14. Dezember 2023
Die hohe Lebenserwartung auf der griechischen Insel Ikaria bleibt ein Rätsel.
»Was ist das Geheimnis eines langen Lebens?«
Als der sozialistische Publizist Étienne Cabet im Jahr 1840 das Buch Reise nach Ikarien veröffentlichte, war dies sein Versuch, seine Vision des Kommunismus in Romanform darzustellen. Es war die Blütezeit der sozialistischen Utopien – als die Wörter »Sozialismus« und »Kommunismus« erstmals auftauchten; und bevor Karl Marx und Friedrich Engels sie in Texten wie dem Kommunistischen Manifest sehr viel nüchterner angingen.
Zu dieser Zeit veranlasste utopische Literatur mitunter auch Experimente in der realen Welt. Cabet hat nicht nur ein Buch über sein imaginäres Ikarien geschrieben – das Land, wohin in der griechischen Mythologie Ikarus auf den »Flügeln der Sehnsucht« flog. Er versuchte auch, tatsächliche »ikarische« Kolonien in den USA aufzubauen, in denen kommunistische Ideale in die Praxis umgesetzt werden sollten. Damit blieb er jedoch erfolglos: In den Siedlungen kam es zu Streitigkeiten; Cabet selbst wurde als zu autoritär empfunden. Eine Handvoll ikarischer Kommunen schaffte es, sich einige Jahrzehnte lang zu halten, bevor die letzte von ihnen zum Ende des 19. Jahrhunderts aufgelöst wurde.
Wie sieht es aber mit dem echten Ikaria aus – der sehr realen griechischen Insel in der östlichen Ägäis, zehn Seemeilen südwestlich von Samos? Sie ist knapp 255 Quadratkilometer groß, überwiegend gebirgig und hat eine Bevölkerung von rund 8.300 Menschen. Im Gegensatz zu den Kykladen, Rhodos, Korfu und Kreta ist Ikaria keine sonderlich beliebte Tourismus-Destination, auch wenn hin und wieder Gäste kommen. Doch für Sozialwissenschaftlerinnen ist dieses Ikaria eine Art reale Utopie. Die Insel ist eine der fünf »blauen Zonen« – jener Orte, an denen es nicht ungewöhnlich ist, dass Menschen länger als hundert Jahre leben. Die anderen sind Loma Linda in Kalifornien, Nicoya in Costa Rica, die italienische Insel Sardinien und das japanische Okinawa.
Stamatis Moraitis, ein Veteran des Zweiten Weltkriegs aus Ikaria, verließ die Insel 1943 in Richtung der USA. Als 1976 bei ihm Lungenkrebs im Endstadium diagnostiziert wurde, entschied er sich, auf seine Heimatinsel zurückzukehren, um dort zu sterben. Da eine Beerdigung auf Ikaria viel billiger ist, könne er seiner Familie so Kosten ersparen, dachte er. Doch nachdem er auf die Insel zurückgekehrt war, begann sich sein Gesundheitszustand zu bessern – und er lebte noch fast vier Jahrzehnte, bis er 2013 im Alter von 98 Jahren (oder 102, es existierte keine Geburtsurkunde und er selbst konnte sich nicht an sein Geburtsjahr erinnern) starb. Seine etwa gleichaltrige Frau war nur ein Jahr zuvor verstorben.
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Panagiotis Sotiris arbeitet als Journalist in Athen und lehrt an der Hellenic Open University. Er ist Redaktionsmitglied bei Historical Materialism.