01. Mai 2020
Grace Blakeley ist Ökonomin und kommentiert das politische Tagesgeschehen in Großbritannien. Wir sprechen mit ihr über Margaret Thatchers eisernen Willen, die neue klimafreundliche Rhetorik von Blackrock und darüber, wie wir die Welt vor der Finanzialisierung retten können.
Die 26-jährige Ökonomin bezeichnet sich selbst als demokratische Sozialistin
In Deinem Buch Stolen erklärst Du, was Finanzialisierung eigentlich bedeutet. Was gab es dazu mehr als ein Jahrzehnt nach dem Crash noch Neues zu sagen?
Die öffentliche Debatte war vor allem von der Vorstellung beherrscht, dass es sich bei der Finanzkrise um ein völlig abwegiges Ereignis gehandelt habe, zu dem es gekommen sei, weil ein paar Leute da oben zu gierig gewesen wären und die Regulierungsbehörden ihre Arbeit nicht richtig gemacht hätten. Sie wurde beinahe so dargestellt, als sei sie dem Kapitalismus völlig äußerlich, als sei sie eine Perversion dessen, wie er eigentlich funktionieren sollte. Und man fragte sich, wie das System repariert werden könnte, um sowas in Zukunft zu verhindern. Auf der anderen Seite wurden Finanzialisierung und Finanzkrise von marxistischen und postkeynesianischen Theorien immer als Wesenszüge des Kapitalismus verstanden. Daran knüpfe ich in meinem Buch an, indem ich zeige, wie diese inneren Dynamiken ab den 1980ern unter anderem in Großbritannien und den USA zum Aufstieg eines neuen Wirtschaftsmodells geführt haben, das ich als finanzgetriebenes Wachstum bezeichne.
Doch Finanzialisierung bedeutet weit mehr als nur ein Wachstum der großen Banken und internationalen Finanzmärkte. Vor allem geht es darum, dass die Logik des Finanzwesens immer größeren Einfluss auf alle Arten wirtschaftlicher Aktivität ausübt. Dadurch gewinnt das Management von Geld, Vermögenswerten und Schulden in allen Bereichen der Wirtschaft – von den Konsumausgaben von Einzelpersonen über die Investitionen von Unternehmen bis hin zu den Staatsausgaben – immer mehr an Bedeutung.
Der Kapitalismus ist immer schon auf solche Perioden der Überakkumulation zugesteuert, in denen zu viel Geld an der Spitze der Gesellschaft festsitzt. Die Erzeugung riesiger Schuldenmengen war ein Versuch, mit dieser Situation fertig zu werden – im Endeffekt war es aber genau das, was die Krise verursacht hat.
In Zahlen betrachtet scheint die deutsche Wirtschaft im Vergleich zu Großbritannien oder den USA weniger finanzialisiert zu sein. Ist die Finanzialisierung hier bloß noch nicht so weit fortgeschritten oder spielt Deutschland für das globale Finanzsystem einfach eine ganz andere Rolle?
Die Finanzialisierung lässt sich überhaupt nur aus einer globalen Perspektive verstehen. Denn für jede stark finanzialisierte Wirtschaft gibt es ein schwächer finanzialisiertes Gegenstück. Finanzialisierung bedeutet ja nicht, dass sich alle nur noch mit Finanzen beschäftigen. Dass sich etwa die britische Wirtschaft auf das Finanzwesen konzentrieren kann, setzt voraus, dass ein Unternehmen, auf dessen Marktwert spekuliert wird, auch tatsächlich irgendetwas herstellt. Dieses Unternehmen produziert wahrscheinlich in China, hat seinen Hauptsitz aber womöglich in London, wo es von den Standortvorteilen der City of London profitieren kann. Finanzialisierung und Globalisierung – das, was Lenin als Imperialismus bezeichnet hat – sind also zwei Seiten derselben Medaille. Deutschland produziert zum Beispiel jede Menge Waren – in erster Linie solche, die dann anderswo auf der Welt in der industriellen Fertigung zum Einsatz kommen. Es exportiert also viel und hat deshalb diesen riesigen Leistungsbilanzüberschuss, der noch von Niedriglöhnen und den Dynamiken des Euro untermauert wird. Und diese großen Gewinne und Einlagen werden zum Beispiel in den spanischen Wohnungsmarkt, griechische Staatsanleihen oder britische Banken investiert. Mit anderen Worten: das in Deutschland generierte, überschüssige Kapital liefert den Treibstoff für die Finanzialisierung, die in anderen Volkswirtschaften stattfindet.
Du schreibst auch, dass wir ein linkes Narrativ entwickeln müssen. Welche Eckpfeiler müsste eine solche Erzählung haben, um die Plattform eines demokratischen Sozialismus tragen zu können?
Was die übergreifende Erzählung angeht, so müssen wir uns meines Erachtens auf die Grundlagen marxistischer Analyse besinnen, diese dann aber leicht verständlich rüberbringen. Zuallerst müssen wir vermitteln, dass es in kapitalistischen Gesellschaften auf der einen Seite Menschen gibt, die von ihrer Arbeit leben, und auf der anderen Seite Menschen, die von ihrem Reichtum leben. Das ist nichts anderes als das, was Marx Arbeit und Kapital genannt hat. Und die Profite, die von den Menschen erwirtschaftet werden, denen das Kapital gehört, kommen dadurch zustande, dass den Arbeiterinnen und Arbeitern weniger gezahlt wird, als ihre Arbeitsprodukte wert sind – also weniger, als sie verdienen.
Und von da aus können wir über alle möglichen Probleme sprechen, die sich daraus ergeben, dass eine kleine Gruppe von Menschen den gesamten Reichtum vereinnahmt. Ein Beispiel wäre etwa, dass diese Menschen dazu neigen, sich politische Macht anzueignen und die Regeln so zu verbiegen, dass sie ihre Steuern nicht zahlen müssen und so weiter. Oder aber auch, dass arbeitende Menschen nicht genug Geld verdienen, um das zu konsumieren, was sie produzieren, was wiederum wirtschaftliche Krisen zur Folge hat. Alle möglichen Probleme, mit denen wir uns heute herumschlagen, sind auf das Machtungleichgewicht zwischen diesen beiden Klassen zurückzuführen. Darum müssen wir als Arbeiterinnen und Arbeiter zusammenkommen und eine andere Art von Wirtschaft fordern, in der wir das Sagen haben. Und wir müssen uns überlegen, wie wir genügend Macht aufbauen können, um sicherzustellen, dass der Staat die Regeln in Zukunft in unserem Interesse macht und nicht im Interesse des Kapitals.
»Wir müssen uns überlegen, wie wir genügend Macht aufbauen können, um sicherzustellen, dass der Staat die Regeln in Zukunft in unserem Interesse macht und nicht im Interesse des Kapitals.«
Für viele Linke mag es selbstverständlich erscheinen, dass jeder bedeutende politische und soziale Wandel zur Bedingung hat, dass die einfachen Leute Macht und Reichtum von dieser kleine Elite zurückerobern. In Wirklichkeit aber ist der linksliberale Diskurs meilenweit von dieser Einsicht entfernt. Da wird im Grunde nur gesagt, dass die Dinge besser laufen sollten, einfach weil es unmoralisch ist, dass sie im Moment nicht so gut laufen – ohne jedes Verständnis von Interessengegensätzen und ohne jegliche Vorstellung, wie Veränderung tatsächlich herbeigeführt werden könnte.
Eine Deiner Parolen lautet, dass wir uns mit den Banken anlegen müssen, so wie sich Margaret Thatcher mit den Gewerkschaften angelegt hat. Was genau sollten wir uns da bei ihr abschauen?
Was ich an Thatcher interessant finde, ist, wie sehr sie sich der Klassendynamiken in der britischen Gesellschaft bewusst war und wie genau sie es verstand, sie auszunutzen, um ihrer eigenen Klasse – also denen, die von ihrem Reichtum leben – mehr Macht zu verschaffen. Sie wusste, dass sie die alte Wirtschaftsweise mitsamt des ihr zugrundeliegenden Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen umstürzen musste, um eine neue Art des Wirtschaftens zu etablieren. Noch bevor sie überhaupt an die Macht kam, hatte sie bereits einen Plan ausgearbeitet, wie sie es mit der britischen Arbeiterbewegung aufnehmen würde. Er wurde Ridley-Plan genannt und besagte im Wesentlichen, dass sie die stärksten Gewerkschaften als erste angehen und niemals einen Rückzieher machen würde, dass sie die Polizei stärken würde und so weiter. Und diesen Plan hat sie dann ganz rigide durchgesetzt.
Genauso sollten auch wir einen Plan haben, wie wir die Interessen des Kapitals konfrontieren können, wenn einmal eine sozialistische Regierung an die Macht kommt. Wir machen oft den Fehler, die Willenskraft zu unterschätzen, mit der unsere Feinde an ihren Privilegien festhalten werden. In Wirklichkeit sind die Rechten nämlich sehr gut darin, kapitalistische Gesellschaften als Klassengesellschaften zu verstehen, und sie haben sich als sehr fähig erwiesen, ihre Macht – und insbesondere die Staatsmacht – im Klassenkampf gegen die arbeitende Bevölkerung einzusetzen.
Die Linke hingegen schreckt häufig davor zurück, aktiv die Interessen des Finanzwesens zu konfrontieren, jene Wirtschaftsbereiche zu verstaatlichen, die unter einer sozialistischen Regierung verstaatlicht gehören, die Vermögenden stärker zu besteuern oder das politische System so zu reformieren, dass es nicht mehr von einer kleinen Elite beherrscht werden kann.
Als Thatcher an die Macht kam, gab es natürlich auch Stimmen aus ihrer eigenen Partei, die ihr sagten: Du gehst zu weit, Du bist zu hart, das geht zu schnell. Aber sie sagte: Nein, genau das ist es, was wir zu tun haben und wir haben nicht ewig dafür Zeit. Von diesem eisernen Willen sollten wir uns eine Scheibe abschneiden. Inhaltlich müssen unsere Pläne denen von Thatcher natürlich grundsätzlich entgegenstehen. Die Vorschläge in meinem Buch zielen alle darauf ab, dem Kapital Macht zu entziehen und zugleich Arbeiterinnen und Arbeiter zu stärken. Als erstes müsste die Kapitalmobilität eingeschränkt werden – damit würde verhindert, dass Geld ganz nach Belieben in Großbritannien ein- und ausgehen kann. Gleichzeitig müssen wir öffentliche und demokratisch geführte Finanzinstitute aufbauen. Über öffentliches Retail Banking könnte ein großer Teil der Privatschulden erlassen werden, die inzwischen ein unerträgliches Ausmaß angenommen haben.
Und dann wäre da noch die Idee einer Vermögensverwaltung des Volkes, die im Wesentlichen wie ein großer privater Vermögensverwalter vom Typ Blackrock agieren, also Anteile großer Unternehmen aufkaufen würde – aber anstatt ihnen zu sagen, dass sie die Löhne senken sollen, würde sie die Macht der Investition verwenden, um die Unternehmen dazu zu bringen, die Löhne zu erhöhen und Umweltstandards einzuhalten.
Die meisten Deiner Vorschläge erfordern eine starke linke Regierung. Nach den verlorenen Unterhauswahlen und dem Rücktritt von Jeremy Corbyn ist dieses Ziel in weite Ferne gerückt. Welche Formen kann der Kampf gegen die Finanzialisierung unter diesen Bedingungen annehmen?
In diesem Sinne war das Buch genau auf der Höhe seiner Zeit. Es war der Versuch, ein Programm für den Fall der Wahl einer linken Regierung zu entwickeln. Nach dem guten Wahlergebnis von 2017 glaubten wir alle – vielleicht etwas naiv –, dass es dieses Mal klappen könnte. Das war eine durchaus ungewöhnliche Situation für die britische Linke, die lange Zeit von der Labour Party ausgeschlossen war und deshalb abseits der parlamentarischen Politik agieren musste.
Ich bin froh, dass es eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der Labour Party gegeben hat und jetzt mehr Sozialistinnen und Sozialisten dabei sind. Aber ich war nie der Meinung, dass Parteipolitik allein schon ausreichen würde. Ohne eine stabile Bewegung werden wir weder unsere Ziele erreichen noch unsere Errungenschaften verteidigen können. Darum sollte der Fokus der britischen Linken für die nächsten fünf Jahre auf dem Wiederaufbau der Arbeiterbewegung liegen, die durch den Thatcherismus dezimiert wurde.
»Jetzt muss es darum gehen, dass eine Regierung an die Macht kommt, die diesen Plan in seiner Radikalität auch tatsächlich umsetzen kann.«
Dazu gehört aber auch die Weiterentwicklung all jener Strukturen, die in der Zeit von Corbyn aus der Labour Party hervorgegangen sind. Mit »The World Transformed« gibt es jetzt jedes Jahr eine große Konferenz, die von der Linken dominiert wird, und dazu eine Vielzahl lokaler Veranstaltungen, die das ganze Jahr über im ganzen Land stattfinden, Menschen über politische Bildung zusammenbringen und so sicherstellen, dass die Bewegung immer weiter wächst. Außerdem gibt es jetzt ein Community-Organizing-Netzwerk innerhalb der Labour Party. Es funktioniert derzeit nicht so gut wie es sollte, aber es könnte einen Ausgangspunkt dafür darstellen, dass Labour Gemeinden im Kampf gegen Gentrifizierung unterstützt. Wir müssen uns also als Partei in die Kämpfe einmischen, die in den Gemeinden stattfinden. Aber zugleich müssen wir auch sicherstellen, dass die Linke innerhalb der Partei tonangebend bleibt.
Bekanntermaßen müssen wir die Welt nicht nur vor der Finanzialisierung, sondern auch noch vor dem Klimawandel retten. Vor einiger Zeit machte der Blackrock-Chef Larry Fink Schlagzeilen, indem er sich für klimaverantwortliches Wirtschaften aussprach und bemerkte, »dass wir vor einer fundamentalen Umgestaltung der Finanzwelt stehen.« Wie verhält sich diese Umgestaltung zu der, die Du im Auge hast? Und was ist von solchen Kommentaren zu halten, wenn sie aus der Führungsetage der Finanzwelt kommen?
Solche Kommentare zeigen, dass dies ein kritischer Augenblick für den globalen Kapitalismus ist. Den aufgeklärtesten Fraktionen des Kapitals wird langsam bewusst, dass ihre Macht von wachsenden sozialistischen Bewegungen bedroht werden könnte, wenn sie nicht selbst etwas gegen Klimawandel und soziale Ungleichheit unternehmen. Das ändert jedoch nichts daran, dass jedes Unternehmen zum alleinigen Ziel hat, seine Profite zu maximieren.
Selbst wenn man alle Kapitalistinnen und Kapitalisten in einen Raum bekäme und sie vereinbaren würden, weniger fossile Brennstoffe zu verbrauchen und höhere Löhne zu zahlen, würde sich irgendwo dennoch eine Person finden, die versuchen wird, einen Wettbewerbsvorteil herauszuschlagen und etwas zusätzlichen Profit zu machen, indem sie genau jene Dinge tut, von denen die anderen sich losgesagt haben. Ganz gleich, wie sehr man das Kapital reguliert, wie sehr man es besteuert und wie sehr Larry Fink seine Investitionsstrategien verändert – solange wir im Kapitalismus leben, wird das oberste Gebot immer lauten, so viel Geld wie möglich zu machen. Und so viel Geld wie möglich zu machen bedeutet heute nunmal, massenhaft fossile Brennstoffe zu verfeuern und die Löhne zu drücken. Wenn wir höhere Löhne und eine intakte Umwelt haben wollen, müssen wir das schon selbst anpacken. Früher dachte man, es gäbe auf der einen Seite Umweltschutz und auf der anderen Seite Klassenkampf. Heute lässt sich an den Debatten in der Labour Party oder in den USA ablesen, dass Umweltschutz und Sozialismus zunehmend ineinandergreifen. Immer mehr Menschen erkennen, dass wir unsere Wirtschaftsweise verändern müssen, um den Klimawandel aufzuhalten. Und der Green New Deal ist ein enorm wirkungsvoller Schlachtruf, hinter dem sich diese Menschen versammeln können. Jetzt muss es darum gehen, dass eine Regierung an die Macht kommt, die diesen Plan in seiner Radikalität auch tatsächlich umsetzen kann.
Das Buch Stolen erscheint 2020 in deutscher Übersetzung im Brumaire Verlag.
Grace Blakeley ist Redakteurin bei Tribune, Host des Podcasts A World to Win und Autorin des Buches Stolen: So retten wir die Welt vor dem Finanzkapitalismus.