22. April 2025
Die Ära des Freihandels geht zu Ende und im reichen globalen Norden entwickelt sich eine neue Doppelstrategie: Die neoliberale Globalisierung wird aufgegeben – aber der heimische Neoliberalismus wird mit neuer Härte vorangetrieben.
Postangestellte in Louisiana protestieren gegen Trumps Plan zur Privatisierung der Post. Die APWU – die Gewerkschaft der Postangestellten – befürchtet dies könnte zu Massenentlassungen führen, 20. März 2025.
Donald Trump ist wieder an der Macht, und er ist, gelinde gesagt, kein Fan der Globalisierung. Der US-Präsident hat sich öffentlich »gegen den Globalismus und für den Patriotismus« ausgesprochen und erklärt, die Globalisierung habe »Millionen und Abermillionen unserer Arbeiter in Armut und Verzweiflung gestürzt«. Um die aktuelle Ära der Globalisierung, die Trump beenden will, und ihre bisherige Bilanz besser zu verstehen, ist es hilfreich, sie mit einer früheren Globalisierung zu vergleichen, nämlich in der Zeit zwischen 1870 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Beide Globalisierungen stellten Wendepunkte dar – entscheidende Jahre, die die Welt von heute geprägt haben. Und beide gingen mit der bis dahin jeweils größten Expansion der weltweiten Wirtschaftsleistung einher.
Allerdings unterschieden sie sich auch in vielerlei Hinsicht. Die erste Globalisierung war geprägt von Kolonialismus und der Vorherrschaft des Vereinigten Königreichs. Sie führte zu einem starken Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens in den Ländern, die man später als Industrieländer bezeichnen würde. Gleichzeitig kam es überall sonst zu einer Stagnation und in China sowie Afrika sogar zu Einkommensrückgängen. Die Zahlen aus der Datenbank für historische Statistiken des Maddison Project zeigen, dass der kumulierte Anstieg des realen (inflationsbereinigten) Pro-Kopf-BIP im Vereinigten Königreich zwischen 1870 und 1910 bei 35 Prozent lag, während sich das Pro-Kopf-BIP in den USA im gleichen Zeitraum sogar verdoppelte. (Das durchschnittliche reale Pro-Kopf-Wachstum in den USA betrug somit 1,7 Prozent jedes Jahr, eine für die damalige Zeit sehr hohe Quote.) Das chinesische Pro-Kopf-BIP ging hingegen um 4 Prozent zurück, und das indische stieg um lediglich 16 Prozent während des gesamten Zeitraums. Diese Entwicklung führte zum Entstehen der später so genannten »Dritten Welt«; die Kluft zwischen den Durchschnittseinkommen im Westen und dem Rest der Welt vergrößerte sich.
Die erste Globalisierung führte somit zu einer Zunahme der weltweiten Ungleichheit: Die bereits reichen Gebiete verzeichneten ein schnelleres Wachstum, während die ärmeren Gebiete wirtschaftlich stagnierten oder Rückschritte erlitten.
Abbildung 1: Durchschnittliches jährliches reales Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens nach Einkommensdezilen, 1870–1910
Zusätzlich zur wachsenden Ungleichheit zwischen den Nationen nahm auch die Ungleichheit innerhalb vieler reicher Volkswirtschaften zu, darunter auch in den Vereinigten Staaten. Das lässt sich an der ansteigenden Linie rechts in Abbildung 1 ablesen, wo sich zeigt, dass die reicheren Zehntel (Dezile) der Bevölkerung stärker zulegen. Das Vereinigte Königreich (links) bildete eine gewisse Ausnahme, da dort der Höhepunkt der Ungleichheit kurz vor Beginn der ersten Globalisierung in den 1860er und 1870er Jahren erreicht wurde. In den britischen Sozialtabellen, der wichtigsten Informationsquelle über die damalige Einkommensverteilung, notiert Robert Dudley Baxter, dass 1867 das Jahr mit der höchsten Ungleichheit des 19. Jahrhunderts gewesen war. Die Ungleichheit im Vereinigten Königreich wurde danach dank einer Reihe progressiver Gesetze – von einer Begrenzung der Arbeitszeit über das Verbot der Kinderarbeit bis hin zur Ausweitung des Wahlrechts – verringert. Auch in Deutschland zeigt sich ein Anstieg der Ungleichheit um die Zeit der deutschen Einigung Ende der 1860er Jahre.
François Bourguignon und Christian Morrisson, auf deren Zahlen Abbildung 1 basiert, hatten keine Informationen über die Veränderungen der Ungleichheit in Indien und China, sodass beide Länder mit einer geraden Linie über alle Einkommensdezile dargestellt sind (sprich: alle Bevölkerungsteile haben im gleichen Tempo zugelegt). Neue, historische Finanzdaten für Indien, die von den Ökonomen Facundo Alvaredo, Augustin Bergeron und Guilhem Cassan erstellt wurden, zeigen ebenfalls eine stabil bleibende, wenn auch sehr große Ungleichheit.
»Die westliche Mittelschicht war die doppelte Verliererin: einerseits gegenüber der rasant aufsteigenden Mittelschicht Asiens und andererseits gegenüber ihren deutlich reicheren Mitbürgern im eigenen Land.«
Zusammenfassend lässt sich also sagen: Im Allgemeinen sind beide Arten der Ungleichheit (zwischen sowie meist auch innerhalb der Staaten) während der ersten Globalisierung größer geworden.
Wie unterscheidet sich dies von der Globalisierung 2.0, die gemeinhin als die Zeit vom Fall der Berliner Mauer 1989 bis zur Coronakrise 2020 betrachtet wird? Dabei ist anzumerken: Der genaue »Endpunkt« der Globalisierung 2.0 kann diskutiert werden; man könnte ihn auch auf Trumps Einführung von Zöllen auf chinesische Importe im Jahr 2017 oder symbolträchtig auf den Beginn seiner zweiter Amtszeit im Januar 2025 datieren. Das letztendlich gewählte Datum ändert jedoch nichts an den wesentlichen Merkmalen der Globalisierung 2.0.
In dieser Zeit verzeichneten die USA, das Vereinigte Königreich und der Rest der reichen Welt zwar Wachstum, jedoch im Vergleich zu den asiatischen Ländern in relativ bescheidenem Umfang. Zwischen 1990 und 2020 stieg das reale BIP pro Kopf in den USA um durchschnittlich 1,4 Prozent pro Jahr (also langsamer als in der ersten Globalisierungsphase); das britische Pro-Kopf-BIP wuchs um nur 1 Prozent jährlich. Bevölkerungsreiche sowie zu dieser Zeit relativ arme Länder legten viel schneller zu: Thailand um 3,5 Prozent pro Kopf und Jahr, Indien um 4,2 Prozent, Vietnam um 5,5 Prozent und China um beeindruckende 8,5 Prozent.
Abbildung 2: Durchschnittliches jährliches reales Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens nach Einkommensdezilen, 1988-2018
Dieser Kontrast wird in den Abbildungen 1 und 2 deutlich. In Abbildung 1, die die Daten für den Zeitraum 1870–1910 zeigt, wuchs jedes Dezil der Einkommensverteilung in reichen Ländern schneller als jedes einzelne Dezil in armen Ländern. In Abbildung 2, die die Daten für 1988–2018 zeigt, übertreffen hingegen die Wachstumsraten aller Teile der chinesischen und indischen Einkommensverteilung diejenigen aller Teile der Einkommensverteilung in den USA und Großbritannien. Die Weltwirtschaft und die Geopolitik haben sich offensichtlich völlig verändert: Zunächst in Form einer Verlagerung des ökonomischen Schwerpunkts in Richtung Pazifikraum und den daraus folgenden Auswirkungen auf die relativen Einkommensverhältnisse der Bevölkerungen in den westlichen Ländern und in Asien; und zweitens mit dem Fakt, dass China ein ernstzunehmender Kontrahent gegen die bisherige US-Hegemonie geworden ist.
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass in den vergangenen drei Jahrzehnten die Einkommenslage großer Teile der westlichen Mittel- und Arbeiterklasse im globalen Vergleich schlechter geworden ist. Besonders dramatisch war dies in westlichen Ländern, die kein Wachstum verzeichnen konnten. So fiel beispielsweise das unterste Einkommensdezil Italiens zwischen 1988 und 2018 global gesehen vom 73. auf den 55. Platz zurück. Auch in den Vereinigten Staaten rutschten die beiden untersten Dezile in ihrer globalen Position ab, wenngleich im Vergleich zu Italien weniger stark. Darüber hinaus musste die westliche Mittelschicht im Vergleich zu ihren jeweiligen Landsleuten an der Spitze der Einkommensliste relative Vermögensrückgänge erleiden. Die westliche Mittelschicht war sozusagen doppelte Verliererin: einerseits gegenüber der rasant aufsteigenden Mittelschicht Asiens und andererseits gegenüber ihren deutlich reicheren Mitbürgerinnen und Mitbürgern im eigenen Land.
Im Gegensatz zur Globalisierung 1.0 nahm die globale Ungleichheit in der Globalisierung 2.0 jedoch ab. Grund dafür waren die hohen Wachstumsraten in den großen asiatischen Ländern. Innerhalb der einzelnen Länder nahm die Ungleichheit allerdings meist zu. Am deutlichsten war dies in China zu beobachten, wo sich der Gini-Koeffizient (ein gängiges Maß für Ungleichheit) nach den liberalen Reformen fast verdoppelte. Ähnliches gilt für Indien. Abbildung 2 zeigt, dass das Einkommenswachstum der reichen Inder und Chinesen das der Armen in ihren Ländern deutlich übertraf. Doch auch in den Industrieländern nahm die Ungleichheit zu, angefangen mit den Reformen von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, deren Auswirkungen sich in den Regierungen von Tony Blair und Bill Clinton fortsetzten, um schließlich im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ihren Höhepunkt zu erreichen.
»Die Globalisierung 1.0 führte zu einer Zunahme der Ungleichheit zwischen den Ländern, die Globalisierung 2.0 zu ihrem Rückgang. Gleichzeitig verstärkten sich die Ungleichheiten innerhalb der Nationalstaaten.«
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die erste Globalisierung den Aufstieg des Westens und die zweite den Aufstieg Asiens brachte. Die Globalisierung 1.0 führte zu einer Zunahme der Ungleichheit zwischen den Ländern, die Globalisierung 2.0 zu ihrem Rückgang. Gleichzeitig verstärkten aber beide Globalisierungen tendenziell die Ungleichheiten innerhalb der Nationalstaaten. Die Ungleichheit der Wachstumsraten zwischen den Ländern während der Globalisierung 1.0 brachte den Großteil der westlichen Bevölkerung an die Spitze der globalen Einkommenspyramide. Wie hoch selbst die allerärmsten Dezile der reichen Länder in der gesamt-globalen Einkommensverteilung standen, wird selten wahrgenommen. Der Ökonom Paul Collier schreibt in Future of Capitalism wehmütig von der Zeit, als die englischen Arbeiterinnen und Arbeiter gefühlt ganz oben standen. Doch damit sie sich ganz oben fühlen konnten, mussten andere ganz unten sein.
Die zweite Globalisierung verdrängte einen Teil der westlichen Mittelschicht von diesen Spitzenpositionen und führte zu einer großen Umverteilung der Einkommen. Kurz gesagt: Sie wurden von einem aufstrebenden Asien überholt. Dieser relativ unmerkliche Niedergang ging einher mit einem weitaus stärker wahrnehmbaren Niedergang der westlichen Mittelschicht im Vergleich zu den eigenen nationalen Eliten. Dies führte zu politischer Unzufriedenheit, die sich im Aufstieg populistischer Politik und Parteien widerspiegelt.
Es ist darüber hinaus ausdrücklich anzumerken, dass die weltweite Einkommenskonvergenz nicht bis nach Afrika reichte, wo der relative Niedergang weiterging. Wenn sich daran nichts ändert – und dass sich etwas ändert, erscheint aktuell unwahrscheinlich – wird der relative Niedergang Afrikas in den kommenden Jahrzehnten den derzeitigen Trend, nach dem die globale Ungleichheit insgesamt abnimmt, umkehren. Dann dürfte eine neue Ära wieder zunehmender globaler Ungleichheit eingeläutet werden.
Was zu Beginn der Globalisierung 2.0 möglicherweise noch nicht bemerkt wurde (und erst im Laufe ihrer Entfaltung immer deutlicher wurde), ist die überraschende Interessengemeinschaft zwischen den reichsten Ecken der westlichen Welt und den armen Massen des globalen Südens. Auf den ersten Blick erscheint diese Verbindung bizarr; es gibt so gut wie keine Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Gruppen, sei es in Bezug auf Bildung, Herkunft oder Einkommen. Es handelt sich um eine eher versteckte Allianz, die von keiner der beiden Seiten in vollem Umfang erkannt wurde, bis sie in aller Deutlichkeit zutage trat.
Die Globalisierung hat die Reichen in den Industrieländern durch Veränderungen in der internen Wirtschaftsstruktur gestärkt: geringere Besteuerung, Deregulierung und Privatisierung, aber auch die Möglichkeit, die lokale Produktion an andere Orte zu verlagern, an denen die Löhne viel niedriger sind. Die Ersetzung einheimischer durch billigere ausländische Arbeitskräfte machte die Kapitaleigner und Unternehmer des Globalen Nordens sehr viel reicher. Sie ermöglichte es zeitgleich auch den Arbeiterinnen und Arbeitern des Globalen Südens, besser bezahlte Arbeitsplätze zu ergattern und der chronischen Unterbeschäftigung zu entkommen. Die Verliererin all dessen war die westliche Arbeiterschaft aus der Mittelschicht, die durch die viel billigeren Arbeitskräfte aus dem Globalen Süden ersetzt wurde. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Globale Norden deindustrialisiert wurde, und zwar nicht ausschließlich aufgrund von Automatisierung und der zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors für die nationale Gesamtproduktion, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass viele industrielle Arbeitsprozesse schlichtweg dorthin verlagert wurden, wo sie billiger ausgeführt werden konnten. So wurde Ostasien zur »Werkbank der Welt«.
»Kritiker hatten also Unrecht mit der Annahme, dass die Globalisierung 2.0 die ökonomische Lage großer Teile des Globalen Südens verschlechtern würde – stattdessen schadete sie eher den Mittelschichten des Globalen Nordens. Doch sie hatten Recht mit ihrer Einschätzung, wer von diesen Veränderungen am meisten profitieren würde: die Reichsten der Welt.«
Dass somit eine ganz besondere Interessenskoalition entstand, wurde bei den vorherrschenden Ansichten zur Globalisierung übersehen. Denn man war meist der Meinung, die Globalisierung sei vor allem für die arbeitenden Massen des Globalen Südens schlecht; sie würden noch mehr ausgebeutet als zuvor. Dieser Irrtum beruht möglicherweise auf den Entwicklungen und Erfahrungen der Globalisierung 1.0, die tatsächlich zur Deindustrialisierung Indiens und zur Verarmung der Bevölkerung in China und Afrika geführt hatte. In dieser Zeit wurde China quasi von ausländischen Geschäftsleuten beherrscht, und in Afrika verloren die Bäuerinnen und Bauern die Kontrolle über Land, das sie seit Urzeiten gemeinsam bewirtschaftet hatten. Diese Landlosigkeit machte sie noch ärmer. Die Globalisierung 1.0 hatte also sehr negative Auswirkungen auf die meisten Länder des Globalen Südens. Bei der Globalisierung 2.0 war das nicht der Fall. Tatsächlich verbesserten sich die Löhne und die Beschäftigungslage in weiten Teilen des Südens.
Natürlich stimmt es, dass Dinge wie die Länge des Arbeitstages oder die Arbeitsbedingungen im Globalen Süden oft sehr schwierig waren und weiterhin viel schlechter sind als für die Arbeiterschaft im Norden. Kritik der Arbeiterinnen und Arbeiter über die klassische »996«-Regelung (Arbeit von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends an sechs Tagen in der Woche) ist nicht nur in China zu vernehmen, sondern in weiten Teilen der sich entwickelnden Welt. Diese schlechten Bedingungen stellten aber immer noch eine Verbesserung gegenüber der früheren Situation dar und wurden deshalb auch als solche begrüßt und akzeptiert.
Kritiker hatten also Unrecht mit der Annahme, dass die Globalisierung 2.0 die ökonomische Lage großer Teile des Globalen Südens verschlechtern würde (stattdessen schadete sie, wie beschrieben, eher den Mittelschichten des Globalen Nordens). Doch sie hatten Recht mit ihrer Einschätzung, wer von diesen Veränderungen am meisten profitieren würde: die Reichsten der Welt.
Bei der Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus müssen wir eine wichtige analytische Unterscheidung machen zwischen der nationalen neoliberalen Politik einer- und der internationalen neoliberalen Politik andererseits. Erstere umfasst das übliche Paket aus möglichst niedrigen Steuersätzen, Deregulierung, Privatisierung und einem allgemeinen Rückbau des Staates. Zweitere konzentriert sich auf den Abbau von Zöllen und Handelsquoten, und damit auf die Förderung des Freihandels im Allgemeinen sowie auf flexible Wechselkurse und den ungehinderten Verkehr von Kapital, Technologie, Waren und Dienstleistungen. Der Bereich Arbeitskräfte war indes immer etwas anders, sprich: die Bewegungsfreiheit von Arbeiterinnen und Arbeitern war nie derart ungebunden und frei wie die des Kapitals – obwohl globale Mobilität zumindest in der neoliberalen Theorie stets ein Ziel war.
Diese Unterscheidung in die nationale und internationale Sphäre ist besonders wichtig, um China zu verstehen, und um herauszufinden, was unter Trumps zweiter Regierung zu erwarten ist. Es wird sofort deutlich, dass China in seiner Innenpolitik nicht den Grundsätzen des Neoliberalismus folgt, diese aber in seinen internationalen Wirtschaftsbeziehungen sehr wohl befolgt. Das unterscheidet China von vielen anderen Industrie- und Entwicklungsländern, die sowohl die innenpolitischen als auch die internationalen Aspekte der Globalisierung überaus ernst genommen haben. Ab den 1980er Jahren leitete die USA den neoliberalen Wandel ein, der sich eben nicht allein auf die Innenpolitik beschränkte, sondern auch Zollsenkungen, die Schaffung der Freihandelszone NAFTA und vermehrte Auslandsinvestitionen umfasste. Ähnlich verhielt es sich in der Europäischen Union, in Russland und den ehemals kommunistischen Ländern.
Der einzige große Ausreißer war stets China. Nur in diesem Land blieb die Rolle des Staates im Inneren extrem wichtig. Der Staat behielt seine Vorrangstellung im Finanzsektor und in Schlüsselindustrien wie Stahl, Strom, Automobilbau und Infrastruktur. Insbesondere blieb der Staat weiterhin mächtig in der industriepolitischen Gestaltung und behielt die Kontrolle über die, wie Wladimir Lenin sagen würde, »Kommandohöhen der Wirtschaft«. Dieser chinesische Ansatz, insbesondere unter Xi Jinping, ähnelt in gewisser Weise Lenins Neuer Ökonomischer Politik. Unter diesem Regime lässt der Staat den kapitalistischen Sektor zwar in weniger wichtigen Bereichen expandieren, behält aber die Kontrolle über die wichtigsten Wirtschaftszweige und trifft grundlegende Entscheidungen mit Blick auf technologische Entwicklungen. Der chinesische Staat ist stark an der Entwicklung der modernsten Technologie beteiligt, seien es grüne Entwicklungen, Elektroautos, Weltraumforschung und seit kurzem auch KI und Avionik.
»In China bliebt die Macht der Regierung im Inland weitgehend intakt, während gleichzeitig die Vorteile des freien Handels voll ausgenutzt wurden, um die chinesischen Stärken international auszuspielen.«
Diese Beteiligung reicht von einfachen Anreizen in Form von Steuersenkungen bis hin zu direktem Druck. So wird privatwirtschaftlichen Unternehmen durchaus vorgeschrieben, was sie zu tun haben, um mit der Regierung auf gutem Fuß zu stehen. Ein eklatantes Beispiel für das klare Machtgefälle zwischen Staat und Privatwirtschaft gab es 2020, als die Regierung den größten Börsengang der chinesischen Geschichte stoppte. Diesen hatte Jack Ma mit seiner Alibaba-Tochter Ant Group geplant; mit ihm wäre dem Unternehmen der Einstieg in die weitgehend unregulierte Fintech-Branche möglich gewesen. Doch der Staat schritt ein.
Wenn wir über den Erfolg der Globalisierung bei der Verringerung der Armut und der Steigerung des Wachstums in vielen asiatischen Ländern, insbesondere in China, sprechen, sollte man diesen Unterschied zwischen innen- und außenpolitischem Handeln unbedingt im Auge behalten. Man könnte argumentieren, dass Chinas Erfolg gerade auf seiner Fähigkeit beruht, diese beiden Teile auf einzigartige Weise kombiniert zu haben: die Macht der Regierung im Inland blieb weitgehend intakt, während gleichzeitig die Vorteile des freien Handels voll ausgenutzt wurden, um die chinesischen Stärken international auszuspielen. Diese Strategie könnte möglicherweise auch für andere große, sich entwickelnde Länder wie Indien oder Indonesien gut funktionieren. Für kleine Länder hat sie hingegen klare Grenzen, da ihnen die Größenvorteile fehlen und sie (was vielleicht noch wichtiger ist) schlichtweg nicht über die gleiche Verhandlungsmacht gegenüber dem ausländischen Kapital verfügen. Das riesige China schaffte es beispielsweise, umfangreiche Technologietransfers aus den stärker entwickelten Ländern zu erzwingen und davon zu profitieren.
Die zweite Globalisierungswelle, die vor über dreißig Jahren begann, neigt sich ihrem Ende zu. In den vergangenen Jahren kam es zu höheren Zöllen seitens der USA und der EU; zur Bildung von Handelsblöcken; zu strengeren Beschränkungen für Technologietransfers nach China, Russland, Iran und in andere »unfreundliche« Ländern; zum Einsatz ökonomischer Druckmittel wie Importverbote und Finanzsanktionen; zu strengen Einwanderungsbeschränkungen; und schließlich zu einer Industriepolitik, die implizit die Subventionierung heimischer Produzenten vorsieht.
»Trump setzt im Wesentlichen auf die innenpolitischen Grundsätze des Neoliberalismus. Das mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen: verstärkter Merkantilismus auf internationaler Ebene bei gleichzeitig harschem Neoliberalismus im Inland. Anders ausgedrückt: die genau umgekehrte Version des chinesischen Ansatzes.«
Wenn derartige Abweichungen vom orthodoxen Neoliberalismus von seinen wichtigsten Akteuren – nämlich den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union – vorgenommen werden, werden transnationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank künftig nicht mehr in der Lage sein, dem Rest der Welt die bisher üblichen Washingtoner Grundsätze zu predigen und aufzuerlegen. Wir treten somit in eine neue Welt der national- und regionsspezifischen Handels- und Außenwirtschaftspolitik ein. Wir entfernen uns vom Universalismus und Internationalismus und bewegen uns in Richtung einer Art Neomerkantilismus.
Trump passt fast perfekt in dieses Bild. Er liebt den Merkantilismus und sieht die Außenwirtschaftspolitik als Instrument, um alle denkbaren Zugeständnisse anderer Staaten zu erwirken. Man denke an seine Drohung, Zölle gegen Dänemark zu verhängen, wenn Kopenhagen sich weigert, Grönland abzutreten. Das mag alles nur leeres Geschwätz und heiße Luft sein. Dennoch verdeutlicht es Trumps Überzeugung, dass wirtschaftliche Drohungen und Erpressung als politische Instrumente eingesetzt werden können und sollten. Eine solche Politik wird die globale Wirtschaftsordnung weiter zerstückeln. Washingtons Hauptziel ist es, den Aufstieg Chinas zu bremsen und die Fähigkeit des chinesischen Staates zur Entwicklung neuer Technologien, die letztlich nicht nur für ökonomische, sondern auch für militärische Zwecke genutzt werden können, einzuschränken.
Derweil dürften aber die innenpolitischen Aspekte des neoliberalen Standardpakets unter Trump eher noch verstärkt werden. Dies zeigt sich bereits in seinen Plänen, die Einkommenssteuern zu senken, praktisch alles zu deregulieren, die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen zu erleichtern und die Privatisierung vormals staatlicher Aufgaben voranzutreiben. Damit setzt er im Wesentlichen weiterhin auf die innenpolitischen Grundsätze des Neoliberalismus und wendet sie sogar noch konsequenter an. Daraus könnte sich etwas ergeben, das auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mag: verstärkter Merkantilismus auf internationaler Ebene bei gleichzeitig harschem Neoliberalismus im Inland, oder anders ausgedrückt: die genau umgekehrte Version des chinesischen Ansatzes.
Einige Ökonominnen und Ökonomen sind mit Blick auf die Geschichte der Meinung, dass merkantilistische Politik zwangsläufig mit einer starken staatlichen Macht, Kontrolle und Regulierung im Inland einhergehen muss. Das ist jedoch bei der aktuellen US-Regierung offensichtlich nicht der Fall. Diese neue Politik, die Trump propagiert – streng kontrollierte Einwanderung gepaart mit extremem Neoliberalismus im Inland und Merkantilismus in Richtung Ausland – dürfte auch gewisse Personen in Frankreich, Italien oder Deutschland ansprechen.
Die Welt tritt damit in eine neue Ära ein, in der die reichen Länder eine bisher ungewöhnliche Doppelstrategie verfolgen. Die neoliberale Globalisierung wird über Bord geworfen, während das neoliberale Projekt im Inland jetzt noch entschlossener und härter vorangetrieben werden soll.
Branko Milanović ist Ökonom und Gastprofessor am Graduate Center der City University of New York.