15. September 2022
Michail Gorbatschow wollte den Sozialismus retten. Als er die Chance dazu bekam, war es zu spät.
Gorbatschow in Moskau, 21. Juli 2015.
IMAGO / ITAR-TASSMichail Gorbatschow, der am 30. August 2022 in Moskau im Alter von 91 Jahren verstorben ist, war der letzte Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und der letzte Staatschef der Sowjetunion.
Die Zeit betonte erwartungsgemäß: »In Deutschland verehrt, in Russland verachtet«. Der Spiegel nannte ihn einen »Anti-Putin«, meinte aber, »die russische Katastrophe von heute« sei in Gorbatschows Politik angelegt gewesen. Und so schaut der Artikel zurück auf das »tragische Vermächtnis eines Weltverbesserers« – ganz so, als sei das Anliegen, die Welt verbessern zu wollen, etwas, worüber man Hohn ausgießen müsste.
Die Beendigung des Kalten Krieges war Gorbatschows große historische Leistung. Das bleibt. Was der ironische Ton der bürgerlichen Großmedien zu kaschieren versucht: Es war der Westen, der die Chance ausgeschlagen hat, dies für die Schaffung einer allgemeinen und dauerhaften Friedensordnung zu nutzen. Der Westen wollte unbedingt als »Sieger« in die Geschichte eingehen. Die Zeitung nd stieß in das gleiche Horn und bezeichnete Gorbatschow als »ungeliebten Visionär«, der »ohne Absicht den Westen begeistert und seine Landsleute ins Verderben gestürzt« habe.
Eines der Hauptprobleme des Realsozialismus war die Spannung zwischen den deklarierten humanistischen Zwecken und der praktizierten machtpolitischen Wirklichkeit; zwischen der Absicht, das »Reich der Freiheit« zu errichten – um es mit Marx zu sagen – und dem Ausbau eines Machtapparates, dessen Instrumentarien von Reglementierung über Zensur und Bespitzelung bis hin zum Gulag reichten. Das gilt auch für den Bereich der internationalen Politik.
Nach den theoretischen Vorstellungen der marxistischen Theorie würde sich der Gegensatz zwischen den Nationen durch die Macht des Proletariats auflösen: »Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander«, wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest argumentieren. Zwischen sozialistischen Nationen konnte es demnach keine Machtasymmetrien geben. Der »proletarische Internationalismus« sollte das Grundprinzip der Beziehungen zwischen sozialistischen Ländern und den in ihnen regierenden kommunistischen Parteien sein.
Die Realität sah anders aus. Das stalinistische Herrschaftssystem, wie es in der Sowjetunion in den 1920er Jahren geschaffen und im Gefolge des Zweiten Weltkrieges auf die anderen sozialistischen Staaten übertragen wurde und in abgemilderter Form bis 1989 bestand, beruhte auf Entscheidungsprozessen, die streng hierarchisiert und nicht öffentlich waren; die »Machtfrage« war der Fluchtpunkt aller Entscheidungen.
Das fand im internationalen Kontext seine Fortsetzung; die Moskauer Führung wollte hierarchische Beziehungen schaffen, die sich um die Hegemonialmacht Sowjetunion zentrierten. Dabei war charakteristisch, dass die ideologischen Denkmuster aus der kommunistischen Tradition bis zum Ende fortwirkten. Das hatte zur Folge, dass Machtkonflikte ideologisch ausgetragen wurden und ideologische Konflikte machtpolitische Konsequenzen hatten. Im Grunde präsentierte sich der Marxismus-Leninismus als »Staatsreligion« der realsozialistischen Länder.
Die Vorherrschaft der Sowjetunion wurde demzufolge nicht als solche beansprucht, sondern stets als Folge ihrer Größe und vor allem ihrer historischen Rolle interpretiert. Der »Großen Sozialistischen Oktoberrevolution« wurde die Bedeutung eines Schlüsselereignisses zugemessen, die eine neue historische Epoche »des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus« eröffnete. Hinzu kam ihre Rolle bei der Zerschlagung des Hitlerfaschismus im Zweiten Weltkrieg und als Atommacht in Konkurrenz zu den USA.
Das sowjetische Imperium wurde also ideologisch begründet, hatte jedoch stets einen machtpolitischen Kern. Die Brüche zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien Ende der 1940er sowie zwischen der Sowjetunion und China Anfang der 1960er Jahre sind vor diesem Hintergrund zu betrachten.
Das sowjetische Imperium hatte mehrere Gestalten: Eine davon war Russland, das von der Moskauer Führung als Hausmacht behandelt wurde – als Stalins Nachfolger, Nikita Chruschtschow, die Idee hatte, der russischen KP-Organisation ein eigenes Zentralkomitee zu geben, wie es auch die Ukrainische KP und andere hatten, war dies einer der Auslöser, die 1964 zu seiner Absetzung führten. Hinzu kam die Sowjetunion in ihrer territorial-politischen Gestalt, die in der Literatur oft als das »innere Imperium« bezeichnet wird. Hier hatte die Moskauer Führung den direkten Zugriff auf alle Ressourcen und Entscheidungen.
»Die Strukturen des Herrschaftssystems, das Parteiverständnis und das Gesellschaftskonzept hatten den Abstieg von Luxemburg zu Honecker oder von Lenin zu Breschnew bewirkt.«
Die dritte Gestalt war das »äußere Imperium« in Osteuropa, also die mit der Sowjetunion verbundene, von ihr beherrschte Gruppe von Staaten, die in einem völkerrechtlichen Sinne selbständig waren. Über deren Ressourcen konnte die Moskauer Führung nur bedingt verfügen. Die vierte Gestalt war der Versuch, sowjetische Macht und sowjetischen Einfluss in die Dritte Welt zu projizieren, um die befreiten Länder nach dem Zerfall der imperialistischen Kolonialsysteme als Ressource in der Blockkonfrontation zu nutzen. Hier war das Wirken der Sowjetunion noch problematischer als in Osteuropa: am Ende war sie in regionale Kriege verstrickt. Der Krieg und die Niederlage in Afghanistan (1979–89) markierte den Anfang vom Ende der sowjetischen Weltmachtambitionen.
Während für die sowjetische Außenpolitik nach 1917 weltrevolutionäre Ansätze bestimmend waren, so wurde die UdSSR nach 1945 zu einer eher klassischen Großmacht mit globalen Ambitionen – ein Unterfangen, das in keinem Verhältnis zu den wirtschaftlichen Voraussetzungen stand. Das Imperium war überdehnt. Diese Schlussbilanz hatten die alten, stalinistisch geprägten Machthaber (von Stalin über Chruschtschow und Leonid Breschnew bis Konstantin Tschernenko) hinterlassen, als Gorbatschow 1985 sein Amt als Generalsekretär antrat und seine Politik der Umgestaltung in Angriff nahm.
Zu den seltsamen Eigenheiten des realsozialistischen Herrschaftssystems gehörte die Kaderauswahl auf immer niedrigerem Niveau. In Ostdeutschland führte das etwa zu der vereinfachenden Fehldiagnose, die Greise der SED-Führung seien am Scheitern des Realsozialismus schuld gewesen – nicht das Herrschaftssystem. Diese grauen Gestalten standen am Ende des kommunistischen Parteiwesens – am Anfang standen Lichtgestalten wie Rosa Luxemburg, Ruth Fischer oder Willi Münzenberg, die nicht nur vom »Klassenfeind«, sondern auch von der eigenen Partei verschlungen wurden. Die Strukturen des Herrschaftssystems, das Parteiverständnis und letztlich das Gesellschaftskonzept hatten den Abstieg von Luxemburg zu Honecker oder von Lenin zu Breschnew bewirkt.
Soziologisch beschrieben wurden derartige Entwicklungen bereits – völlig unpolitisch und jedenfalls nicht auf den Realsozialismus bezogen – von dem Soziologen C. Northcote Parkinson in den 1950er Jahren. Er stellt den Zustand der »schleichenden Büro-Paralyse« wie folgt dar: »Die höchsten Vorgesetzten sind muffige, schwerfällige Gesellen, ihre Untergebenen werden nur munter, wenn sie gegeneinander intrigieren und die Stuhlbeine der Nachbarn ansägen, und die jüngsten Mitarbeiter wirken entweder zynisch oder enttäuscht.«
Weiter Parkinson: »Wenn der Kopf der Organisation zweitklassig ist, wird er darauf achten, dass seine unmittelbaren Untergebenen drittklassig sind. Und diese werden ihrerseits zuverlässig dafür sorgen, dass der Rest der Angestelltenschaft viertklassig ist. Bald wird es tatsächlich zu einem Wettkampf der Dummheit kommen, wobei jeder vorgibt, noch weniger Gehirn als sein Nachbar zu besitzen.« Wenn erst einmal diese Phase erreicht sei, so könne eine Institution in einem »Zustand des Dauerschlafes noch zwanzig Jahre dahinvegetieren«.
Rettung könne unerwarteterweise daher kommen, dass einzelne Individuen eine Art Immunität gegen diese Schlafkrankheit entwickeln. Sie passen sich dem System so lange an, bis sie auf einem einflussreichen Posten gelandet sind: »Erst wenn er zur Spitze emporgestiegen ist, lässt er die Maske fallen und erscheint nun den Lemuren des Angestelltenstabes furchtbar wie ein Fürst der Unterwelt.«
Etwa so vollzog sich der Durchmarsch Gorbatschows durch die realsozialistischen Institutionen, bis ihn Juri Andropow, viele Jahre Geheimdienstchef und nach Breschnew KPdSU-Generalsekretär, in Moskau deponierte.
Das Verhältnis von Gorbatschow zu den ideologischen Chiffren des Realsozialismus lässt sich am ehesten als pragmatisch beschreiben. Er beherrschte wie kein anderer die ideologischen Figuren des sowjetischen Kommunismus; deshalb gelang es ihm, von 1985 bis 1990 alle Versuche der Orthodoxen, seine Ablösung herbeizuführen, abzuwenden.
»Gorbatschow kannte die Macht offenbar nur in zweierlei Formen: als Blutvergießen und als Hofintrige – nicht aber als Herrschaft.«
Das Ausmaß der Probleme, vor denen die Sowjetunion stand, konnte er dennoch nicht erfassen, geschweige denn bewältigen. Der »Verrats«-Vorwurf, der in den Moskauer Eliten und auch in Berlin später erhoben wurde, trifft die Sache nicht. Er war gebildeter, eloquenter als alle anderen sowjetischen Parteiführer, wahrscheinlich seit Trotzki. Und er war gewillt, nicht nur den Kalten Krieg, sondern auch das Blutvergießen um der Macht willen endlich zu beenden.
Allerdings kannte er die Macht offenbar nur in zweierlei Formen: als Blutvergießen und als Hofintrige – nicht aber als Herrschaft. Das trug offenbar dazu bei, dass die Perestroika in Verbindung mit Glasnost nicht zu einer Konsolidierung, wie beabsichtigt, sondern zum Zerfall des Sozialismus und der Sowjetunion führte.
Inwieweit Gorbatschows Versicherung, die historische Entscheidung »für den Sozialismus« sei unwiderruflich, Ausdruck einer eklatanten Fehleinschätzung war, lässt sich heute nicht mehr sagen. Wie der Vergleich zu den Reformen Deng Xiaopings in China zeigt, können das Machtsystem und die Wirtschaft nicht gleichzeitig reformiert werden. Das konnte Gorbatschow zu seiner Zeit nicht wissen.
Durch sein weitgehendes Entgegenkommen brachte er die Sowjetunion in den Abrüstungsverhandlungen zunächst in eine offensive außenpolitische Position gegenüber den USA und trug so zu einer Öffnung der Verhandlungen bei. Die Reduzierung der Rüstungslasten sollte der erste Schritt sein, um die imperiale Überdehnung zurückzuführen. Im zweiten Schritt zog sich die Sowjetunion aus den Konflikten in der Dritten Welt heraus. Mit den USA und den jeweils anderen beteiligten Parteien wurden Vereinbarungen zur Konflikt-Regelung in Afrika, Mittelamerika, Kambodscha und schließlich Afghanistan getroffen.
Mittlerweile hatte Gorbatschow nicht nur bezüglich der Verbündeten in der Dritten Welt, sondern auch gegenüber den Ländern im osteuropäischen »äußeren Imperium« die »freie Wahl des Entwicklungsweges« verkündet. Mit anderen Worten: die Parteiführungen in Osteuropa sollten sich ihre Legitimierung bei ihrer respektiven Bevölkerung selbst verschaffen, jedenfalls sollten sowjetische Truppen zu deren Machtsicherung nicht mehr zur Verfügung stehen.
Die Auflösung des sowjetischen Imperiums war die zweite systemische Dimension des Fiaskos des Realsozialismus. Die Globalisierung der Welt und die Verallgemeinerung der Menschenrechte und demokratischen Grundwerte besiegelten das Schicksal des kommunistischen Projekts auch in den internationalen Beziehungen. Die Separierung einer eigens geschaffenen »neuen Welt« hatte sich als unrealisierbar erwiesen. Was dieses Scheitern am Ende für die Menschen in den betreffenden Ländern bedeutete, war nicht absehbar.
»Der dezidierte Verzicht auf den Internationalismus zugunsten der allgemeinen Menschenrechte entzog dem sowjetischen Herrschaftsbereich jedoch nicht nur nach außen, sondern auch nach innen eine zentrale ideologische Grundlage.«
Zwei Momente in der Strategie Gorbatschows der 1980er Jahre haben besonders weitreichende Folgen gezeitigt. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Losung vom »proletarischen Internationalismus« das Banner, unter dem die Bolschewiki die russische Erde wieder einsammelten. Deshalb zerfiel das russische Reich im Vergleich zum Habsburger und Osmanischen Reich nicht unter dem Ansturm des Nationalismus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der »Internationalismus« die ideologische Begründung für die Errichtung des äußeren Imperiums wie für die Ausdehnung in die Dritte Welt. Der dezidierte Verzicht auf den »Internationalismus« zugunsten der allgemeinen Menschenrechte entzog dem sowjetischen Herrschaftsbereich jedoch nicht nur nach außen, sondern auch nach innen eine zentrale ideologische Grundlage. Bereits 1989 signalisierte das Unabhängigkeitsstreben Litauens den Zerfall der UdSSR – in Gestalt des Tschetschenien-Krieges der 1990er Jahre wurde deutlich, dass dieser Prozess auch vor der Russischen Föderation nicht haltmacht.
Ähnlich folgenreich war das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Das übergeordnete Ziel, den Kalten Krieg und das Wettrüsten zu beenden sowie das Sicherheitsdilemma zu beseitigen, schloss den Einsatz von Gewalt gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen aus. Ein Einsatz militärischer Kräfte – um etwa in der DDR die Grenze gewaltsam wieder zu schließen oder gegen das litauische Parlament vorzugehen – hätte nach Gorbatschows Einschätzung nicht nur das Ende der Perestroika bedeutet, sondern alle Resultate der seit 1985 erreichten Entspannung auf einen Schlag zunichte gemacht.
Im Gegenzug sicherte der Westen Zurückhaltung zu. Wie Michael R. Beschloss und Strobe Talbott in ihrem Band Auf höchster Ebene dokumentieren, versprach US-Präsident George Bush während des Gipfels in Malta 1989, dass der Westen die geschwächte Situation der Sowjetunion nicht ausnutzen werde. Im Februar 1990 versicherte der damalige US-amerikanische Außenminister James Baker gegenüber Gorbatschow, dass im Gegenzug zu einer sowjetischen Zustimmung zu einer NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands »gewährleistet ist, dass die NATO ihr Territorium um keinen Zentimeter in Richtung Osten ausweitet«. Es ist jene Zusage, die Moskau heute mit den Bestrebungen zur NATO-Osterweiterung gebrochen sieht.
So verband sich die Politik Gorbatschows mit zwei Prämissen: dass sich der Rückzug des Imperiums an einem bestimmten Punkt begrenzen ließe, und dass die Sowjetunion nach dem Rückzug weiterhin als Supermacht behandelt werden würde. Beides erwies sich als Illusion. Das konnte den Moskauer Akteuren 1989 jedoch nicht bewusst sein. Denn sie verfolgten ihre Außenpolitik des »neuen Denkens« weiterhin, was bald dramatische Folgen für den verbündeten Staat im Osten Deutschlands nach sich ziehen sollte.
Die »deutsche Frage«, die in den 1950er und zum Teil noch 60er Jahren zu erbitterten Auseinandersetzungen nicht nur zwischen Ost- und Westdeutschland führte, sondern eine wichtige Frontlinie des Kalten Krieges war, schien sich Ende der 80er Jahre erübrigt zu haben. Die deutsche Zweistaatlichkeit wurde weithin als die abschließende Antwort betrachtet. Die Sicherheit vor Deutschland war durch die beiden Bündnissysteme gesichert, in die die jeweiligen Deutschen eingeordnet waren; die deutsche Einheit war in die Sonntagsreden deutschnationaler Politiker des Westens abgerückt. Mit der deutschen Vereinigung 1989/1990 wurde die »deutsche Frage« neu beantwortet – und damit begann die Rückkehr des Nationalen in die europäische Geschichte nach der Blockkonfrontation.
Nach dem Untergang des Hitler-Reiches hatten die Besatzungsmächte in ihrem jeweiligen Machtbereich jene Kräfte präferiert, die ihnen politisch am nächsten standen. Oftmals wird, um die darauffolgende Entwicklung im Osten Deutschlands zu erklären, auf interne Pläne, Vorhaben und Konzeptionen der sowjetischen Führung unter Stalin verwiesen.
Die Entwicklung im Osten Deutschlands nach 1945 ist in der Tat von den weltpolitischen Konzepten Stalins nicht zu trennen, wie aber auch die Entwicklung im Westen Deutschlands nicht von den Konzepten der USA, Großbritanniens und Frankreichs zu trennen ist. Um die Verhältnisse in Deutschland zu gestalten, bedurfte es auf beiden Seiten deutscher politischer Kräfte, die politische Interessen und Pläne verfolgten, die sich mit denen der jeweiligen Besatzungsmacht überschnitten. Die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen politischen Kräfte in Deutschland suchten ihrerseits die Unterstützung jeweils jener Besatzungsmacht, deren Grundinteresse mit ihrem eigenen im Wesentlichen übereinstimmte.
Die tatsächliche Entwicklung in Deutschland nach 1945 war das Ergebnis des Wirkens der Siegermächte und der verschiedenen deutschen politischen Kräfte. So war die Entstehung und Geschichte der DDR Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte und daher Folge des verbrecherischen Eroberungskrieges, den Deutschland unter Führung Hitlers begonnen und verloren hatte. Sie war zugleich Teil des Versuchs der Sowjetunion, ihren Machtbereich bis nach Mitteleuropa auszudehnen und zu erhalten.
Von ihren Verfechtern wurde die DDR immer als eine eigene Antwort auf das Hitler-Reich verstanden. Krieg und Faschismus sollten niemals wieder möglich sein. Diese Antwort nahm typologisch die Gestalt des sowjetischen, stalinistischen Sozialismus an. Dessen bewusste Verfechter blieben in der DDR-Gesellschaft eine Minderheit. Der Antifaschismus und die proklamierte Lösung der sozialen Frage sollten dem kommunistischen Herrschaftssystem eine eigene Legitimität geben, die nicht nach der zahlenmäßigen Zustimmung innerhalb der Gesellschaft fragte. Das Legitimationspotenzial, wie groß es früher gewesen sein und worin es auch bestanden haben mag, war Ende der 1980er Jahre wirtschaftlich und politisch aufgebraucht, die Überzeugungskraft des Sozialismus weithin erschöpft.
Die Abschaffung des Realsozialismus in der DDR wurde von einer Mehrheit der Bevölkerung bewirkt und vollzogen. In den entscheidenden Monaten 1989/90 trafen mehrere Faktoren zusammen: Zum einen verzichtete die sowjetische Führung endgültig auf die alte stalinistische Machtpolitik und räumte den Völkern in ihrem Herrschaftsbereich (außerhalb der Sowjetunion) tatsächlich das Recht auf Selbstbestimmung ein. Zum anderen war die DDR-Bevölkerung – wie sich am 18. März 1990 bei den Volkskammerwahlen zeigen sollte – mehrheitlich nicht bereit, die Kosten der Selbsterneuerung einer eigenständigen DDR zu tragen. Der »deutschen« Option einer Vereinigung mit der Bundesrepublik wurde der Vorzug gegeben. Heute ist wohl davon auszugehen, dass dies schon immer eine Mehrheitsposition war. Und schließlich war die konservative Bundesregierung unter Helmut Kohl willens, dem Streben der ostdeutschen Arbeiterinnen und Arbeiter nach deutscher Einheit einen Rahmen zu geben.
Zuvor jedoch schien das von der SED geprägte Staatswesen seinen provisorischen Charakter verloren zu haben. Der »Volksaufstand« am 17. Juni 1953 machte deutlich, dass diese Gesellschaft zumindest solange Bestand haben musste, wie die Sowjetunion ihre machtpolitischen Interessen lieber an der Elbe als am Bug wahrnehmen wollte. Nach dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 blieb der Mehrheit der Bevölkerung auch die individuelle Abwanderung verwehrt. Damit musste jeder DDR-Bürger entscheiden, ob er seine Lebensplanung auf ein Arrangement mit den gegebenen Verhältnissen aufbauen oder ob er den schweren Weg einer Fundamentalopposition gehen wollte.
In die SED strömten somit mehr und mehr Menschen, die in erster Linie beruflich und gesellschaftlich vorankommen wollten. In immer mehr Berufen war die Wahrnehmung niedriger Leitungsfunktionen an die Mitgliedschaft in der SED gebunden. So kam es, dass es in einem Land mit 16,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern eine Staatspartei mit 2,3 Millionen Mitgliedern gab. Die vier anderen Blockparteien zählten 1989 zusammengenommen 485.000 Mitglieder. 2,8 Millionen Menschen waren somit in fünf staatstragenden Parteien organisiert. Nahezu alle wichtigen Funktionen in Staat, Wirtschaft und Bildungswesen waren mit Mitgliedern der SED besetzt.
Innerhalb der SED waren Ende der 1980er Jahre im wesentlichen drei Gruppierungen auszumachen: Die erste Gruppe bildeten gewissermaßen die Idealisten, die weiterhin an ein sozialistisches Ziel glaubten und meinten, dieses in der DDR und mit der SED umsetzen zu können. Unter ihnen hatte die Unzufriedenheit zugenommen – eine Tendenz, die sich angeregt durch Gorbatschows Perestroika-Kurs seit 1985 deutlich verstärkte.
»Die Amtseinführung neuer Generalsekretäre des ZK der KPdSU löste meist Hoffnungen aus, in der Sowjetunion ebenso wie in der DDR und anderen sozialistischen Staaten.«
Damals griff das Gefühl um sich, dass die Vorwürfe der Fälschung der Ergebnisse der Kommunalwahl vom Mai 1989 zutreffend waren, dass die wirtschaftliche Situation immer weniger den Erfolgsmeldungen entsprach, dass überhaupt die restriktive Medienpolitik immer mehr Unwahrheiten produzierte und dass die SED-Führung insgesamt keine Konzepte hatte. Die sich verstärkende Ausreisewelle aus der DDR verschärfte die Unzufriedenheit kritischer Parteimitglieder zusätzlich. In ihren Augen war dies ein Abbild der eklatanten Niederlage der SED, der DDR und des Sozialismus.
Die zweite Gruppe waren Zyniker, die vielleicht einmal an sozialistische Ideale geglaubt hatten, aber desillusioniert oder in Stalinismus verfallen waren. Sie waren bereit, jeden beliebigen »Auftrag« zu erfüllen. Die große dritte Gruppe rekrutierte sich aus all jenen, die aus Karrieregründen der SED beigetreten waren.
Die Auseinandersetzung innerhalb der SED in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre verlief zwischen den Trägern des Kurses Erich Honeckers – also den Verteidigern einer orthodoxen und verknöcherten, auf Abgrenzung gegenüber Gorbatschow und der Perestroika zielenden Politik – und den Gegnern dieses Kurses. Letztere waren verstreut, nicht organisiert, unentschlossen und oftmals von falscher Loyalität oder Disziplin gegenüber der Partei und damit deren Führung geleitet.
In Erinnerung geblieben sind vielen die »Gorbi, Gorbi«-Rufe bei den offiziellen Demonstrationen zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989, und Gorbatschows berühmter Satz: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Das war eine offene Kritik an der Reform-Unwilligkeit der SED-Führung unter Honecker. Der öffentliche Gebrauch der alten SED-Losung: »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen«, galt bereits 1987 als parteifeindliche Aktion.
Die Amtseinführung neuer Generalsekretäre des ZK der KPdSU löste meist Hoffnungen aus, in der Sowjetunion ebenso wie in der DDR und anderen sozialistischen Staaten. So zeigten »Stimmungsberichte« des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die als zeitgenössische Quelle herangezogen werden können, das »progressive Bürger« (interner Einordnungsbegriff des Dienstes, der sich in erheblichem Maß auf SED-Mitglieder bezog) in der Zeit vom März 1985 bis Ende 1986 große Hoffnungen in Bezug auf eine aktivere sowjetische Außenpolitik hegten (die folgenden Zitate des MfS sind dem Beitrag »DDR-Bürger und Perestroika. Eine Rekonstruktion unter Verwendung von Simmungsberichten des Ministeriums für Staatssicherheit« aus der Berliner Debatte Initial entnommen. Der Beitrag erschien 1997 und wurde vom Autor dieses Textes und Jochen Franzke verfasst).
»Die Hoffnung auf eine Reform des Sozialismus trat hinter die Hoffnung auf eine deutliche Verminderung der Spannungen in Europa und der Welt.«
In den Jahren zuvor war es um die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen gegangen; die Angst vor einem Atomkrieg hatte die Stimmung der Mehrheit der Bevölkerung in Ost und West bestimmt. Die Hoffnung auf eine Reform des Sozialismus trat daher (noch) hinter die Hoffnung auf eine deutliche Verminderung der Spannungen in Europa und der Welt.
Unter diesen Umständen verbanden viele mit der Wahl Gorbatschows zum KPdSU-Generalsekretär eine Verstärkung der außenpolitischen Aktivitäten. Die Sowjetunion besitze nun einen obersten Repräsentanten, der sie »auch im Ausland vertreten und entscheidende Gespräche selbst führen« könne, wie es in einem Stasi-Bericht heißt. Auch jene Teile der DDR-Bevölkerung, die aufmerksam das »BRD-Fernsehen« verfolgten, würden Gorbatschows »offenes und weltmännisches« Auftreten als sympathisch empfinden. In einem Interview mit der Partei-Zeitung Prawda vom April 1985 (das in der DDR im Wortlaut veröffentlicht worden war) hatte er sich erstmals zur internationalen Lage geäußert. Das habe »unter breitesten Kreisen der Bevölkerung große Beachtung und Zustimmung« gefunden und würde von den »progressiven Bürgern« für »einen entscheidenden Schritt« gehalten, um bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen zu Ergebnissen zu kommen.
Neben der optimistischen Strömung machte das MfS jedoch auch unter den »progressiven Bürgern« bereits seit 1985 eine politische Strömung aus, die Gorbatschows Politik von Anfang an misstrauisch gegenüberstand. Teilweise ging es auch um einen »neukommunistischen Diskurs« in der DDR, der sich in der Auseinandersetzung mit der Perestroika und der Kritik daran konstituierte. Kritische Distanzierung gegenüber der Perestroika unter »progressiven Bürgern« der DDR bzw. Mitgliedern der SED deckte sich nicht notwendig mit einer Unterstützung der vordergründigen Abschottungspolitik Honeckers gegenüber Gorbatschow.
Den Berichten nach waren die Reaktionen der politischen Opposition gegenüber Gorbatschow zunächst skeptisch bis ablehnend. »Politisch-ungefestigte Personen« hegten laut Aufzeichnungen des MfS tiefes Misstrauen gegenüber der sowjetischen Außenpolitik. Gorbatschows Vorschläge entbehrten in ihren Augen einer soliden Basis. Der in Europa erreichte Stationierungsgrad sowjetischer Mittelstreckenraketen sichere deren militärische Überlegenheit.
Andere Oppositionelle sahen in den neuen Initiativen nur »ein politisches Manöver« der Sowjetunion, um Zeit zu gewinnen. Das änderte sich nach dem Besuch Gorbatschows in Frankreich Anfang Oktober 1985. In Teilen der Opposition erkannten die MfS-Analytiker nun Versuche, bestimmte Positionen der Sowjetunion in der internationalen Arena in ihrer Auseinandersetzung mit der SED-Führung zu nutzen. So hätten beispielsweise Oppositionelle aus Friedenskreisen im Bezirk Erfurt die Abrüstungsvorschläge Gorbatschows in Paris als Argument für ihre Ablehnung der am Jahrestag der DDR in Berlin stattgefundenen Militärparade angeführt.
Das Plenum des ZK der KPdSU im Januar 1987 leitete mit den Stichworten Perestroika und Glasnost jene Phase spätsowjetischer Politik ein, in der der Reformansatz in der Innenpolitik immer mehr auf zentrale Bereiche der Gesellschaft übergriff. Das Plenum fand in der DDR ein außergewöhnliches Echo. Angesichts der Stagnation im eigenen Land wurde aus Moskau ein Impuls zur Veränderung der Gesellschaft erwartet. 1987 hofften viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger, dass der Funke der Reformen von der Sowjetunion auf die DDR überspringen möge.
Zugleich eskalierte der Konflikt zwischen den Reformern in Moskau und der reformfeindlichen SED-Führung. Honecker versuchte, das Unterordnungs-Verhältnis zur Sowjetunion, das für die SED-Führung stets ein Kernelement ihrer Machterhaltung war, zu lockern. Die Wirkungen, die knapp zwei Jahre Gorbatschowscher Reformpolitik unter »progressiven Kräfte« in der DDR auslösten, wurden bereits im Februar 1987 in den MfS-Berichten differenziert betrachtet. So würden »progressive Kräfte die Notwendigkeit« betonen, »gerade in der jetzigen Zeit die UdSSR bei der Realisierung ihres Kurses uneingeschränkt zu unterstützen«. Allerdings seien die von Gorbatschow aufgeworfenen Probleme »in der DDR erfolgreich und besser gelöst« worden.
Die Analytiker des MfS kamen zu dem Schluss, dass die systemkritische Komponente um die DDR keinen Bogen mache. Vor allem die kritischen Aussagen Gorbatschows zur Führungs- und Leitungstätigkeit in der Volkswirtschaft, zur Arbeitsdisziplin, Kaderpolitik und Informationstätigkeit träfen innerhalb der Bevölkerung auf gesteigerte Aufmerksamkeit. Dabei »kommen die Beteiligten unter Bezugnahme auf die jeweilige Situation im eigenen Tätigkeitsbereich häufig zu dem Schluss, dass es in der DDR ähnliche Erscheinungen gebe wie in der UdSSR.« Die Schaffung einer offeneren Atmosphäre in der DDR wurde »als wichtigste Lehre aus dem KPdSU-Plenum und als zwingend notwendige Aufgabe betrachtet«.
Nach der IX. Unionsparteikonferenz der KPdSU im Juli 1988 waren in der DDR bereits viele der Hoffnungen des Frühjahrs 1987 auf den Erfolg grundlegender Reformen des Sozialismus in der Sowjetunion verflogen. Ein Großteil der DDR-Bürgerinnen und -Bürger wurde hinsichtlich der Erfolgsaussichten der Reformen Gorbatschows zunehmend skeptischer.
Natürlich hoffte man weiterhin, Gorbatschow möge mit seiner Reformpolitik in der Sowjetunion Erfolg haben. An seinem Scheitern konnte zu dieser Zeit in der DDR – außer der SED-Führung und reformfeindlichen Hardlinern – niemand ernsthaft interessiert sein. In dem entsprechenden MfS-Bericht las sich das so: »Die überwiegende Mehrzahl der sich äußernden Bürger bringt die Hoffnung zum Ausdruck, dass es der Partei- und Staatsführung in der Sowjetunion gelingen möge, den Kurs der Umgestaltung erfolgreich fortzusetzen.«
Kritisch angemerkt wurde der schleppende Gang der Perestroika, die mehr zerstöre als aufbaue. Von Funktionären und Mitgliedern der SED sowie anderen »progressiven Kräften«, vorrangig der älteren Generation, »wird neben Zustimmung zu den Maßnahmen der ›Perestroika‹ Besorgnis über Umfang, Tiefe und Formen der Auseinandersetzung auf der Konferenz zum Ausdruck gebracht«. Häufig werde betont, dass einem erst jetzt bewusst werde, »wie kompliziert die Situation in der UdSSR tatsächlich ist«. Die Möglichkeit einer Verbesserung der Lage wurde skeptisch beurteilt. Es bestehe die Gefahr, dass die Parteiführung der KPdSU »die Situation nicht beherrsche, sozialismusfeindliche Kräfte dadurch zunehmend Einfluss erlangten und die Parteiführung infolge zunehmender Ausschreitungen, Demonstrationen und Streiks zum Verlassen des Kurses der Umgestaltung veranlasst werden könnte«.
»Im Frühjahr 1989 verstärkte sich die Ernüchterung angesichts der absehbaren Unrealisierbarkeit der Perestroika.«
Die an Schärfe zunehmende Geschichtsdebatte in der Sowjetunion wurde von Mitgliedern und Funktionären der SED und anderen »progressiven Kräften« »bestürzt« zur Kenntnis genommen. »Es entstünde der Eindruck, nach Lenins Tod seien in der UdSSR nur noch Fehler gemacht worden.« Derartige Betrachtungsweisen könnten sich »deprimierend auf das Sowjetvolk auswirken und Vertrauensverluste zur Politik der Partei nach sich ziehen«. Zu erwarten seien auch politisch und ideologisch destabilisierende Wirkungen auf die DDR, »da das derzeitig gezeichnete UdSSR-Bild dem bisherigen völlig widerspreche«.
Bemerkenswert war der Stimmungsbericht Ende November 1988 zur Reaktion der DDR-Bevölkerung auf das Verbot der sowjetischen Zeitschrift Sputnik in der DDR. Mit diesem Schritt ging die SED-Führung zur offenen Konfrontation gegenüber den Perestroika-Reformern um Gorbatschow über. Honecker meinte offenbar, dass Teile der DDR-Bevölkerung diesen Schritt unterstützen würden. Stattdessen provozierte er einen zusätzlichen Konflikt. Erstmals kam es zu offenen Protesten der reformbereiten Kräfte innerhalb der SED. Dass diese binnen kurzer Zeit wieder versandeten, gehört zu den Eigenheiten der Geschichte. Spätestens jetzt standen die Reformer vor der Herausforderung, Honecker und seine engsten Mitstreiter von der politischen Macht zu verdrängen. Das hätte den Sozialismus in der DDR auch nicht mehr retten können, es hätte jedoch die folgenden politischen Entwicklungen in eine andere Richtung lenken können.
Im Frühjahr 1989 verstärkte sich die Ernüchterung angesichts der absehbaren Unrealisierbarkeit der Perestroika rasch. Viele DDR-Bürger, so die MfS-Analytiker, äußerten sich nunmehr zurückhaltender und kritischer zum Umgestaltungsprozess in der Sowjetunion. Mit wachsender Besorgnis wurde festgestellt, »dass in der Sowjetunion bisher nicht die erwartete Stabilisierung der Lage im Ergebnis der Umgestaltungsprozesse eingetreten sei«. Es »entstehe der Eindruck, die Partei- und Staatsführung der UdSSR beherrsche nicht mehr alle im Zusammenhang mit dem praktizierten sozialistischen Meinungspluralismus aufgetretenen Probleme«. Vordergründige Forderungen nach einer Übernahme der Perestroika, »wie sie hauptsächlich von Angehörigen der Intelligenz in der Vergangenheit erhoben wurden, [spielen] kaum noch eine Rolle«. Aus MfS-Sicht wurde das als »Versachlichung von Standpunkten und Meinungsäußerungen« interpretiert.
Das war jedoch eine grundlegende Fehleinschätzung. Der vom MfS wahrgenommene Prozess war vielmehr ein Indiz dafür, dass sich immer mehr bisher systemtragende Teile der Bevölkerung der DDR, vor allem der Intelligenz, von einem möglichen Reformprojekt des Sozialismus abwandten. So, wie die Ergebnisse der Perestroika in der Sowjetunion verliefen, konnte man dieses Projekt, das ja in der DDR noch gar nicht begonnen hatte, nicht unterstützen.
Was hatte zu dieser dramatischen Stimmungsveränderungen geführt? Im Bericht des MfS hieß es: »Informationen über die Lebenslage der Werktätigen, Erscheinungen des Nationalismus sowie über zunehmende Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte insbesondere in der UdSSR, der Volksrepublik Polen und der Ungarischen Volksrepublik« hätten einen bestimmenden Einfluss auf das Meinungsbild ausgeübt. Die inneren Probleme in einigen sozialistischen Ländern stellten eine Abkehr vom Sozialismus dar und hätten negative Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR: »Die Frage nach der Sieghaftigkeit und Perspektive des Sozialismus würde sich prinzipiell neu stellen.«
Damit waren die sozialen Ängste jener Teile der DDR-Bevölkerung, die sich vom Projekt des Sozialismus und seiner Reform bereits abgewandt hatten, deutlich angesprochen. Ihre Schlussfolgerung aus dem immer offensichtlicheren Scheitern der Perestroika war: Keine Experimente – die Reform des Sozialismus ist noch schlimmer als der reale Sozialismus selbst. Wenn sich die Möglichkeit einer Alternative zeigen sollte, dann musste unter allen Umständen verhindert werden, dass die DDR in den Sog der Verelendung des Ostens hineingerät. Es schien daher naheliegend, bei sich bietender Gelegenheit vom »großen Bruder« Sowjetunion zu den wirtschaftlich potenten »Brüdern und Schwestern« der gemeinsamen nationalen Abkunft zu wechseln.
Gorbatschow hatte 1989/1990 keine andere »Schuld« auf sich geladen. Gleichwohl war es sein »Verdienst«, die Polen, die Ungarn und die Deutschen über ihr Schicksal selbst entscheiden zu lassen. »Wir haben nicht nur darauf verzichtet, das in der DDR stationierte Militär einzusetzen, wir haben alles getan, damit dieser Prozess friedlich verläuft«, sagte er später. »Was hätten wir auch dagegen tun sollen, wenn das Volk der DDR sich mit der BRD vereinen wollte?«
In einem seiner wohl letzten Texte, betonte er: »Keine Herausforderung oder Bedrohung, der die Menschheit im einundzwanzigsten Jahrhundert gegenübersteht, kann militärisch gelöst werden. Kein großes Problem kann von einem Land oder einer Gruppe von Ländern im Alleingang gelöst werden. Als wir den Kalten Krieg beendeten, formulierte die Weltgemeinschaft eine Reihe konkreter Aufgaben, die von der neuen Generation politischer Führer angegangen werden sollten. Dazu gehören die Abschaffung der Atomwaffen, die Überwindung der Massenarmut in den Entwicklungsländern, die Schaffung gleicher Chancen für alle in den Bereichen Bildung und Gesundheitsversorgung und eine Kehrtwendung bei der Zerstörung der Umwelt. Die Vereinten Nationen mussten jedoch feststellen, dass die Fortschritte bei diesen Aufgaben unzureichend sind. Dies ist keine Anklage gegen die heutige Führungsgeneration, sondern ein Aufruf zu dringendem Handeln. Sie muss ihr politisches Denken ernsthaft überdenken und die Erfahrungen ihrer Vorgänger berücksichtigen, die mit noch gefährlicheren Herausforderungen konfrontiert waren.«
Der Krieg Russlands in der Ukraine lässt die Bewältigung der von ihm betonten Herausforderungen in immer weitere Ferne rücken und stellt grundsätzliche Fragen über die Zukunft der europäischen und globalen Sicherheitsordnung. Um nach dem Krieg den Weg hin zu einer gerechten Weltgemeinschaft einzuschlagen, wird großer Mut zu einem neuen »Neuen Denken« vonnöten sein.
Erhard Crome ist geschäftsführender Direktor des WeltTrends Institut für internationale Politik und Mitglied der Redaktion der »Zeitschrift Berliner Debatte«.