01. August 2024
Mit der Sechs-Tage-Woche will Griechenland seinen Fachkräftemangel ausgleichen. Das ist Unsinn. Dieser Vorstoß wird Beschäftigte noch härter ausbeuten und der Wirtschaft langfristig schaden.
Bauarbeiter in der Ortsgemeinschaft Kalo Chorio auf der griechischen Insel Kreta.
In Griechenland wurde eine freiwillige Sechs-Tage-Woche für Unternehmen eingeführt, die Dienstleistungen rund um die Uhr anbieten. Das Adjektiv »freiwillig« gilt dabei natürlich nur für das Unternehmen, nicht für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Chefs können sie zwingen, einen sechsten Tag zu arbeiten, wenn auch zu einem gewissen Preis: Es gibt eine Überstundenvergütung in Höhe von 40 Prozent. Doch offensichtlich ist dies kein zusätzliches Geld für freiwillige Extra-Arbeit außerhalb der normalen Arbeitszeiten.
Die dem Gesetz zugrundeliegenden Gegebenheiten (und entsprechenden Rechtfertigungen) sind bekannt: eine rechte Regierung, Marktfundamentalismus, eine alternde Bevölkerung, die Sorge des Staats, nicht genug Arbeiter zu »produzieren«, um diese alternde Bevölkerung mit ihren vielen Rentnern zu stützen, und die nach wie vor spürbaren Auswirkungen mehrerer langer Finanz- und Wirtschaftskrisen.
Überall auf der Welt wird die Umstellung auf eine viertägige Arbeitswoche vorangetrieben. Es ist erwiesen, dass kürzere Wochenarbeitszeiten die Gesundheit, das Wohlbefinden, die Zufriedenheit und ganz nebenbei auch die Produktivität der Belegschaften verbessern. Sie führen zu weniger Stress, Ängsten und Burnout. Sie verringern sogar die Umweltverschmutzung. Zwar liebäugeln einige Länder, wie die USA und Südkorea, mit einer Sechs-Tage-Woche für gewisse Arbeiterinnen und Arbeiter, doch der allgemeine Trend geht entweder zu vier Tagen oder zumindest zur Beibehaltung der Fünftagewoche.
»Die Verlängerung der Arbeitswochenzeit ist ein Affront für den langen Kampf um menschenwürdige Arbeitsbedingungen.«
Der Schritt Griechenlands hin zu sechs Arbeitstagen nimmt diesem weltweiten Kampf für die Viertagewoche ein wenig Wind aus den Segeln. Austeritäts-Fans und Marktfundamentalisten werden dies als Präzedenzfall nutzen, um zu argumentieren, dass andere Länder dem griechischen Beispiel folgen sollten. Sie werden nahelegen, dass die Probleme der Griechen nicht einzigartig sind. Schließlich ist die Überalterung der Gesellschaft ein Problem, das viele Industrienationen kennen.
Die Verlängerung der Arbeitswochenzeit ist ein Affront für den langen Kampf um menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Im 19. Jahrhundert zielte die Zehn-Stunden-Bewegung in Großbritannien darauf ab, die Arbeitszeiten für Minderjährige unter sechszehn Jahren zu verkürzen. Es gab den Factory Act, mit dem der Arbeitstag für jugendliche Arbeiterinnen und Arbeiter unter achtzehn Jahren gnädigerweise auf zwölf Stunden begrenzt wurde. Außerdem wurde eine Obergrenze für die Wochenarbeitszeit für Kinder zwischen neun und dreizehn Jahren auf 48 Stunden festgelegt – sechs Tage à acht Stunden. Das wiederum setzt den jüngsten Schritt Griechenlands in einen makabren historischen Kontext.
Das griechische Experiment wird scheitern. Und es wird die Arbeiter dabei mit in den Abgrund reißen. Das legen Erkenntnisse aus den Wirtschaftswissenschaften nahe. Was gerade in Griechenland vor sich geht, sollte vor allem als Warnung und als Alarmsignal gesehen werden – nicht als ein Muster oder Vorbild.
»Die Erhöhung der Arbeitszeit führt unweigerlich zu übermüdeten und kaputten Belegschaften, höheren Gesundheitskosten und Produktivitätsverlusten.«
In The Conversation kritisiert der Wirtschaftsprofessor Constantin Colonescu die Sechs-Tage-Woche aus Produktivitätsgründen – also aus genau den Gründen, weswegen sie eigentlich eingeführt wird. Colonescu betont, Produktivität sollte »als den pro Stunde produzierten Output« definiert werden und nicht als die reinen geleisteten Arbeitsstunden. Letztere Kennzahl nutzt aber der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis als Grundlage für seinen Vorstoß.
Jeder ernstzunehmende Wirtschaftswissenschaftler wird bestätigen, dass ausgebrannte Arbeiter im Laufe der Zeit weniger produktiv werden. Die Erhöhung der Arbeitszeit führt unweigerlich zu übermüdeten und kaputten Belegschaften, höheren Gesundheitskosten und Produktivitätsverlusten. Aus diesem Grund kann eine Viertagewoche – entgegen der Intuition – durchaus mehr Produktivität bringen als eine Sechs-Tage-Woche. Darüber hinaus haben vier Arbeitstage natürlich den Vorteil, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter mehr Erholungszeit haben und nicht nach einer kurzen Pause sofort wieder in die Arbeitshölle gestürzt werden.
Griechenland hat akute wirtschaftliche Probleme. Das öffnet die Tür für weitere ausbeuterische Maßnahmen wie beispielsweise auch eine breiter gefasste verpflichtende Sechstagewoche. Die fehlende Kontrolle über die eigene Geldpolitik als EU-Mitglied und der Druck größerer EU-Staaten wie Deutschland bedeuten für Griechenland, dass das Land keine andere Wahl hat, als irgendetwas zu tun, um die alternde Bevölkerung finanziell zu stützen und die Wirtschaft halbwegs am Laufen zu halten. Das führt zu brutalen politischen Entscheidungen.
Colonescu räumt ein, dass eine sechstägige Arbeitswoche »kurzfristig tatsächlich eine Lösung sein kann«. Wenn die Maßnahme zeitlich begrenzt bleiben soll, müsste die griechische Regierung dies aber auch aktiv kommunizieren. Stattdessen spricht man in Athen lediglich von einer »außergewöhnlichen Maßnahme« die nur unter »speziellen Umständen« greifen solle. Das ist schwammig formuliert und die Regelung ließe sich dementsprechend einfach ausweiten.
Colonescu hingegen argumentiert, das Land brauche ein »nachhaltiges« Arbeitssystem. Das scheint mit einer Sechs-Tage-Woche nicht erreichbar zu sein. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Arbeitgeber auf eine Verlängerung und Ausweitung des Programms drängen werden, um sicherzustellen, dass es dauerhaft bleibt und künftig auch für weitere Branchen gilt.
Die griechische Ministerin für Arbeit und soziale Sicherheit, Niki Kerameus, betonte gegenüber CNBC, das neue Gesetz enthalte keine Verpflichtung zur Sechs-Tage-Woche. »Es sieht lediglich unter bestimmten Umständen die Möglichkeit vor, ausnahmsweise einen zusätzlichen Arbeitstag einzuführen«, sagte sie. Und: »Die Option eines zusätzlichen Arbeitstages ist nur im Falle einer erhöhten Arbeitsbelastung zulässig.«
»Yanis Varoufakis bezeichnete die sogenannten Rettungspakete für Griechenland als fiskalisches Waterboarding.«
Nun ist aber unwahrscheinlich, dass Kerameus’ Glauben an den im Gesetz (aktuell noch) vorhandenen Schutz langfristig realistisch ist: Die Firmenbosse werden Druck aufbauen, die Arbeiter ausnutzen und sie ausbrennen lassen, und die Industrie wird sicherstellen, dass sie so viel wie möglich aus den Regelungen herausholen kann. Die Arbeiterschaft befindet sich im Vergleich zu ihren Chefs in einer Position der Schwäche. Sie sind kaum oder überhaupt nicht in der Lage, sich gegen Missbrauch und Ausbeutung zu wehren. Deshalb reicht der pure Glaube an ein wenig Schutz im Gesetz nicht aus, um die Belegschaften angesichts der realen Machtverhältnisse zwischen Chef und Arbeiter zu schützen.
Yanis Varoufakis hat argumentiert, dass die europäischen Eliten für Griechenlands schwierige wirtschaftliche Lage verantwortlich sind. Er bezeichnet den Bailout und die sogenannten Rettungspakete für sein Land als »fiskalisches Waterboarding«. Der finanzpolitischen Orthodoxie der EU wird nun mit einem rechten Plan zur Ausbeutung der Arbeiterschaft nachgekommen. Langfristig dürften sich alle Versprechen über Schutz oder Nutzen für die Arbeiterschaft in Luft auflösen. Der Plan wird zu weniger Produktivität und unzufriedenen, erschöpften Arbeiterinnen und Arbeitern führen.
Darüber hinaus droht die bisher »freiwillige« Sechs-Tage-Woche ausgeweitet zu werden. Austeritätsfans mit wenig Sinn und Interesse für die Lage von ausgebeuteten Beschäftigten könnten darauf aufbauen und versuchen, eine solche Politik auch außerhalb Griechenlands durchzudrücken. Es ist ein Trauerspiel.
Wie auch immer die langfristige Lösung für die strukturellen und wirtschaftlichen Probleme Griechenlands aussehen mag, eine verlängerte Arbeitswoche wird es nicht richten. Die Arbeiterschaft in anderen Ländern sollte aus den Entwicklungen in Griechenland Lehren ziehen und sich schon einmal entsprechend aufstellen, damit ihre Länder nicht nachziehen. Jetzt ist es an der Zeit, sich für eine Verkürzung der Arbeitswoche einzusetzen und damit eine sicherere, gesündere, produktivere und arbeiterfreundlichere Arbeitskultur zu schaffen.
David Moscrop ist Autor und politischer Kommentator. Er moderiert den Podcast Open to Debate. Von ihm erschien das Buch Too Dumb for Democracy? Why We Make Bad Political Decisions and How We Can Make Better Ones.