31. Mai 2024
Vor einem Jahr kamen über 600 Menschen bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer ums Leben. Die griechische Polizei versuchte, den Überlebenden die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Jetzt wurden sie endlich freigesprochen.
Nach dem Freispruch der »Neun von Pylos« gab es emotionale Reaktionen und tränenreiche Umarmungen.
Am 21. Mai standen neun Männer in einem Gerichtssaal in Kalamata, Griechenland. Sie waren angeklagt, für den Tod von über sechshundert Menschen beim Schiffsunglück der Adriana vor der Küste von Pylos im letzten Sommer verantwortlich zu sein. Fast ein Jahr zuvor waren die neun Männer direkt aus den Gewässern des Mittelmeers zu einem Polizeiverhör gebracht worden – und dann ins Gefängnis. Sie wurden elf Monate in Untersuchungshaft gehalten. Mehrere sagten vor Gericht, sie wüssten nicht, warum sie dort seien.
»Ich weiß nicht, warum ich inhaftiert bin«, sagte einer der Angeklagten im Zeugenstand. »Ich will meine Gerechtigkeit, meine Familie sehen und freigesprochen werden. Ein Verwandter von mir, der auf dem Schiff war, ist gestorben. Ich wäre gerne unter besseren Bedingungen gereist, aber dies war der einzige Weg, in ein anderes Land zu gelangen.«
»Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Sie haben mich aus dem Krankenhaus geholt und ins Gefängnis gebracht«, sagte ein anderer. »Ich habe nicht getan, wessen ich beschuldigt werde.«
Die neun wurden wegen Beihilfe zur illegalen Einreise nach Griechenland, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Verursachung des tödlichen Schiffsunglücks beschuldigt.
Diese neun, wie auch Tausende andere, die versuchen, Europa zu erreichen, sollten die Schuld für Schmugglernetzwerke auf sich nehmen, die verzweifelte Menschen über immer tückischere Routen transportieren. Sie wurden angeklagt, um die Tatsache zu verschleiern, dass diese Routen deshalb gefährlich sind, weil die europäischen Regierungen sie so absichtlich beschlossen und gestaltet haben. Sie wurden verhaftet, in dem Versuch, die Schuld für sechshundert Todesfälle von der griechischen Regierung auf eine Handvoll traumatisierter Menschen abzuwälzen.
In Interviews mit der Presse haben die Neun von Pylos stets betont, dass sie lediglich Passagiere auf dem verunglückten Fischkutter waren, Geflüchtete, die auf der Suche nach einem besseren Leben nach Europa gelangen wollten. Sie beharren darauf, dass sie nichts mit dem Schmuggeln der 750 Passagiere aus Libyen zu tun hatten und auch nicht am Kentern des Schiffes beteiligt waren. Vielmehr haben sie alle angegeben, dass die griechische Küstenwache angekommen sei und an dem Boot gezogen habe, wodurch es kenterte.
Die Dutzenden anderen Überlebenden des Schiffsbruchs, die mit Journalistinnen oder Forschern gesprochen haben, erzählen dieselbe Geschichte – dass die griechische Küstenwache an dem überfüllten Schiff zerrte, sodass es nach rechts, links und dann wieder nach rechts kippte, bevor es vollständig umkippte. Die Küstenwache zog sich daraufhin zurück und unternahm nichts, um Hunderte von Menschen zu retten, die sich etwa zwanzig Minuten lang im Wasser befanden und ertranken.
Die griechischen Behörden haben die Verantwortung für das tödliche Kentern und Sinken der Adriana vom Tag des Schiffsunglücks an zurückgewiesen und stattdessen den neun Ägyptern, die unter den 104 Überlebenden waren, die Schuld gegeben. In Bezug auf das Schleppen des überladenen Fischkutters mit einem Seil, das angeblich das Kentern verursacht habe, bestritt die griechische Küstenwache zunächst, ein Seil an das Schiff angebracht zu haben, gab später jedoch zu, dies zu einem bestimmten Zeitpunkt getan zu haben, um den Zustand des Schiffes und der Menschen an Bord zu beurteilen.
Eine Untersuchung des Marinegerichts zur Rolle der Küstenwache hat bisher kaum Fortschritte gemacht.
»Nach dem geltenden Gesetz spielt es keine Rolle, ob man irgendeine Absicht hatte, es spielt keine Rolle, ob man von der Aktivität profitiert. Wenn man das Ruder des Bootes berührt, wird man als Schmuggler betrachtet.«
Anwälte und Verteidiger behaupten, die neun seien für die Verbrechen der Küstenwache zum Sündenbock gemacht worden und die Aktenlage beruhe auf dürftigem und zweifelhaftem Beweismaterial.
Am 21. Mai wurden nach einer Reihe von Einsprüchen der Verteidigung alle Anklagen gegen alle neun fallengelassen, da der Fischkutter nie griechische Gewässer erreicht hatte und das griechische Gericht damit nicht zuständig war. Einige der neun Personen brachen in Tränen aus, als sie Familienmitglieder umarmten, die gekommen waren, um den Prozess zu verfolgen.
»An einem Tag haben diese Menschen einen Schiffbruch überlebt, am nächsten Tag wurden sie wegen sehr schwerer Straftaten inhaftiert. Heute werden sie alle freigelassen und können ihre Freiheit zum ersten Mal genießen«, sagte Alexandros Georgoulis, ein Anwalt des Verteidigungsteams, vor dem Gerichtsgebäude in Kalamata.
»Diese Menschen sind, wie Tausende von Menschen in Griechenland, kriminalisiert worden«, sagte Georgoulis. »Nach dem geltenden Gesetz spielt es keine Rolle, ob man irgendeine Absicht hatte, es spielt keine Rolle, ob man von der Aktivität profitiert. Wenn man das Ruder des Bootes berührt, wird man als Schmuggler betrachtet. Es macht keinen Sinn, es ist ein absurdes Gesetz.«
Wenn ein Boot mit Geflüchteten in Griechenland ankommt, werden häufig eine oder mehrere Personen von der Polizei festgenommen und verhört. Diese Verhöre der oft traumatisierten und desorientierten Menschen werden nicht protokolliert und beinhalten laut mehreren Berichten Misshandlung, Einschüchterung und Folter. Die unter diesen Bedingungen aufgenommenen Aussagen werden dann als Beweismittel in den »Schmuggel«-Prozessen verwendet.
Eine Studie der Organisation Borderline Europe ergab, dass im Februar 2023 über 2.100 Menschen in griechischen Gefängnissen wegen Schmuggelvorwürfen inhaftiert waren, von denen fast 90 Prozent Drittstaatsangehörige waren. Sie stellten fest: »Die Verhaftung von Boots-/Autofahrern oder anderen Personen an Bord wegen des Straftatbestands des Schmuggels ist eine routinemäßige Praxis der Strafverfolgungsbehörden, ohne Rücksicht auf die tatsächliche Beteiligung oder Absicht der Beschuldigten.« Personen wurden wegen »Beihilfe zur illegalen Einreise« angeklagt, weil sie beispielsweise ein Boot gesteuert, auf ein GPS-Gerät geschaut oder Rettungsmaßnahmen gefilmt haben.
In Griechenland können die Haftstrafen für diejenigen, die des Schmuggels beschuldigt werden, mehrere Lebensdauern übersteigen. Der Bericht von Borderline Europe gab die durchschnittliche Strafe für solche Verurteilungen mit 46 Jahren an, aber das Human Rights Legal Project mit Sitz auf der griechischen Insel Samos hatte Mandanten, denen Strafen von 150 oder 250 Jahren drohten.
Diese Praxis ist auch in anderen Teilen Europas üblich. Ein Bericht von Menschenrechtsgruppen ergab, dass Italien zwischen 2013 und 2021 über 2.500 Migranten wegen Schmuggels oder Unterstützung illegaler Einwanderung verhaftete, oft unter Anwendung von Antimafia-Gesetzen. Der italienische Innenminister behauptete, das Land habe 2022 und 2023 »550 Bootsfahrer« festgenommen. Italienische Anwälte, Staatsanwältinnen und Richter haben zugegeben, dass diese »Scafisti« oder Bootsfahrer oft mit vorgehaltender Waffe von Menschenhändlern, die nie selbst an Bord der Schiffe gehen, gezwungen werden, das Steuer zu übernehmen.
»Ein Bericht von Amnesty International fand heraus, dass Personen für so wohltätige Handlungen wie das Verteilen von Tee, das Alarmieren der Küstenwache über Menschen, die im Meer ertrinken, oder das Informieren von Geflüchteten über ihre Rechte angeklagt wurden.«
Der Fokus auf die Verhaftung von Schmugglern ist nicht nur unangebracht gegenüber denjenigen, die versuchen, die Reise selbst anzutreten, sondern lenkt auch von den Tatsachen ab, warum so viele Menschen diese Reisen machen wollen und warum sie so gefährlich sind. Es lenkt von der Tatsache ab, dass Europa jahrelang die Vorschriften verschärft, Millionen in Grenzkontrollabkommen investiert und so viele Menschen wie möglich illegal zurückgedrängt hat. Diese Kriminalisierung erstreckt sich von denen, die unterwegs sind, bis zu denen, die bei der Suche und Rettung oder Unterstützung von Migrantinnen und Migranten, die in Europa ankommen, helfen. Ein Bericht von Amnesty International fand heraus, dass Personen für so wohltätige Handlungen wie das Verteilen von Tee, das Alarmieren der Küstenwache über Menschen, die im Meer ertrinken, oder das Informieren von Geflüchteten über ihre Rechte angeklagt wurden.
»In ganz Europa werden Hunderte von Menschen bestraft, nur weil sie anderen auf der Flucht helfen oder sich mit ihnen solidarisch zeigen«, so Amnesty International. »Dutzende von Strafverfahren wurden gegen NGOs und Einzelpersonen in Italien, Griechenland, Frankreich und der Schweiz eingeleitet.«
Zwischen 2017 und 2023 leiteten Deutschland, Italien, Malta, die Niederlande und Spanien über sechzig Verwaltungs- oder Strafverfahren gegen NGO-Such- und Rettungsschiffe im Mittelmeer ein.
Sascha Girke war eines der Besatzungsmitglieder des Such- und Rettungsschiffs Iuventa, das in Italien wegen Beihilfe zur illegalen Einreise im Zusammenhang mit drei Rettungsaktionen in den Jahren 2016 und 2017 angeklagt wurde. Die Besatzung schätzte, dass sie 2016/17 etwa vierzehntausend Menschenleben gerettet hatte. Wie viele andere NGO-Rettungsschiffe, die einst auf dem Mittelmeer operierten, wurde auch die Iuventa beschlagnahmt, und die Such- und Rettungsaktionen mussten eingestellt werden.
Das italienische Gericht behauptete, das Rettungsschiff habe sich mit Schmugglern abgesprochen, um Migranten auf See aufzugreifen, und den Schmugglern Beiboote zurückgegeben. Unabhängige Untersuchungen ergaben keine Beweise für diese illegalen Handlungen. Die Anklagen wurden schließlich im April dieses Jahres fallen gelassen, aber das Schiff hat die Such- und Rettungsaktionen nicht wieder aufgenommen.
»Es ist eine Schande für die Menschheit, dass bei einem solchen Schiffbruch nicht über die Täter, sondern über die Opfer geurteilt wird.«
»Die Kriminalisierung der Solidarität, die Kriminalisierungsversuche gegen Gruppen oder normale Menschen, die Erste Hilfe leisten oder jemanden ins Krankenhaus bringen, sind Teil der Gesamtstrategie der ›Festung Europa‹. Am Ende richtet es sich gegen die fliehenden Menschen selbst«, sagte Girke gegenüber JACOBIN. Er sieht diese Verhaftungen als Teil einer Einschüchterungstaktik: »Dieses Grenzregime wurde geschaffen, um Menschen mit allen Mitteln daran zu hindern, nach Europa zu reisen.«
Iasonas Apostolopoulos, ein Aktivist, der mehrere Such- und Rettungsmissionen im Mittelmeer durchgeführt hat, war als Sachverständiger für die Verteidigung im Pylos-Fall geladen. »Heute wurde eine große Ungerechtigkeit korrigiert, gegen neun Menschen, die ein Jahr im Gefängnis verbracht haben, ohne irgendetwas getan zu haben«, sagte er nach dem Prozess.
»Es ist eine Schande für die Menschheit, dass bei einem solchen Schiffbruch nicht über die Täter, sondern über die Opfer geurteilt wird. Dies war der erste Kampf um Gerechtigkeit für das Verbrechen von Pylos, und wir machen weiter bis zur endgültigen Richtigstellung – nämlich die wahren Verbrecher, die griechischen Behörden, zu bestrafen.«
Diesen Herbst reichten mehrere Überlebende des Schiffbruchs von Pylos eine Klage gegen die griechischen Behörden ein und beschuldigten sie, ihre Pflicht zum Schutz des Lebens der Menschen an Bord der Adriana verletzt zu haben. Doch wie die Untersuchung des griechischen Marinegerichts, hat auch dieser Versuch, nicht die fliehenden Menschen, sondern den Staat zur Verantwortung zu ziehen, bisher wenig Fortschritte gemacht.
Moira Lavelle ist eine unabhängige Journalistin aus Athen. Sie schreibt über Migration, Grenzen, Geschlechterverhältnisse und Politik.
Vedat Yeler ist ein unabhängiger Journalist in Athen. Er schreibt über Migration, Grenzen, Politik und Menschenrechte, mit Schwerpunkt auf Kurden, der Türkei, Griechenland und dem Nahen Osten.