02. Juni 2024
Die französischen Sozialdemokraten befinden sich kurz vor der Europawahl im Aufwind. Ihr Spitzenkandidat will vor allem enttäuschte Macron-Wähler ansprechen – doch seine Strategie zerstört auch das frühere Bündnis linker Parteien.
Raphaël Glucksmann spricht auf einer Wahlkampfveranstaltung der Parti Socialiste in Paris, 30. Mai 2024.
In etwas weniger als einer Woche, vom 6. bis 9. Juni, gehen die Wählerinnen und Wähler in der Europäischen Union an die Urnen. In Frankreich scheint die radikale Rechte auf einen historischen Sieg zuzusteuern: In einer insgesamt zersplitterten politischen Landschaft werden Marine Le Pens Rassemblement National (RN) aktuell bis zu 32 Prozent der Stimmen prognostiziert. Die Partei wird in den Wahlen vom 28-jährigen Jordan Bardella angeführt, der bereits Mitglied des aktuellen Europäischen Parlaments und seit 2022 offizieller RN-Vorsitzender ist. Die rechtsradikale Partei hat einen komfortablen zweistelligen Vorsprung vor den anderen sieben Parteien, die in den Meinungsumfragen aufgeführt sind. Besonders bedeutsam ist, dass RN deutlich gegen die Liste von Valérie Hayer, die für die Partei von Präsident Emmanuel Macron antritt, siegen dürfte. Letztere liegt in den meisten Umfragen zwischen 15 und 20 Prozent.
Das genaue Ausmaß des RN-Erfolgs wird erst nach der Auszählung der Stimmen feststehen, doch alles deutet auf eine schwere Niederlage für den Präsidenten und seine Partei hin. Macron geht in seiner bisher wohl schwächsten Position in das letzte Quartal seiner Präsidentschaft. Er hat keine Mehrheit in der Nationalversammlung und scheint auch in Europa zunehmend isoliert. »Ich bin nicht derjenige, der die extreme Rechte als meine politische Opposition gewählt hat«, rechtfertigte sich Macron am 26. Mai noch und baute somit schon einmal am eigenen Alibi. Manche werden argumentieren, EU-Wahlen seien ohnehin eine meist lustlose Angelegenheit, selbst in einer Zeit, in der die Beteiligung an allen Wahlen chronisch sinkt. Tatsächlich werden die Abstimmungen für das EU-Parlament oft als Möglichkeit gesehen, eine nationalistische Proteststimme abzugeben – beziehungsweise als Wähler der oberen Mittelschicht seine eigene Pro-EU-Haltung zum Ausdruck zu bringen. Sie könnten daher wirklich als schlechter Indikator für das wahre Kräfteverhältnis in der französischen Politik angesehen werden. Viele werden nach der Wahl daher versucht sein, die Bedeutung eines Sieges von Le Pen herunterzuspielen – egal, wie deutlich dieser letztlich ausfällt.
Die Wahl ist derweil auch eine Chance, ältere Rechnungen zu begleichen und andere politische Schlachten im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2027 zu gewinnen. An dritter Stelle nach der Liste von Hayer – und mit der Möglichkeit, die Partei des Präsidenten noch zu überholen – folgt die Liste der Parti Socialiste (PS). Sie wird erneut von Raphaël Glucksmann angeführt. Nachdem dieser zunächst von Macron umworben worden war, hatte Glucksmann Ende 2018 eine neue Mitte-Links-Partei mit dem Namen Place Publique gegründet. Der Essayist und Politikberater wurde im darauffolgenden Jahr mit der Leitung der Europakampagne der PS beauftragt. Im Zuge dessen wurde er auch zum ersten Mal als Europaabgeordneter nach Straßburg gewählt. Von diesem Posten aus hat Glucksmann versucht, sich einen Ruf als überparteilicher und durch und durch EU-freundlicher Progressiver zu erarbeiten, der sich insbesondere für Menschenrechtsbelange wie die Notlage der Uiguren in China einsetzt und Wladimir Putins Einmarsch in der Ukraine entschieden verurteilt.
»Die Parti Socialiste war einst die dominierende Kraft der französischen Linken, dezimierte sich in den 2010er Jahren jedoch durch Abspaltungen in zwei unterschiedliche Richtungen selbst.«
In gewisser Weise ist Glucksmann der Kandidat der links angehauchten Mitte Frankreichs. Dies ist der Teil der Öffentlichkeit, der eine gewisse ästhetische Abneigung dagegen empfindet, dass der Präsident die französische Politik stets auf einen Zweikampf mit der radikalen Rechten reduziert, der aber ebenso davor zurückschreckt, ein ernsthaftes Bündnis mit linken Wählerschichten und den entsprechenden sozialen Bewegungen zu schmieden. So erscheint Glucksmann tatsächlich als der beste Kandidat für diese Wählergruppe.
Die Parti Socialiste war einst die dominierende Kraft der französischen Linken, dezimierte sich in den 2010er Jahren jedoch durch Abspaltungen in zwei unterschiedliche Richtungen selbst. Das eine Lager orientierte sich in Richtung Mitte und stellte sich hinter Macron (vor seiner Wahl 2017 war Macron selbst Minister in der Regierung von Präsident François Hollande von der PS gewesen). Das andere Lager gruppierte sich um den Ex-PS’ler Jean-Luc Mélenchon, der die Partei schon 2008 verlassen hatte, um eine eigene Bewegung zu gründen, aus der schließlich La France Insoumise hervorging, der derzeit größte Linksblock in der Nationalversammlung.
Diejenigen, die in der Parti Socialiste geblieben sind, haben sich nie mit ihrer plötzlichen Marginalisierung beziehungsweise der untergeordneten Position ihrer Partei hinter Mélenchon abgefunden. Letzterer hatte sich bei den Wahlen 2017 und 2022 als der am besten geeignete Präsidentschaftskandidat der Linken erwiesen. Während sich die PS-Führung unter Parteisekretär Olivier Faure bereit erklärte, 2022 dem von Mélenchon dominierten breiten Linksbündnis NUPES (Neue Ökologische und Soziale Volksunion) beizutreten, begann die konservative Fraktion der PS ebenso schnell, dieses Bündnis zu untergraben.
Noch vor den Parlamentswahlen damals war Russlands Einmarsch in die Ukraine ein guter Anlass, interne Meinungsverschiedenheiten auszutragen – vor allem angesichts der langjährigen Ablehnung der NATO seitens La France Insoumise. In der linken Mitte wurde diese Haltung als Verrat an einem »strategischen Realismus« gesehen, der in einer Zeit des neuen Ost-West-Konflikts notwendig sei. Noch komplizierter wurde es nach den Angriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Das PS-Establishment warf der radikaleren Linken Antisemitismus vor – und erreichte im vergangenen Herbst das Ziel, die Beteiligung der PS an der NUPES-Allianz auszusetzen.
»Glucksmann ist ein typischer Vertreter der technokratischen Elite Frankreichs.«
Die langfristige strategische Hoffnung besteht darin, dass sich irgendwann ein Zeitfenster öffnet, in dem die PS zu ihrer früheren Größe zurückkehren kann. Wenn davon auszugehen ist, dass Macrons Koalition in den Anfängen ihrer eigenen Implosion steckt (unter anderem kann der amtierende Präsident nicht mehr zur erneuten Wiederwahl antreten), so die Vorstellung der PS-Elite, kann die eigene Partei quasi von Natur aus als Auffangbecken für den progressiven Flügel der liberalen Partei des Präsidenten agieren. Eine gestärkte PS hätte dann die kritische Masse, um sich gegenüber Mélenchon und seinen Anhängern durchzusetzen und im linken Lager wieder den Ton anzugeben.
Allerdings dürfte ein PS-Revival unter der Führung von Glucksmann die gravierenden Probleme der französischen Linken bei Wahlen noch verschärfen. Während der Macron-Jahre hat die Linke im städtischen Frankreich bedeutsame Erfolge erzielt, von Paris bis zu anderen Großstädten wie Lyon, Marseille und Grenoble. Mélenchons Koalition hat es bei den letzten beiden Präsidentschaftswahlen nur knapp nicht in die Stichwahl geschafft. Insbesondere konnten die Mittelschicht, progressive Städter (also vermutlich die Menschen, die Glucksmann bei den anstehenden EU-Wahlen unterstützen werden) sowie Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse in den Außenbezirken der Städte zusammengebracht werden. Zu kämpfen hatte NUPES hingegen immer außerhalb dieser Gruppen, vor allem in weniger diversen Arbeitergegenden im ländlichen und kleinstädtischen Frankreich.
Glucksmann ist ein typischer Vertreter der technokratischen Elite Frankreichs. Es ist daher schwer vorstellbar, dass eine Parti Socialiste unter seiner Führung eine Lösung für die beschriebene Zwickmühle bieten könnte. Sein nüchterner Progressivismus scheint darüber hinaus wenig Berührungspunkte mit den Bindungen zu haben, die Mélenchon zur multiethnischen Arbeiterklasse in den großen städtischen Zentren aufbauen konnte.
Neben der wahltaktischen Rechenschieberei sorgt auch Glucksmanns Vergangenheit bei manchen für Skepsis. Er ist der Sohn des Philosophen André Glucksmann, ein Goldjunge der Pariser Intellektuellenaristokratie des späten 20. Jahrhunderts in ihrer ebenso faden wie schlichten und selbstgefälligen Form. In seinem ersten politischen Leben war er in gewisser Weise ein junger Neo-Konservativer. So arbeitete er von 2009 bis 2012 als Berater für den damaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili und setzte sich für ein Frankreich ein, das humanitäre Interventionen unter Führung der NATO konsequent unterstützen müsse. Glucksmann war 2007 während des Präsidentschaftswahlkampfes von Nicolas Sarkozy auf einer Kundgebung zugegen, wobei er heute allerdings betont, den zukünftigen konservativen Präsidenten damals nicht bei der Wahl unterstützt zu haben. Er sei lediglich vor Ort gewesen, um Material für ein Buchprojekt zu sammeln.
Nun sind politische Meinungsänderungen natürlich nicht per se schlecht. Man sollte sich freuen, dass jemand – insbesondere ein solches Kind des politischen und kulturellen Establishments – von der Rechten zur Linken wechselt. Gerade im heutigen Frankreich ist so etwas selten. Allerdings gibt es Gründe, am tatsächlichen Grad und Ausmaß von Glucksmanns progressiver Wende zu zweifeln.
»Ein Erfolg von Glucksmann am kommenden Wochenende wird die Hand des eher konservativen Establishments innerhalb der Parti Socialiste stärken, ebenso wie deren Glauben an die Möglichkeit, den radikaleren Mélenchon zu überflügeln.«
Als EU-Wahlkandidat ist er ein Vertreter der Kräfte, die gerade diejenigen sozialen Bewegungen eindämmen wollen, die der französischen Politik in den ansonsten lähmenden Macron-Jahren etwas Dynamik verliehen haben. Glucksmann verkauft sich als kompromissloser Verfechter der universellen Menschenrechte – und stellt sich damit in Gegensatz zum angeblichen »Lagerdenken« der Mélenchon-Linken, die Kritik an Menschenrechtsverletzungen und autoritären Regimen in Syrien, China oder Russland nur äußerst widerwillig und in gedämpfter Form äußert.
Allerdings ist Glucksmanns eigene Auslegung der Menschenrechte im besten Fall einseitig. Wie die Parti Socialiste im Allgemeinen hat er es bisher vermieden, die mörderischen Absichten und die katastrophalen Auswirkungen des Krieges des israelischen Staates gegen Gaza anzusprechen. Daheim in Frankreich war er weitgehend unsichtbar, wenn es darum ging, das polizeiliche Vorgehen gegen Menschen zu kritisieren, die sich für Palästina und einen Waffenstillstand einsetzen. Stattdessen schließt er sich Antisemitismus-Vorwürfen an, die darauf abzielen, jegliche pro-palästinensischen Proteste zu dämonisieren. Unter anderem konnte er sich nicht dazu durchringen, den Polizeieinsatz zur Beendigung einer Besetzung an der Pariser Elitehochschule Sciences Po (übrigens seiner eigenen Alma Mater) konsequent zu verurteilen.
Höchstwahrscheinlich wird La France Insoumise bei diesen Wahlen schlechter abschneiden als Glucksmann und die PS. La France Insoumise wäre aber gut beraten, das Wahlergebnis nicht als reines Symptom für die besonderen Umstände von Europawahlen an sich abzutun. Die Wählerschaft darf sich zu Recht fragen, welche Position die Partei in Bezug auf Europa wirklich vertritt (und wie ernst ihre Drohungen, die EU-Verträge aufzukündigen, zu nehmen sind) oder auch durchaus Zweifel an der bisherigen Haltung der Partei zur Ukraine-Krise hegen.
Es gibt ebenfalls sehr berechtigte Bedenken hinsichtlich der mangelnden internen Demokratie innerhalb von La France Insoumise: Es sollte keine Selbstverständlichkeit sein, dass Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen 2027 erneut der designierte Kandidat der Partei ist. Immerhin gab es zwei erfolglose Kandidaturen unter seiner Führung – sowie eine frühere im Jahr 2012 für die damalige Front de Gauche.
»Bei der Weigerung der linken Mitte, ein Wahlbündnis zu bilden, ging es vordergründig zwar um die vermeintlich empörenden außenpolitischen Positionen von La France Insoumise. Inoffiziell will man aber mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2027 bereits erste Machtkämpfe führen.«
Der France Insoumise würde es gut tun, diejenigen in ihrem Lager wie François Ruffin oder Clémentine Autain nicht zu ächten, die sich mehr zur Mitte hin öffnen wollen, ohne jedoch den demokratischen Radikalismus aufzugeben, der den bisherigen Erfolg der Allianz erklärt. Man muss der Wahlliste von La France Insoumise, die von der amtierenden Europaabgeordneten Manon Aubry angeführt wird, auch zugutehalten, dass sie sich für eine linke Einheitsliste ausgesprochen hat, selbst wenn dies bedeuten würde, dass man sich hinter einen Kandidaten einer anderen Partei stellen müsste.
Es scheint, dass sich das Fenster für eine Annäherung [zwischen der gemäßigten und der radikaleren Linken] schließt. Bei der Weigerung der linken Mitte, ein Wahlbündnis zu bilden, ging es vordergründig zwar um die vermeintlich empörenden außenpolitischen Positionen von La France Insoumise. Inoffiziell will man aber mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2027 bereits erste Machtkämpfe führen. In dieser Hinsicht wird ein Erfolg von Glucksmann am kommenden Wochenende die Hand des eher konservativen Establishments innerhalb der Parti Socialiste stärken, ebenso wie deren Glauben an die Möglichkeit, den radikaleren Mélenchon zu überflügeln, und ihre Hoffnung, dass das Ende des Macronismus genutzt werden kann, um wieder verstärkt ins Rampenlicht (wenn nicht gleich direkt an die Macht) zu gelangen.
Letzteres ist höchstwahrscheinlich Wunschdenken. Angesichts des anhaltenden Aufstiegs der radikalen Rechten hat solches Wunschdenken aber offensichtlich einen gewissen Reiz.
Harrison Stetler ist ein freier Journalist und Lehrer aus Paris.