19. Juli 2023
Uns wurde versprochen, der Kapitalismus sei bei aller Ungerechtigkeit zumindest aufregend. Tatsächlich wird alles immer grauer und beiger.
»Grau ist die Farbe der Maklerinnen und der Immobilienunternehmer.«
Fotografie: Andy KingErgraut unsere Welt? Zu diesem Ergebnis kam zumindest eine Forschungsgruppe der London Science Museum Group, die in einer Studie Konsumobjekte aus den vergangenen zweihundert Jahren einer Farbanalyse unterzog. Über die Zeit hinweg wurden die Objekte immer monochromer und näherten sich einer Schattierung von verregnetem Asphalt an. Auch der Kunsthistoriker James Fox will im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre eine farbliche Entsättigung unserer Kultur beobachtet haben. Während die Menschen gesellschaftlich immer weiter auseinander drifteten, sähen die Wohnungen, in denen sie lebten, zunehmend homogener und farbloser aus.
Diese allgemeine Verblassung lässt sich auch bei einem Streifzug durch so ziemlich jede Großstadt beobachten. Egal, ob man mir als Konsumentin ein geschmackvolles Sofa, ein Sommerkleid, Müslischalen oder nachhaltig produzierte Kosmetik andrehen will: Alles hat die zurückhaltende Farbgebung von Graubrot. Die dominante Farbpalette in Läden für hochwertiges Kinderspielzeug erinnert an blass-beige Sanitätsbandagen. Unter den Neubauten dominiert eine Architektur, die so ungestaltet und kleinlaut wirkt, dass die Gebäude, kaum wurden sie erbaut, schon grau und trostlos ermatten. In der Inneneinrichtung überwiegt eine Farbgebung, die man früher vor allem mit Funktionskleidung für Senioren assoziierte.
Man kann das alles erstmal irgendwie nachvollziehen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind unstet, wir wirtschaften den Planeten zugrunde, wir arbeiten länger für weniger Geld und wenn wir gerade einmal nicht arbeiten, verbringen wir unsere Zeit mit den Dingen, die wir nunmal tun müssen, um uns als Arbeitskraft zu erhalten oder die Arbeitskräfte von morgen oder gestern zu versorgen. Die Menschen sind ausgelaugt. Die Beliebtheit von sedativ wirkenden Grau- und Beigetönen könnte man da als Gegenreaktion auf Überstimulation und Erschöpfungszustände deuten. Wenn einem langsam alles zu viel wird, ist es schon verständlich, wenn man dem Stress des Alltags ein bisschen die Kanten abzuschleifen versucht, indem man das eigene Zuhause in eine möglichst stimulationsfreie, Haferbrei-farbene Wohlfühloase umgestaltet, in der einen nichts mehr anregt, sondern nur noch beruhigt.
Ob die Verbreitung einer zunehmend anämischen Farbpalette aber wirklich auf ein Bedürfnis der Menschen reagiert, ist gar nicht ausgemacht. Es ist eine alte Lüge des Kapitalismus, dass er flexibel auf Bedürfnisse reagiert und den Menschen lediglich das hinwirft, was sie haben wollen. Und es ist eine alte Binsenweisheit des Marxismus, dass der Kapitalismus eben keine Bedürfnisse befriedigt, sondern sie vielmehr erst erzeugt, um sie dann gemäß seiner eigenen Profitinteressen bewirtschaften zu können.
Fragt sich also, wer das alles eigentlich will. Wenn man Social-Media-Tiraden als Stimmungsbarometer heranzieht, scheint kaum ein Trend unter Wohnungssuchenden verhasster zu sein als graue Laminatböden, oft in Holzoptik, die einem immer häufiger in klinisch renovierten Altbauten oder schnell hochgezogenen Neubauwohnungen begegnen und mit Euphemismen wie »Schiefer« oder »Eiche lichtgrau« beworben werden. Auf Twitter und Tiktok machen sich Nutzerinnen und Nutzer mit Häme über diese deprimierende Raumgestaltung lustig oder betiteln die Ästhetik verächtlich als »Airbnb-Core«.
»Das Zuhause wird in eine möglichst stimulationsfreie, Haferbrei-farbene Wohlfühloase umgestaltet.«
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Astrid Zimmermann ist Managing Editor bei JACOBIN.