01. Februar 2021
Der Kapitalismus krankt an seinen eigenen Widersprüchen und stolpert von Krise zu Krise. Seine Überlebensstrategie: die Finanzialisierung von so gut wie allem.
Trader an der New Yorker Börse.
Philosophen wie Ökonomen haben den parasitären Einfluss des Finanzwesens auf die produktive ökonomische Aktivität angeprangert. Platon beginnt seine Politeia mit einem Dialog, der die Vorstellung herausfordert, dass man seine Schulden stets zurückzahlen müsse. Adam Smith sprach sich dafür aus, die überkommenen Privilegien der Grundbesitzer anzugreifen, und Keynes forderte die »Euthanasie des Rentiers«. Dieses Narrativ erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit. Tatsächlich gehen viele moderne Ökonomen davon aus, dass wir in eine Ära des »Rentenkapitalismus« eintreten, in der Finanzkapitalisten auf Kosten guter, produktiver Industrieller kassieren.
Und damit haben sie nicht ganz Unrecht. Es häufen sich die Belege, dass ein immer größerer Anteil der Wirtschaftsleistung auf jene entfällt, die ihr Geld mit unproduktiven ökonomischen Renten verdienen – also damit, dass sie Produktionsfaktoren monopolisieren und über Marktwert verkaufen. Der Anteil der Rentiers am Gesamteinkommen stieg zwischen 1970 und 2000 von 4 Prozent auf 14 Prozent. Die Finanzprofite wuchsen in demselben Zeitraum in ähnlichem Umfang. Diese Trends hängen zusammen – denn ein großer Teil des modernen Finanzwesens ist letztlich nicht viel mehr als solcher Rentismus.
Doch jede Analyse der Finanzialisierung als »Perversion« einer reineren, produktiveren Form des Kapitalismus verfehlt den wesentlichen Zusammenhang. Was die Weltwirtschaft in den letzten Jahren hervorgebracht hat, ist ein neues Modell des Kapitalismus, das sehr viel integrierter ist als solche einfachen Dichotomien nahe legen. Um den Finanzkapitalismus zu überwinden, müssen wir ihn aber zunächst einmal verstehen.
Die Finanzialisierung – »die zunehmende Bedeutung der Finanzmärkte, Finanzmotive, Finanzinstitute und Finanzeliten für das Funktionieren der Wirtschaft« – ist ein Prozess, der in den 1980er Jahren mit der Beseitigung von Hindernissen für die Kapitalmobilität begann. Die globalen Kapitalströme nahmen von rund 5 Prozent des Welt-Bruttoinlandsprodukts Mitte der 90er Jahre auf rund 20 Prozent im Jahr 2007 zu – etwa dreimal so schnell wie die Welthandelsströme.
Die Erleichterung der Kapitalmobilität beförderte die Entstehung extremer Ungleichgewichte zwischen Gläubigerländern mit großen Leistungsbilanzüberschüssen und Schuldnern mit großen Leistungsbilanzdefiziten. Der Lehrbuch-Ökonomie zufolge müsste sich diese Schieflage von selbst wieder ausgleichen: Weist ein Land ein Defizit auf, so fließt Währung aus ihm heraus. Wenn diese nicht in Form von Kapitalzuflüssen zurückkehrt, führt das steigende Angebot zu einer Entwertung der Währung. In der Folge werden die eigenen Exporte für internationale Abnehmer verbilligt, was wiederum in einer Erhöhung der Nachfrage nach Exporten resultiert. Auf den Maßstab der Weltökonomie angewandt müsste dieser Mechanismus das Gleichgewicht wiederherstellen.
Im Vorfeld der Finanzkrise zeigten sich einige Ökonomen darüber verwundert, dass sich dieses Gleichgewicht nicht einstellen wollte. Die Defizitländer hätten angesichts ihrer Leistungsbilanzdefizite bedeutende Währungsabwertungen erfahren müssen. Und diese Abwertung hätte im Gegenzug die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Waren erhöhen sollen. Ben Bernake, damals Präsident der US-Notenbank, warf einer Reihe von Schwellenländern vor, diese würden ihre Ersparnisse »horten«, um sich für zukünftige Krisen abzusichern. Dadurch würden sie verhindern, dass die Weltwirtschaft wieder ihr natürliches Gleichgewicht erreiche.
In Wirklichkeit konnten die Defizitländer die Stärke ihrer Währungen trotz geringer Nachfrage nach ihren Waren deshalb aufrechterhalten, weil es zugleich eine große Nachfrage nach ihren Vermögenswerten gab – und zwar insbesondere nach ihren finanziellen Vermögenswerten. Der Hauptgrund für die große Nachfrage nach britischen und US-amerikanischen Vermögenswerten war die in den 1980er Jahren von neoliberalen Regierungen in diesen Staaten vorgenommene Deregulierung des Finanzwesens, die eine dramatische Ausweitung der Vergabe privater Kredite an Einzelpersonen, Unternehmen und Finanzinstitute ermöglichte.
In Großbritannien erreichte die – hauptsächlich aus Hypothekenkrediten zusammengesetzte – Verbraucherverschuldung im Jahr 2008 einen Stand von 148 Prozent aller verfügbaren Haushaltseinkommen und damit den höchsten Wert aller Zeiten. Während der Umfang der Kredite britischer Banken an die nichtfinanzielle Wirtschaft zwischen 2005 und 2008 um 50 Prozent wuchs, erhöhte sich ihre Kreditvergabe an andere Finanzinstitute um 260 Prozent. Aus der ganzen Welt floss Kapital in die britischen und US-amerikanischen Banken, die mit ihren Krediten bedeutende Renditen erzielten.
Diese Hochkonjunktur der Kreditvergaben erhöhte die Geldmenge, die im Umlauf war, dramatisch. Und dieses ganze neue Geld führte zu einem starken Preisanstieg der Vermögenswerte. Im vierten Quartal 2017 waren die Hauspreise in Großbritannien fast zehnmal so hoch wie im vierten Quartal 1979, während sich die Verbraucherpreise im gleichen Zeitraum lediglich verfünffachten. Der britische Aktienindex FTSE stieg von unter 100 Punkten vor 1980 auf fast 3.500 im Jahr 2007. Auch wurden in dieser Zeit neue Finanzprodukte geschaffen: die hypothekenbesicherten Wertpapiere (»Mortgage-Backed Securities«, kurz MBSs) und »Collateralized Debt Obligations« (CDOs) also besicherte Schuldtitel. Wer den Film The Big Short gesehen hat, dem dürfte das bekannt vorkommen. Die steigenden Preise für Vermögenswerte zogen noch mehr internationales Kapital an, was eine sich selbst intensivierende Dynamik erzeugte, die viele daran glauben ließ, dass die Party ewig weitergehen würde.
Doch letztendlich erwies sich dieses Modell, wie auch jedes andere Modell, das auf kontinuierlicher Ausweitung des Privatkredits beruht, als langfristig unhaltbar. Die Kombination aus Kapitalmobilität und Deregulierung der Finanzmärkte führte zur Entstehung einer riesigen Spekulationsblase, die schließlich platzte und zur Krise von 2007/8 führte.
Die Mainstream-Ökonomen haben den Crash nicht kommen sehen. Anstatt einen Blick in die Geschichte zu werfen und zu erkennen, dass in der Finanzwirtschaft auf die Ruhe stets der Sturm folgt, sahen sie die boomenden Vermögenspreise als Bestätigung ihres Wirtschaftsmanagements. Einige gingen sogar so weit, das Ende von »boom and bust«, also des unausweichlichen Zyklus von Hochkonjunktur und Rezession, zu verkünden. Finanzkrisen wie die von 2008 passten einfach nicht zu ihren theoretischen Modellen.
Andere Ökonomen sahen die Krise aber durchaus kommen. Nouriel Roubini wurde schon spöttisch »Dr. Doom« genannt, als die Krise von 2008 dann endlich einsetzte. Ann Pettifors Buch The Coming First World Debt Crisis wurde von Ökonomen weitgehend ignoriert. Und Steve Keen wurde dafür verlacht, dass er in seinen Vorlesungen von der »globalen Schuldenblase« sprach. Alle diese Ökonomen hatten eines gemeinsam: Sie hatten Hyman Minsky gelesen.
Nach Minskys »Two-Price Theory« gelten für Vermögenspreise andere Regeln als für die Preise von Waren und Dienstleistungen. Im Wesentlichen geht es dabei darum, dass Investoren in Zeiten des Aufschwungs aufgrund ihrer jüngsten Erfahrung hoher und noch steigender Renditen übermäßigen Optimismus entwickeln, sodass sie Kredite aufnehmen, um mehr in Vermögenswerte zu investieren, deren Preise steigen. Zunehmende Investitionen erhöhen die Preise dieser Vermögenswerte noch weiter und erzeugen so den Teufelskreis einer von Optimismus getriebenen Vermögenspreisinflation.
Da ihr Optimismus nach einigen Zyklen hoher Renditen immer mehr zunimmt, nehmen die Investoren immer weitere Kredite auf, um in immer risikoreichere Projekte zu investieren – in der Erwartung, dass ihre Renditen weiter steigen werden. Schließlich tritt der Finanzkreislauf in eine Phase der »Ponzi-Finanzierung« ein, in der sich Investoren allein aufgrund der spekulationsgetriebenen Preissteigerungen der jüngsten Vergangenheit auf die Vermögenswerte stürzen. Das führt zu noch weiterer Vermögenspreisinflation, was eine positive Feedback-Schleife auslöst, durch die sich Blasen bilden, die schließlich platzen und so einen »Minsky-Moment« erzeugen.
Der Minsky-Moment kann zu einer längeren Periode der Schuldendeflation führen, in der die Vermögenspreise zu fallen beginnen und Panikverkäufe einsetzen, was eine Kettenreaktion im gesamten Finanzsystem auslöst. Dies führt zu einer Deflation – auch der Realwirtschaft –, was einen Rückgang der Profitabilität zur Folge hat, woraufhin noch mehr Vermögenswerte liquidiert werden, um die Schulden zu tilgen.
Ist das Vertrauen von Unternehmen und Verbrauchern erschüttert, so wirkt sich das in Form einer Schuldendeflationsspirale auf Beschäftigung, Produktion und finanzielle Stabilität aus, die ähnlich gravierend ausfällt wie der vorige Aufschwung des Finanzzyklus. Die unregulierte Kreditvergabe intensiviert diese Dynamik noch, indem sie den Aufschwung verlängert und den Abschwung verschärft. In diesem Sinne hätte die verlängerte Phase finanzieller Stabilität vor 2008 von den Ökonomen als Warnsignal verstanden werden sollen und nicht als ein Grund zur Zufriedenheit.
Die Defizitländer erlebten ihren Minsky-Moment 2008, als die Kreditvergabe zurückging, die Hauspreise fielen und Finanzanlagen wie hypothekenbesicherte Wertpapiere (MBSs) und Kreditausfalltausche (»Credit Default Swaps«, CDSs) effektiv wertlos wurden. Es folgte eine Massenpanik, als die Banken plötzlich feststellten, dass viele der in ihren Bilanzen gelisteten Vermögenswerte gar keine wirklichen Vermögenswerte waren. Das trieb einige der weltweit größten Banken in die Insolvenz – eine Situation, aus der sie jedoch schnell wieder durch verängstigte Regierungen erlöst wurden.
Aber die Rettung der Banken konnte die Wirtschaft nicht retten. In Großbritannien befinden wir uns heute in der längsten Phase der Lohnstagnation seit den 1860er Jahren. 2017 übertrafen die Haushaltsausgaben erstmals seit 1988 wieder die Haushaltseinnahmen. Die Produktivität ist nach 2008 ins Stocken geraten – zehn Jahre später produzierte Großbritannien 13 Prozent weniger Output pro Arbeitsstunde als der G7-Durchschnitt. Alles in allem ist der Erholungsprozess nach 2008 der langsamste seit dem Zweiten Weltkrieg.
Anstatt sich mit den grundlegenden Problemen zu befassen, die zu der Krise geführt haben, versuchten die politischen Entscheidungsträger, eine Rückkehr in die Zeit vor der Krise zu bewerkstelligen. Die Bank of England, die Federal Reserve und die Europäische Zentralbank EZB pumpten gewaltige Summen in das Finanzsystem, indem sie neues Geld zum Kauf von Staatsanleihen druckten. Dadurch traten sie eine neue Runde der Vermögenspreisinflation los, wodurch sich die Gewinne der Banken schnell wieder erholten. Aber so sehr es sich die Zentralbanken auch wünschen mögen – es gibt kein Zurück in die Zeit vor 2008.
Seitdem sind die transnationalen Kapitalströme um 65 Prozent zurückgegangen. Viele glauben, dass die Globalisierung heute infolge des Zusammenbruchs ihres finanziellen Sektors »im Rückzug« begriffen ist. Britische Unternehmen sind inzwischen eher Netto-Sparer als Kreditnehmer. Investitionsströme zwischen Banken sind zurückgegangen, weil diese risikoscheuer geworden sind. Noch immer verbriefen wir einen Großteil dieser Schulden – allerdings basieren CDOs und ABSs (»Asset-Backed Securities«, also allgemein mit Vermögenswerten besicherte Wertpapiere) heute viel häufiger auf Auto- und Studienkrediten, die von weitaus geringerem Umfang sind als die Hypothekenschulden.
Der Schuldenboom der Jahre vor 2008 ist offensichtlich vorbei – zumindest in Großbritannien und den USA. Doch der Schuldenüberhang ist geblieben. Wir treten in eine Periode des Zombie-Kapitalismus ein, in der nicht genug neue Schulden aufgenommen werden können, um das Wachstum voranzutreiben, es jedoch nicht genügend produktive wirtschaftliche Aktivität gibt, um die alten Schulden zu tilgen. In dieser Situation kann nur eine längere Phase extrem niedriger Zinsen die Wirtschaft in Schwung halten.
Eine der gängigsten Erzählungen über die zunehmende Finanzialisierung betrachtet diese Entwicklung als Ergebnis eines Triumphs des Finanzkapitals über das industrielle Kapital. Dieser Erzählung zufolge erlebte das industrielle Kapital im Globalen Norden in den 1970er Jahren einen Rückgang ihrer Profite im Kontext steigender Rohstoffkosten und zunehmender Konkurrenz aus dem Globalen Süden. Dem geschwächten industriellen Kapital waren viele traditionelle Wege der Akkumulation verschlossen – und Finanzspekulationen erwiesen sich als die profitabelste Alternative.
Wie Costas Lapavitsas dargelegt hat, übersieht diese Erzählung, wie eng das Finanzkapital und das industrielle Kapital miteinander verwoben sind. Das Finanzwesen sollte nicht »als ein Oberflächenphänomen verstanden werden, das auf den ›realen‹ ökonomischen Aktivitäten von Produktion und Austausch aufliegt«, sondern als ein für die Gewährleistung kapitalistischer Akkumulation wesentliches System. Die Finanzialisierung stellt keine Perversion eines ansonsten gut funktionierenden Kapitalismus dar, sondern sie ist die Anpassung der Kapitalistenklasse an die sich zuspitzenden Widersprüche, die in der kapitalistischen Wirtschaftsweise angelegt sind.
Was wir heute beobachten können, ist nicht ein »Aufstieg der Rentiers«. Vielmehr sind alle Kapitalisten – seien sie nun industrielle oder nicht – zu Rentiers geworden.
Die Ideologie der Maximierung der Aktienwerte ist eine zeitgemäße Manifestation dieses Phänomens. Seit den 1980er Jahren hat sich der Aktienbesitz zunehmend in den Händen von Finanzintermediären wie Hedgefonds und Pensionsfonds konzentriert. Im Zuge der Intensivierung dieses Prozesses wurden Anreize für Führungskräfte in den Unternehmen geschaffen, ihr Geld direkt an die Aktionäre auszuschütten, anstatt Investitionen zu tätigen, um die Profitabilität des Unternehmens langfristig zu steigern.
Tatsächlich engagieren sich nicht-finanzielle Unternehmen zunehmend selbst im Finanzbereich, um möglichst hohe Renditen zu erzielen. Die Tatsache, dass dieses Modell nicht auf Dauer aufrechtzuerhalten ist, da es auf steigender Verschuldung basiert und Gewinnausschüttungen gegenüber produktiven Investitionen in die Zukunft bevorzugt, ist für sie nebensächlich. Produktion war für kapitalistische Unternehmen nie der maßgebliche Antrieb – das war immer der Profit. Und die Finanzialisierung nichtfinanzieller Unternehmen bot eine hervorragende Möglichkeit, den Profit zu maximieren.
Auch bestimmte Haushalte konnten Vorteile aus der Finanzialisierung der Wirtschaft ziehen. In weiten Teilen des Globalen Nordens bildete die Globalisierung einen geeigneten Vorwand, die Löhne zu senken. Das dadurch erzeugte Problem der Überakkumulation – das dann vorliegt, wenn die Arbeiter nicht ausreichend bezahlt werden, um das zu kaufen, was die Kapitalisten herstellen – wurde durch die Vermehrung von Schulden gelöst. Die dramatische Zunahme der Konsumentenkredite zwischen 1979 und 2007 verbesserte das subjektive Wohlstandsempfinden der Menschen und ermöglichte es ihnen, Luxusgüter wie Autos, iPhones und Laptops zu kaufen, die von überausgebeuteten Arbeitskräften im Globalen Süden produziert wurden.
Ein Teil dieser Kredite wurde zum Kauf von Vermögenswerten wie Immobilien verwendet, die weiter an Wert zulegten, je mehr Menschen sie erwerben konnten. So konnten weite Teile der Gesellschaft und eine Mehrheit der Wählerschaft über Kapitalzuwächse materielle Vorteile aus dem neuen Wirtschaftsmodell ziehen.
Diese Klasse der »Minikapitalisten« hatte ein materielles Interesse an der Beibehaltung des Modells Schulden getriebener Vermögenspreisinflation. Die Privatisierung der Renten war eine weitere bedeutende Erweiterung dieses Modells. Gemeinsam gewährleisteten die »eigentumsbasierte Demokratie« und der »Pensionsfond-Kapitalismus« ein bis 2008 andauerndes Übereinkommen zwischen dem Finanzkapital und den Mittelklassen.
Auch die Regierung selbst wurde finanzialisiert. Im Rahmen der privaten Finanzierungsinitiativen (PFIs) des Vereinigten Königreichs in den 1990er Jahren musste die Regierung, wenn sie zum Beispiel etwas bauen wollte, den Auftrag an ein Privatunternehmen outsourcen, das zugleich das Kapital für die Finanzierung des Projekts aufbrachte, welches der Staat wiederum über Jahrzehnte hinweg zurückzahlen würde.
PFIs waren nur eine von vielen Möglichkeiten, öffentliche Gelder durch private zu ersetzen. Durch die zunehmende Privatisierung der Hochschulbildung, der Rentensysteme und Gesundheitsdienste, wurde die Verantwortung aus der öffentlichen Hand genommen und Individuen und Investoren überlassen. Austerität kann ebenfalls als eine Erweiterung dieses Modells angesehen werden.
Die Staaten haben das private Finanzierungsmodell genutzt, um ihre fiskalische Integrität zu demonstrieren. Regierungen halten das unter anderem auch deswegen für notwendig, weil sie darauf angewiesen sind, dass private Investoren sie für kreditwürdig halten. Die Nachfrage nach Staatsanleihen hängt wiederum umgekehrt proportional mit dem Ertrag zusammen: Je höher die Nachfrage, desto geringer die Zinszahlungen. Das gibt den Märkten enorme Macht, Staaten zu disziplinieren, die ihre Kreditwürdigkeit nicht ausreichend unter Beweis stellen.
Staaten, die es versäumen, neoliberale Politiken umzusetzen, können durch koordinierte Verkäufe ihrer Anleihen (sowie ihrer Währungen) bestraft werden, was internationalen Investoren die Macht gibt, die Politik demokratischer Staaten zu bestimmen. Dass es die Kreditwürdigkeit der Staaten langfristig reduziert, wenn man sie zur Umsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik zwingt, spielt für die Investoren dabei keine Rolle – die Zeithorizonte, mit denen der Finanzkapitalismus operiert, sind kürzer als in jeder anderen historischen Epoche.
Alle diese Prozesse der Finanzialisierung im Globalen Norden beruhen auf Überausbeutung im Globalen Süden. Angesichts steigender Rohstoffkosten und zunehmend militanter Arbeiter im Globalen Norden nutzten die Kapitalisten die sinkenden Transportkosten in den 1970er und 1980er Jahren, um die Produktion an Orte zu verlagern, die in geringerem Maße in die Weltwirtschaft integriert waren.
An manchen Orten, wie zum Beispiel in China, hat dieses Offshoring zur Entwicklung einer einheimischen Kapitalistenklasse und zu einer grundlegenden Veränderung der ökonomischen Verhältnisse geführt. An anderen Orten brachte dieser Prozess lediglich eine stärkere Ausbeutung durch Kapitalisten des Globalen Nordens mit sich. Gerade erst unabhängig gewordene Staaten im Globalen Süden hatten nicht die Kraft, die einheimische Industrie derart anzukurbeln, wie es der chinesische Staat getan hatte. Deshalb konzentrierten sich ausländische Direktinvestitionen auf multinationale Konzerne, die die Produkte dieser Länder extrahierten sowie ihre Arbeiterinnen und Arbeiter ausbeuteten, während sie die Gewinne in den Globalen Norden umverlagerten und einheimische Kapitalisten und Funktionäre dafür entlohnten, dass sie sich ihnen nicht in den Weg stellten.
Die auf internationaler Ebene zu beobachtenden Prozesse der Kapitalextraktion sind auch auf subnationaler Ebene innerhalb der finanzialisierten Volkswirtschaften zu finden. Kapitalzuflüsse haben es den Defizitländern ermöglicht, starke Währungen aufrechtzuerhalten, zugleich die Exportindustrien auszunehmen und immer mehr Macht und Vermögen im Finanzsektor zu bündeln, der selbst wiederum geographisch auf einen bestimmten Raum konzentriert ist.
Eine Wirtschaft, die in einem Bereich überhitzt und in einem anderen stagniert, ist das unvermeidliche Ergebnis dieses Prozesses asymmetrischer wirtschaftlicher Entwicklung. Riesige Finanzdepots sitzen auf den heimischen Volkswirtschaften auf, ohne sich groß darum zu scheren, was in den Nationalstaaten unter ihnen vor sich geht. Und die finanzialisierten Regierungen sind durchaus froh, das weiterhin zu gestatten: Londons imperiale Rolle in der Weltwirtschaft bildet nicht nur eine Quelle von Steuereinnahmen, sondern auch von Nationalstolz.
Wie Marx dargelegt hat, bedeutet jede neue Anpassung des Kapitalismus nur eine Vertagung des Problems. Der Crash von 2008 war eine strukturelle Krise des finanzkapitalistischen Modells. Und die Misere, in der die Weltwirtschaft und insbesondere die Volkswirtschaften des Globalen Nordens seither versunken sind, ist das Ergebnis des Versäumnisses, die Widersprüche des alten Modells effektiv zu übertünchen oder zu etwas Neuem überzugehen. Die glorreichen Tage der finanziellen Globalisierung sind jetzt vorüber.
Aber Momente der Krise sind immer auch Augenblicke der Chance. Die Aufrechterhaltung der spätkapitalistischen Wirtschaftsweise im Globalen Norden erfordert die kontinuierliche Ausweitung des Wohneigentums in Händen der Mittelklassen und eine ebenso anhaltende Inflation der Immobilienpreise. In der Welt nach dem Crash ist es nicht mehr möglich, sich auf eine kontinuierliche Ausweitung der Verschuldung zu verlassen – auch aufgrund von neuen Regulierungen im Bankwesen. Da die Vermögenspreisinflation ehemals für die politische Aufrechterhaltung des Neoliberalismus von zentraler Bedeutung war, steht das System nun vor folgendem Problem: Man kann keine Minikapitalisten erschaffen, ohne sie mit Kapital zu versorgen, das beständig im Wert steigt.
Und das beschränkt sich nicht aufs Wohnen – Widersprüche sind im Überfluss vorhanden. Die Haushalte sind so verschuldet, dass dauerhaft niedrige Zinsen erforderlich sind, um eine weitere Krise zu vermeiden – dauerhaft niedrige Zinsen führen aber nur zu noch höherer Verschuldung. Wenn die nächste Krise kommt, werden die Zentralbanken nicht mehr in der Lage sein, die Geldpolitik noch weiter zu lockern – und so wird die sich ergebende Erschütterung der Wirtschaft noch viel heftiger ausfallen.
Im Bewusstsein, dass das aktuelle Modell nicht dauerhaft aufrechtzuerhalten ist, unterlassen Unternehmen Investitionen und Lohnerhöhungen. Stattdessen nutzen sie die Gewinne, die sie infolge Schulden getriebener Ausgaben seitens der Verbraucher erzielt haben, um die Auszahlungen an ihre Aktionäre zu erhöhen und sich an Finanzgeschäften zu beteiligen – seien es Hedgefonds, Immobilieninvestitionen oder sogar, wie im Falle von Google und Amazon, der Aufkauf von Schulden anderer Unternehmen. Im Grunde agieren sie wie Banken. Dieses Versäumnis, in die Produktion zu investieren, wirkt wiederum als eine weitere Bremse auf das gegenwärtige und zukünftige Wirtschaftswachstum.
Die steigende Staatsverschuldung verstärkt diese Probleme noch. Traditionelle keynesianische Ökonomen würden argumentieren, dass es zur Überwindung dieses Schlamassels lediglich der Methoden der Fiskalpolitik zur Regelung der Nachfrage bedürfte, wodurch sich das Problem der Überakkumulation lösen würde. Doch die Staatsschulden haben sich während der Finanzkrise praktisch über Nacht verdoppelt – vor allem durch die Rettung der Banken. Es handelt sich dabei nicht um ein wirtschaftliches, sondern um ein politisches Problem.
Wenn immer größere Mengen öffentlicher Schulden an private Investoren verkauft werden, erhöht das die Abhängigkeit der Regierungen von ihren Gläubigern – die sie in der Folge zur Umsetzung ihrer bevorzugten Wirtschaftspolitiken zwingen können. Griechenland ist lediglich das extremste Beispiel für diesen Trend. Ein schlagartiger Ausverkauf britischer Staatsanleihen würde eine riesige Krise der Wirtschaft in Großbritannien auslösen – das ist die zugrundeliegende Logik der Austerität. Austerität jedoch erhöht die Schuldenlast nur noch mehr, indem sie das Wirtschaftswachstum schmälert und weite Teile der Bevölkerung in die Armut stürzt, was die Überakkumulationskrise wiederum verschärft.
Bleibt zu fragen: Kann uns die Linke einen Ausweg weisen? Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten haben wir die Möglichkeit, eine Koalition für den Sozialismus aufzubauen, die auf den materiellen Interessen nichtkapitalistischer Klassen im Globalen Norden basiert. Geringe Investitionen bedeuten Produktivitätsrückgang und Lohnstagnation – und beides trägt zum oben skizzierten Problem der Verbraucherverschuldung bei.
Unter unserem derzeitigen Wirtschaftsmodell wird es allen, die kein Kapital besitzen – also dem größten Teil der Bevölkerung – auf absehbare Zeit immer schlechter gehen. Und die meisten von uns wissen das. Selbst jene, die Kapital besitzen, sehen sich zunehmendem Druck ausgesetzt. Die Unfähigkeit des Systems, Vermögenszuwächse auf Grundlage Schulden basierter Kapitalerträge zu stabilisieren, ist 2008 schmerzlich klar geworden. Der Spätkapitalismus nach dem Platzen der Schuldenblase bedeutet fallende Lebensstandards, steigende Ungleichheit und in der Folge zunehmende politische Unruhe.
Die meisten Menschen wissen, dass etwas falsch läuft im Kapitalismus – aber nur wenige können sagen, was das ist. Unsere ökonomische Erzählung muss mehr besagen, als dass Austerität schlecht ist. Wir müssen zu einer breiteren Diagnose der strukturellen Bedingungen gelangen, die 2008 zum Zusammenbruch der Wirtschaft geführt haben und sie seither am Leben erhalten.
In den kommenden Jahren muss sich die Linke wieder auf die zentralen ökonomischen Fragen unserer Zeit konzentrieren und zeigen, dass das Leid, das die meisten Menschen seit 2007 erlitten haben, auf die Finanzialisierung unserer Wirtschaft zurückzuführen ist. Wir müssen zeigen, dass die letzten Regierungen zu sehr damit beschäftigt waren, die Interessen der Finanzwirtschaft zu schützen, und die Bedürfnisse der einfachen Leute darüber vernachlässigt haben. Und wir müssen eine politische Agenda aufstellen, die die Hegemonie des Finanzkapitals in Frage stellt, seine Privilegien aufhebt und die Macht über Investitionen wieder unter demokratische Kontrolle bringt. Wenn wir das tun, kann es uns vielleicht gelingen, den Kapitalismus zu überwinden.
Grace Blakeley ist Ökonomin, Journalistin und demokratische Sozialistin. Ihre Texte erschienen unter anderem bei »Tribune«, »Jacobin«, »The Guardian« und im »New Statesman«. Darüber hinaus betreibt sie den Podcast »A World to Win«. 2019 veröffentlichte sie ihr erstes Buch »Stolen: How to Save the World from Financialisation« (Repeater Books), 2020 folgte »The Corona Crash: How the Pandemic Will Change Capitalism« (Verso). »Stolen« erscheint 2021 auf Deutsch im Brumaire Verlag.
Grace Blakeley ist Redakteurin bei Tribune, Host des Podcasts A World to Win und Autorin des Buches Stolen: So retten wir die Welt vor dem Finanzkapitalismus.