Ihr erklärtes Ziel ist es, die israelische Seeblockade des Gazastreifens zu durchbrechen, humanitäre Hilfe direkt nach Gaza zu bringen und damit einen Menschenrechts- und Solidaritätsakzent zu setzen. Dieser Einsatz folgt einer Linie früherer Flottille-Missionen – insbesondere der Freedom Flotilla, die bereits seit 2010 wiederholt versucht hat, die Blockade zu durchbrechen und dabei mehrfach von israelischen Streitkräften gestoppt oder angegriffen wurde. Mit dem Angriff vom 24. September und der Interzeption vom 1. Oktober setzt sich diese Kontinuität fort: Einmal mehr wird der maritime Raum zum Schauplatz einer Konfrontation zwischen humanitärem Anspruch und sicherheitspolitischer Rhetorik.

»Israel darf die GSF weder willkürlich an der Einfahrt hindern noch sie gewaltsam abdrängen. Im Gegenteil ist Israel als Besatzungsmacht verpflichtet, die sichere Passage solcher Schiffe zu ermöglichen.«

Vor diesem Hintergrund haben sich fünfzehn deutsche Staatsangehörige, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs an Bord der Flottille befanden, unmittelbar nach den Ereignissen vom 24. September mit Anfragen sowohl an das Auswärtige Amt als auch an das Verteidigungsministerium gewandt. Sie verlangen Auskunft darüber, welche Maßnahmen die Bundesrepublik planen will, um Angriffe auf die Global Sumud Flotilla zu unterbinden und den Schutz deutscher Staatsangehöriger in dieser Konstellation sicherzustellen.

Die Ereignisse um die Global Sumud Flotilla wurden am 29. September 2025 auch im Rahmen der regulären Regierungspressekonferenz thematisiert. Dabei wurde die Frage aufgeworfen, ob die Bundesregierung beabsichtige, dem ausdrücklichen Schutzgesuch der an Bord befindlichen deutschen Staatsangehörigen nachzukommen und welche konkreten Maßnahmen hierfür in Betracht gezogen würden. Der Sprecher des Auswärtigen Amts, Josef Hinterseher, stellte klar, dass die Bundesregierung in dieser Angelegenheit vor allem bemüht sei, eine direkte Konfrontation mit Israel zu vermeiden. Zugleich betonte er, dass nach Einschätzung der Bundesregierung die israelische Regierung den Schiffen der Flottille keinen Zugang nach Gaza gewähren werde, da es sich aus israelischer Sicht um ein aktives Kriegsgebiet handle. Entsprechend müsse damit gerechnet werden, dass Israel die Einfahrt der Flottille mit Zwangsmitteln unterbinden werde, wobei das Risiko eines gewaltsamen Einschreitens bestehe.

Vor diesem Hintergrund verwies der Sprecher darauf, dass das Auswärtige Amt bereits wiederholt öffentlich und gegenüber den Betroffenen auf die erheblichen Gefahren einer solchen Unternehmung hingewiesen habe. Die Bundesregierung stehe in engem Kontakt mit Israel und habe dieses nachdrücklich zur Einhaltung seiner völkerrechtlichen Pflichten aufgefordert, insbesondere im Hinblick auf den Schutz der an Bord befindlichen Zivilpersonen. Darüber hinaus verwies die Bundesregierung auf die weiterhin geltende Reisewarnung für den Gazastreifen. Diese sei nicht zuletzt deshalb ergangen, weil dortige konsularische Hilfeleistungen »faktisch quasi unmöglich« seien. Die Bundesregierung könne unter diesen Umständen die Sicherheit und Unterstützung ihrer Staatsangehörigen im Gazastreifen nicht gewährleisten.

Israels Seeblockade

Die Erklärung des Auswärtigen Amts vom 29. September erweist sich in mehrfacher Hinsicht als verkürzt und irreführend. Bereits der Ausgangspunkt ist problematisch. Der Zugang nach Gaza wird als Frage einer israelischen »Genehmigung« oder »Verweigerung« dargestellt. Tatsächlich ist die von Israel seit 2009 verhängte Seeblockade des Gazastreifens seit Jahren Gegenstand intensiver völkerrechtlicher Kritik. Zwar sind Blockaden als Mittel der Kriegsführung im humanitären Völkerrecht grundsätzlich anerkannt, ihre Rechtmäßigkeit ist jedoch an enge Voraussetzungen gebunden.

Maßgeblich sind hier die Vorgaben des San Remo Manual on International Law Applicable to Armed Conflicts at Sea von 1994, das weithin als Ausdruck völkergewohnheitsrechtlicher Regeln gilt. Danach muss eine Blockade öffentlich erklärt und notifiziert sein, wirksam durchgesetzt werden. Sie darf nicht das Ziel verfolgen, die Zivilbevölkerung auszuhungern oder ihr das Überleben unmöglich zu machen, muss humanitäre Hilfe zulassen und darf nicht unverhältnismäßig sein. Das heißt der Schaden für die Zivilbevölkerung darf nicht außer Verhältnis zum erwarteten militärischen Vorteil stehen.

Die israelische Blockade verletzt diese Maßstäbe in mehrfacher Hinsicht. Sie hat zu einer massiven humanitären Krise geführt, sie verweigert oder verzögert systematisch Hilfslieferungen und erweist sich in ihrer Reichweite als völlig unverhältnismäßig zu den geltend gemachten Sicherheitsinteressen. Internationale Organe wie die UN-Menschenrechtskommission sowie zahlreiche NGOs bewerten die Blockade daher als völkerrechtswidrig und als Form der verbotenen kollektiven Bestrafung.

Auch der Internationale Gerichtshof (IGH) hat in seinen Beschlüssen aus dem Jahr 2024 betont, dass Israel den ungehinderten Zugang humanitärer Hilfe gewährleisten und Handlungen unterlassen muss, die die palästinensische Bevölkerung in ihrer Existenz bedrohen. Mit diesen Anordnungen reagierte der IGH ausdrücklich auf die plausible Gefahr eines Völkermords, die er bereits im Januar 2024 festgestellt hatte, und verpflichtete Israel daher zu Maßnahmen, die eine weitere Verschlechterung der humanitären Lage verhindern sollen.

»Italien und Spanien haben nicht nur politische Unterstützung zugesagt, sondern sogar Marineeinheiten entsandt, um ihre Staatsangehörigen und die Flottille sichtbar zu schützen.«

Diese Einschätzungen markieren jedoch nur den Ausgangspunkt. Betrachtet man die Blockade in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung, so geht sie über die völkerrechtswidrige Kollektivstrafe hinaus. Sie erfüllt die Merkmale des Artikels II der Völkermordkonvention, indem sie der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen Lebensbedingungen auferlegt, die gezielt darauf gerichtet sind, ihre physische Existenz ganz oder teilweise zu zerstören. Durch die systematische und andauernde Abschneidung von Nahrung, Wasser, Medikamenten und Energie wird die Zivilbevölkerung nicht lediglich unter Druck gesetzt, sondern in ihrer schieren Überlebensfähigkeit angegriffen. Damit ist die Blockade nicht nur ein humanitäres Desaster, sondern rechtlich als ein Instrument des Genozids zu qualifizieren.

Fehlt es damit – wie im Falle der Gaza-Blockade – an einer rechtmäßigen Grundlage für die Aufrechterhaltung einer Seeblockade, kann eine gewaltsame Interzeption ziviler Schiffe völkerrechtlich nur in zwei eng umgrenzten Fällen gerechtfertigt werden. Erstens, wenn ein konkreter Nachweis vorliegt, dass das Schiff unmittelbar und wirksam zum Kriegseinsatz beiträgt, etwa durch den Transport von Waffen (entsprechend dem »belligerent right of capture«). Zweitens, wenn von dem Schiff eine unmittelbare und überwältigende Bedrohung für Israel ausgeht und keine milderen Mittel zur Abwehr bestehen (Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta).

Für die Schiffe der GSF liegen solche Voraussetzungen ersichtlich nicht vor. Sie führen humanitäre Güter und verfolgen erklärtermaßen zivilgesellschaftliche Zwecke. Daher kehrt sich die Perspektive um: Israel trifft als Besatzungsmacht nach dem humanitären Völkerrecht die Pflicht, den Zugang humanitärer Hilfslieferungen zu gewährleisten. Diese Verpflichtung folgt aus den Vorgaben des San Remo Manual ebenso wie aus den Vierten Genfer Konventionen, die ausdrücklich untersagen, eine Zivilbevölkerung auszuhungern oder ihr die notwendigen Lebensgrundlagen zu entziehen. Israel darf daher die GSF weder willkürlich an der Einfahrt hindern noch sie gewaltsam abdrängen. Im Gegenteil ist Israel als Besatzungsmacht verpflichtet, die sichere Passage solcher Schiffe zu ermöglichen. Jeder Eingriff gegen die Flottille wäre damit nicht nur ohne Rechtsgrundlage, sondern würde im direkten Widerspruch zu den völkerrechtlichen Schutz- und Versorgungspflichten Israels als Besatzungsmacht stehen.

Ebenso schwer wiegt, dass Israels Vorgehen zusätzlich einen Bruch des Seevölkerrechts darstellt. Nach Artikel 87 des UN-Seerechtsübereinkommens (SRÜ) genießen alle Schiffe auf der Hohen See die Freiheit der Schifffahrt, die nur durch enge, im Übereinkommen ausdrücklich vorgesehene Ausnahmen eingeschränkt werden darf. Artikel 110 SRÜ erlaubt das Anhalten und Aufbringen fremder Schiffe ausschließlich in wenigen Ausnahmefällen, etwa bei Piraterie, Sklavenhandel, unbefugtem Rundfunk oder wenn ein Schiff keine Staatszugehörigkeit führt. Keiner dieser Tatbestände lag bei der GSF vor, die unter klarer Flagge und erkennbar im Rahmen einer zivilgesellschaftlich-humanitären Mission fuhr. Israels Vorgehen – das Anhalten, Entern und Aufbringen eines unter fremder Flagge fahrenden Schiffes auf internationalen Gewässern – erfüllt damit objektiv den Tatbestand einer rechtswidrigen Intervention auf der Hohen See.

Hinzu kommt, dass die Festnahme von Individuen auf hoher See und ihre Überstellung in Gefängnisse – wie bereits im Fall der Madleen-Besatzung – einen eklatanten Verstoß gegen internationale Menschenrechte darstellt. Dies betrifft insbesondere das Verbot willkürlicher oder rechtswidriger Festnahme und Inhaftierung, das Verbot von Folter sowie anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, das Verbot der öffentlichen Zurschaustellung von Gefangenen, das Recht auf Sicherheit der Person sowie das Recht auf Menschenwürde. Ein solches Vorgehen untergräbt damit zentrale rechtsstaatliche Mindeststandards.

Deutschlands Weigerung

Die Erklärung des Auswärtigen Amts vom 29. September 2025 ist ein Beispiel dafür, wie die Bundesregierung ihre verfassungsrechtlichen Schutzpflichten hinter politisch-taktischen Erwägungen zurücktreten lässt. Anstatt die Lage der fünfzehn deutschen Staatsangehörigen an Bord der GSF konsequent aus der Perspektive von Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 2 GG zu betrachten, wird ihre Gefährdung mit dem Verweis auf eine bestehende Reisewarnung relativiert und die rechtliche Bewertung der israelischen Blockade in verzerrter Weise dargestellt.

Diese Argumentation erweckt den Eindruck, die Bundesregierung wolle ihre Verantwortung dadurch abstreifen, dass sie die Risiken allein den Betroffenen zurechnet. Dabei gilt: Eine Reisewarnung ist kein Reiseverbot. Sie kann die Eigenverantwortung der Reisenden verstärken, entbindet den Staat jedoch nicht von seiner Pflicht, Leben und körperliche Unversehrtheit seiner Bürger zu schützen. Gerade im Ausland konkretisiert sich diese Pflicht in Gestalt des diplomatischen Schutzes. Dieser dient – repressiv wie präventiv – dem Schutz natürlicher oder juristischer Personen gegenüber völkerrechtswidrigen Handlungen und wird aus dem Treue- und Schutzverhältnis der Staatsangehörigkeit hergeleitet.

Zwar ist allgemein anerkannt, dass diplomatische Schutzmaßnahmen nur im Rahmen des Völkerrechts ergriffen werden dürfen und der Schutz im Ausland faktisch schwächer ausgestaltet ist als im Inland; gleichwohl besteht keine rechtliche Grundlage, den Schutz gänzlich zu verweigern. Das Bundesverfassungsgericht billigt in diesem Zusammenhang der Bundesregierung einen weiten Ermessensspielraum zu. Dieser erklärt sich daraus, dass außenpolitisches Handeln nicht allein vom Willen der Bundesrepublik abhängt, sondern maßgeblich von Umständen bestimmt wird, die sich ihrer Kontrolle entziehen (etwa völkerrechtliche Vorgaben oder politische Zweckmäßigkeitserwägungen). Gleichwohl ist auch dieses Ermessen grundrechtlich begrenzt. Es darf nicht so ausgeübt werden, dass die staatlichen Schutzpflichten faktisch leerlaufen.

Ein hoheitliches Unterlassen wird daher verfassungswidrig, wenn Schutzvorkehrungen überhaupt nicht getroffen werden oder die ergriffenen Maßnahmen offensichtlich gänzlich ungeeignet sind, um das Schutzziel zu erreichen, oder das Handeln der Bundesregierung auf einem evidenten Rechtsirrtum oder einer willkürlichen Einschätzung beruht. Das Konsulargesetz (KonsG) unterstreicht dies ausdrücklich: Nach Paragraf 5 KonsG haben Auslandsvertretungen Deutschen in Notlagen Beistand zu leisten, soweit dies möglich und zumutbar ist; Paragraf 6 KonsG konkretisiert Hilfestellungen etwa bei Gefahren für Leib und Leben.

»Anstatt den Einsatz der GSF als Ausdruck demokratischer Vitalität anzuerkennen und zu schützen, reagiert die deutsche Regierung mit einer verfassungswidrigen Untätigkeit.«

Vor diesem Hintergrund ist es nicht hinnehmbar, dass sich die Bundesregierung auf bloße Konsultationen mit EU-Partnern und Israel verweist, während andere EU-Staaten wie Italien und Spanien erheblich weiter gehen. Beide Staaten haben nicht nur politische Unterstützung zugesagt, sondern sogar Marineeinheiten entsandt, um ihre Staatsangehörigen und die Flottille sichtbar zu schützen. Dieses Vorgehen zeigt, dass konkrete Schutzmaßnahmen praktisch möglich sind. Es setzt einen Maßstab, an dem sich Deutschland messen lassen muss. Wenn andere Mitgliedstaaten das Machbare definieren, kann sich die Bundesregierung nicht mit bloßen Warnungen oder diplomatischen Floskeln begnügen. Die gegenwärtige Zurückhaltung Deutschlands läuft auf eine faktische Verweigerung staatlicher Schutzpflichten hinaus.

Sie wird noch widersprüchlicher, wenn man berücksichtigt, dass Deutschland im Rahmen internationaler Missionen – etwa zur Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika – seit Jahren bereit ist, erhebliche militärische Mittel einzusetzen. Im Rahmen von Operation ATALANTA beteiligt sich die Bundesrepublik an einer europäischen Mission, die den Schutz kommerzieller Schiffe in der Region gewährleistet. ATALANTA dient jedoch nicht nur der Bekämpfung von Piraterie und bewaffnetem Raub, sondern schützt gezielt auch besonders gefährdete Schifffahrt – insbesondere die Lebensmittellieferungen des World Food Programme.

Dieser Befund ist aufschlussreich: Wenn Deutschland und die EU militärische Ressourcen aufwenden, um den freien Welthandel und zugleich humanitäre Hilfslieferungen zu sichern, ist es umso weniger nachvollziehbar, warum im Falle der GSF jeder vergleichbare Schutz verweigert wird. Im einen Fall – vor Somalia – gilt der Schutz ziviler Schiffe als legitimes sicherheitspolitisches Interesse; im anderen Fall – vor Gaza – werden die eigenen Staatsangehörigen und deren humanitäre Mission mit dem Hinweis auf Reisewarnungen und politische Rücksichtnahmen faktisch allein gelassen. Gerade dieser Kontrast verdeutlicht, dass es der Bundesregierung nicht an Fähigkeit, sondern an politischem Willen fehlt, ihre verfassungsrechtlichen Schutzpflichten ernsthaft wahrzunehmen. In der Folge führt das Verhalten der Bundesregierung zu einer Erosion des Treue- und Schutzverhältnisses zwischen Staat und Bürgerinnen und Bürgern.

Entgegen Verfassung und Volkswillen

Im Lichte der fortgesetzten, völkerrechtswidrigen Blockade, die in ihren Wirkungen den Tatbestand des Genozids erfüllt, wiegt diese Untätigkeit noch schwerer. Indem die Bundesregierung ihre Schutzpflichten relativiert, fügt sie sich nicht nur in ein Muster internationaler Passivität ein, das den Kern des Völkerrechts untergräbt. Sie handelt zugleich aktiv, indem sie durch kontinuierliche Waffenlieferungen an Israel eine Politik unterstützt, die im klaren Widerspruch zum erklärten Volkswillen in Deutschland steht, wo eine Mehrheit der Bevölkerung Waffenlieferungen ablehnt und humanitären Schutzmaßnahmen den Vorrang gibt. Diese Doppellinie – Untätigkeit beim Schutz der eigenen Staatsangehörigen und gleichzeitige materielle Unterstützung einer völkerrechtswidrigen Blockade- und Vernichtungspolitik – vertieft die Kluft zwischen dem Regierungshandeln und dem Grundrechtsauftrag des Grundgesetzes, den normativen Bindungen des Völkerrechts sowie den demokratischen Präferenzen der Bevölkerung.

So zeigt sich im Umgang mit der GSF eine strukturelle Schieflage. Deutschland ordnet die Rechte seiner Staatsangehörigen dem Ziel unter, politische Konflikte mit Israel und westlichen Partnern zu vermeiden. Der Schutzauftrag des Staates nach dem Grundgesetz und das Völkerrecht werden zu nachrangigen Posten, geopolitische Loyalität hingegen zur obersten Maxime. Dies offenbart nicht nur den hegemonialen Charakter deutscher Außenpolitik, sondern wirft auch eine grundlegende Demokratiefrage auf: Wenn staatliche Organe ihre Pflichten aus dem Grundgesetz und Völkerrecht systematisch hinter geopolitische Loyalitäten zurückstellen und zugleich den Mehrheitswillen der Bevölkerung missachten, wird die Tragfähigkeit demokratischer Legitimation ausgehöhlt. Denn das Grundprinzip demokratischer Herrschaft liegt nicht allein in periodischen Wahlen, sondern in der fortdauernden Bindung staatlichen Handelns an das Grundgesetz, das bestehende Recht und den souveränen Volkswillen.

Dass Zivilpersonen – wie im Fall der GSF – das Völkerrecht praktisch mobilisieren, zeigt die Resilienz demokratischer Öffentlichkeit. Bürgerinnen und Bürger nehmen Rechte nicht nur passiv in Anspruch, sondern treten aktiv für ihre Geltung ein, selbst gegen den Widerstand jener Regierungen, die sie gewählt haben. Doch anstatt diesen Einsatz als Ausdruck demokratischer Vitalität anzuerkennen und zu schützen, reagiert die deutsche Regierung mit einer verfassungswidrigen Untätigkeit. Damit droht eine doppelte Aushöhlung: des Völkerrechts nach außen und der Demokratie nach innen.

Khaled El Mahmoud ist Jurist und Völkerrechtler. Er promovierte im Völkerrecht an der Universität Potsdam und ist geschäftsführender Redakteur des Völkerrechtsblogs.