15. September 2020
Ganz anders wirtschaften und leben, ein großer Wurf, andere Produktionsverhältnisse. Das klingt zu groß und irgendwie unrealistisch. Aber ohne die große Veränderung sieht es schlecht für unsere Zukunft aus. Und konkret gemacht, klingt ein Green New Deal auf einmal ganz plausibel. Nach einem guten Plan halt.
Die meisten Menschen fühlen sich der bevorstehenden Klimakatastrophe ebenso ausgeliefert wie den Wirtschaftskrisen, die mindestens einmal im Jahrzehnt über uns hereinbrechen. Die riesigen Eisberge, die wir im Fernsehen bersten und in den Ozean stürzen sehen, scheinen außerhalb unserer Kontrolle. Wie das Auf und Ab globaler Märkte, die von einem Monat auf den anderen bestimmen, dass wir auf der Arbeit nicht mehr gebraucht werden.
Doch wir können in einer Gesellschaft leben, in der wir unsere Lebensbedingungen im Griff haben – die ökologischen wie die ökonomischen. In der wir Krisen mit gemeinsamer Anstrengung begegnen und den Zusammenhalt in der Gesellschaft so organisieren, dass alle abgesichert sind.
Wir können staatliche Arbeitsplätze für jene schaffen, die anpacken wollen, um uns und den Planeten am Leben zu erhalten. Wir können sicherstellen, dass diese Arbeit an unserer gemeinsamen Zukunft sicher und gut bezahlt ist. Und wir können dafür sorgen, dass die neue nachhaltige Wirtschaft so aufgebaut ist, dass sie uns mehr Zeit zum Leben und für das Zusammensein mit anderen lässt.
Mit einem guten Plan ist all das möglich. Um ihn umzusetzen, braucht es den politischen Willen, die gesamte Gesellschaft für den sozialen und ökologischen Umbau zu mobilisieren. Dies ist der Rahmen linker Politik für das nächste Jahrzehnt: kein Abwägen von Umweltschutz gegen Arbeitsplatzerhalt. Wir benötigen groß angelegte Investitions- und Job Programme für den Klimaschutz – und müssen diese Programme zugleich als Mittel zur Umgestaltung der Gesellschaft einsetzen. Indem wir das wirtschaftliche System neu regulieren, bringen wir auch die ökologischen Systeme wieder ins Lot.
Dafür müssen wir es zuallererst zurückweisen, wenn Arbeiterinnen und Arbeitern das Umweltbewusstsein abgesprochen wird. Der Umweltschutz ist kein Thema der gebildeten Mittelklasse. In Deutschland gab 2018 eine überwältigende Mehrheit von Beschäftigten in Dienstleistung, Industrie und Handwerk in einer repräsentativen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung an, sich Sorgen um die Folgen des Klimawandels (81 Prozent) und um den Umweltschutz zu machen (84 Prozent). In der oberen Mittelklasse von Ärztinnen, Lehrern und Juristinnen waren es 85 beziehungsweise 87 Prozent – kein signifikanter Unterschied.
Entscheidend ist vielmehr die politische Orientierung. Unabhängig ihrer Klasse ist die Umwelt jenen wichtiger, die Grünen, SPD und Linken nahestehen. Das heißt aber nicht, dass Arbeiterinnen und Arbeiter nicht ganz eigene Ansprüche an die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft stellen – etwa, weder arbeitslos zu werden, noch über höhere Steuern und Preise die Zeche zu bezahlen. Diese Ansprüche müssen für jeden Zukunftsplan zentral sein.
Ein solcher Plan wurde zuerst in Großbritannien und den USA unter dem Titel »Green New Deal« entwickelt und wird mittlerweile international diskutiert. Der Green New Deal geht von einer einfachen Frage aus: Was muss getan werden, um in der uns verbleibenden kurzen Zeit eine Wirtschaft aufzubauen, die innerhalb der planetaren Belastungsgrenzen bleibt und allen ein gutes, materiell abgesichertes Leben ermöglicht? Wie können wir der Forderung der Fridays for Future-Bewegung entsprechen und die Netto-CO2-Emissionen bis 2035 auf Null senken, und zugleich Wohlstand, Freiheit und Sicherheit der Arbeiterinnen und Arbeiter vermehren?
Die Antwort besteht in einem massiven, staatlich orchestrierten Infrastruktur-, Arbeitsplatz- und Investitionsprogramm zum rapiden ökologischen Umbau der gesamten Produktions- und Lebensweise. Es geht darum, existierende Lösungsansätze für den Notstand zu einer gesamtgesellschaftlichen Mobilisierung zu bündeln; die dafür nötigen umfangreichen Mittel zur Verfügung zu stellen; und durch eine staatliche Arbeitsplatzgarantie sicherzustellen, dass niemand hintenüber fällt.
Wie die Ökonomin Ann Pettifor darlegt, ist der Fluchtpunkt des Green New Deal eine Gesellschaft, die die begrenzten Bedürfnisse aller befriedigt, statt Infrastruktur und Wirtschaftspolitik auf die unbegrenzten Wünsche nach privatem Profit und Konsum auszurichten. Diese Bedürfnisse umfassen ökonomische Sicherheit und gute Nahrungsmittel, sicheres Wohnen und gesunde Arbeitsumgebungen, Zeit und Raum für erfüllende soziale Beziehungen, die Versorgung von Kindern und alten Menschen und den Zugang zu Arbeit und Bildung. Der Green New Deal versteht, dass die Reorganisation unserer Lebensweise Kernstück der ökologischen Wende ist: nicht mehr privater Überfluss für wenige, sondern öffentlicher Wohlstand für alle.
Am Anfang des Prozesses stehen Maßnahmen, deren Notwendigkeit offensichtlich ist. Dazu gehört der Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Energien bis 2035. Dieser kann durch direkte Investitionen beschleunigt werden, etwa in den Aufbau eines intelligenten Stromnetzes, jener modernen Form der Planwirtschaft, in der dezentrale Produzenten – wie Solaranlagen in kommunalem Besitz – Strom in ein Zentralnetz speisen, das das Angebot flexibel mit den Bedürfnissen der Haushalte in Beziehung setzt. Fabriken und Transportwege können an höhere ökologische Standards angepasst, Wohnhäuser durch staatliche Direktprogramme energetisch saniert werden statt durch Subventionierung privater Aufwendungen, die sich nur wenige leisten können.
Des Weiteren stehen umfangreiche Programme zur Wiederaufforstung der bereits hart getroffenen deutschen Wälder an sowie die Begrünung von Stadtquartieren und die Wiederherstellung erodierter Böden. Der Staat kann hierfür Land kaufen und bereits in öffentlichem Besitz befindliche verschmutzte, brachliegende und versiegelte Flächen renaturieren. Die Agrarwende würde im Interesse von kleinen und mittleren Landwirten beschleunigt, wenn Großkonzerne wie Tönnies und Westfleisch in staatliche Hand überführt und entflochten würden, um so den Wiederaufbau einer regionalen Landwirtschaft in menschen- und umweltfreundlichem Maßstab zu unterstützen.
Zugleich kann das öffentliche Verkehrswesen massiv ausgebaut und die Preise für seine Benutzung perspektivisch auf Null gesenkt werden. Dies umfasst auch Mobilitätslösungen im ländlichen Raum wie öffentliche Ruftaxis und, als Übergangstechnologie, die Infrastruktur der E-Mobilität. Flankiert würden diese Programme durch den Ausbau des unterfinanzierten und klimaschonenden Gesundheits- und Sorgebereichs und die Finanzierung von Bildung und Kultur sowie von sinnvoll verdichtetem Wohnraum in öffentlicher Hand. Allesamt Weisen, jene Resilienz zu organisieren, die wir für die unausweichlichen Folgen der kommenden Klimakatastrophe brauchen.
Es ist offensichtlich, dass ein solches Programm vor allem eines bedarf: riesiger Mengen an Arbeitskraft. Der Green New Deal hat mindestens die Dimension früherer Großprojekte wie der Eindeichung der Meere und Entwässerung der Moore, des Autobahnbaus oder des Wiederaufbaus nach dem Krieg. Dafür sind die Expertise und Erfahrung von Industriearbeiterinnen, Handwerkern und Landwirtinnen ebenso vonnöten wie die von Wissens-, Sorge- und Bildungsarbeitern.
Der Green New Deal begegnet diesem Bedarf mit einer allgemeinen Arbeitsplatzgarantie: dem Recht auf eine sinnvolle, gut bezahlte Tätigkeit, staatlich finanziert und lokal eingerichtet. Es entsteht ein öffentlicher Arbeitsmarkt für gemeinwohlorientierte Tätigkeiten, die auf dem Niveau eines effektiven Mindestlohns von 12,63 Euro die Stunde vergütet werden und damit wirkungsvoll vor Altersarmut schützen. So können nicht nur die nötigen Arbeitskräfte für die genannten Großprojekte gewonnen werden, es wird zugleich auch ein bundesweiter Lohnstandard für die Privatwirtschaft gesetzt. Dann sind wir nicht mehr mit unfreiwilliger Arbeitslosigkeit oder Hartz-Repressionen erpressbar.
Die Option eines öffentlichen Arbeitsplatzes, ob in Voll- oder Teilzeit, gibt allen Beschäftigten eine soziale Absicherung. Wie die Ökonomin Pavlina Tcherneva darlegt, wirkt sie außerdem konjunkturpolitisch ausgleichend. In Wirtschaftskrisen entlassen Privatunternehmen Beschäftigte, was dem Binnenmarkt genau dann die Nachfrage entzieht, wenn ein Stimulus notwendig wäre. Mit der Arbeitsplatzgarantie wächst der öffentliche Arbeitsmarkt immer dann, wenn der private schrumpft – und umgekehrt. Denn die Arbeitsplätze werden zusätzlich und je auf Zeit geschaffen, sie sind kein Ersatz für qualifizierte Arbeit im öffentlichen und privaten Sektor.
Um bürokratische Gängelung von oben zu vermeiden, müssen Arbeitsplatzgarantie und Großprojekte zwar zentralstaatlich finanziert, aber auf kommunaler Ebene und unter direktdemokratischer Beteiligung ausgestaltet werden. Es wird sich von Ort zu Ort unterscheiden, welche Arbeitsplätze nötig und sinnvoll sind: Aufforstung oder Netzausbau, die Unterstützung von Pflegediensten, die Erforschung der Lokalgeschichte oder die Beseitigung invasiver Pflanzenarten. Gerade verglichen mit dem bedingungslosen Grundeinkommen ist die Arbeitsplatzgarantie ansprechend, weil sie an moralische Überzeugungen vieler arbeitender Menschen anknüpft: Man will keine Almosen vom Staat, sondern einen sinnvollen, produktiven Beitrag leisten – und für diesen angemessen entlohnt werden. Die Arbeitsplatzgarantie gibt allen die Möglichkeit, für die gemeinsame Umwelt Verantwortung zu übernehmen.
Das so umrissene Programm ist ambitioniert. Mehrere Politikfelder und massive Investitionen müssen zugleich mobilisiert werden – eine Aufgabe, die nur der Staat erfüllen kann. Als während der Pandemie auf einmal die Preise für Schutzmasken in die Höhe schossen, sahen wir, wie »der Markt« in einem kritischen Moment versagte. Auch bei der ökologischen Transformation steht uns die reine Profitdynamik unregulierter Märkte im Weg.
Zugleich zeigte die Corona-Krise auch, dass in kürzester Zeit Milliarden zur Verfügung stehen, wenn es die Not der Lage gebietet. Die Klimakatastrophe ist mindestens von gleicher Dringlichkeit. Ohnehin ist den meisten heute klar, dass große Investitionen in die Zukunft nötig sind. Bereits vor Corona hatten die Gewerkschaften und der Bund der Deutschen Industrie ein Investitionsprogramm von 450 Milliarden Euro über die nächsten zehn Jahre gefordert. Das Corona-Konjunkturpaket bringt nun in viel kürzerer Zeit immerhin 130 Milliarden auf.
Wenn wir in die Zukunft investieren, bürden wir den kommenden Generationen keine »Schulden« auf. Im Gegenteil, wir ermöglichen ihnen eine lebenswerte Zukunft. Eine Bürde ist, den Nachgeborenen ein verfallenes Haus zurückzulassen, oder die halbherzigen Anfänge und ungelösten Fragen eines notwendigen Strukturwandels. Die Altlasten der Zukunft entstehen durch das, was wir heute unterlassen.
Die Rechnung sollte heute zuallererst an die gehen, die für den Löwenanteil der globalen Verschmutzung verantwortlich sind: transnationale Konzerne und die kleine Schicht von Superreichen in ihrem Orbit. Ihre ererbten Privilegien und ihr rücksichtsloser Lebensstil verbauen uns unsere Zukunft. Sie anzugehen, ist gute Klimapolitik. Besteuern wir endlich Finanztransaktionen, lösen wir nicht nur den Teufelskreis aus Leerverkäufen an der Börse auf, wir drosseln auch die Dynamiken des finanzgetriebenen Kapitalismus, die unsere Erde zerstören. Ebenso ist die Besteuerung des Bodenwertes ein sinnvoller Bestandteil des Investitionsprogramms, um leistungslose Wertgewinne abzuschöpfen, die sich aus dem Ausbau öffentlicher Infrastruktur ergeben. Gerechte Steuern auf extreme Vermögen und Erbschaften brächten jährlich 25 Milliarden Euro ein. Als Zuschüsse der Reichen zum Green New Deal entsprechen sie ganz der bekannten Klausel des Grundgesetzes: Eigentum verpflichtet.
»Die Rolle von Denkerinnen und Denkern«, schrieb Milton Friedman, Chef-Ideologe des Neoliberalismus, »ist zuallererst, Optionen offenzuhalten, sodass Alternativen bereitstehen, wenn die schiere Gewalt der Ereignisse einen Kurswechsel unabwendbar macht.« Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Bewusstsein der Krise den weltweiten Kollaps der Lebensräume einholt. Wie die Neoliberalen jahrzehntelang im Schatten der Aufmerksamkeit ihren Siegeszug vorbereiteten, müssen auch wir ein konkretes Regierungsprogramm für den Kurswechsel erarbeiten.
Der Green New Deal samt Arbeitsplatzgarantie bietet den Rahmen für dieses Programm, weil er die Belange der arbeitenden Menschen und ihrer Gewerkschaften nicht gegen die der Umwelt ausspielt. Er vereint zudem drei entscheidende Politiktraditionen: eine sozialdemokratisch-keynesianische, die die Pathologien des Kapitalismus durch staatliche Regulierung, das Versagen des Marktes durch staatliche Investitionen ausgleichen will; eine grüne, die auf den evolutionären Wandel von Mentalität und Lebensweise im Zuge eines umfassenden technologischen Umbaus setzt; und eine sozialistische, die die Zerstörung der Erde als Ausdruck eines grundsätzlichen Widerspruchs im Inneren der gegenwärtigen Produktionsweise versteht, der erst aufgelöst ist, wenn die Dominanz des Profitmotivs, des privaten Eigentums und des privaten Konsums durch eine öffentliche demokratische Infrastruktur der Bedürfnisbefriedigung für alle ersetzt ist.
Wie der Historiker Adam Tooze bemerkt, ist das einzige, was bezüglich des Green New Deals feststeht, dass, »wer Klimapolitik mit umfassenden Forderungen zur gesellschaftlichen Umgestaltung koppelt, sich mächtige Feinde schafft«. Zweifellos braucht es also ein starkes Regierungsmandat sowie eine mobilisierte Arbeiterschaft und Klimabewegung, die über die Umsetzung des Programms wachen. Das sind Dimensionen, die jenseits des derzeitigen Horizonts linker Politik in Deutschland liegen. Doch eben das ist der Punkt. Wir müssen uns daran gewöhnen, in Kategorien zu denken, die so groß sind wie die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen. Und einen Plan haben, der ebenso radikal wie umsetzbar ist.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.
Linus Westheuser ist Contributing Editor bei Jacobin und forscht an der Humboldt-Universität Berlin zur politischen Soziologie der Ungleichheit. @Bluesky