ABO
Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

10. Oktober 2025

Die neue Grundsicherung bedeutet sozialen Abstieg per Gesetz

Die Bürgergeld-Reform der Bundesregierung nützt Chefs, deren Beschäftigte die Arbeitslosigkeit noch mehr fürchten müssen, Vermietern, die zahlungsschwache Mieter leichter loswerden können – und der AfD, die aus sozialem Abstieg politisches Kapital schlägt.

Friedrich Merz, Lars Klingbeil und Bärbel Bas schreiten beschwingt zur Pressekonferenz nach ihrem Koalitionsausschuss, um neue Härten für die weniger Privilegierten zu verkünden.

Friedrich Merz, Lars Klingbeil und Bärbel Bas schreiten beschwingt zur Pressekonferenz nach ihrem Koalitionsausschuss, um neue Härten für die weniger Privilegierten zu verkünden.

IMAGO / Andreas Gora

Sozialpolitische Schandtaten kündigen sich an. Schon vor zwanzig Jahren, als SPD und Grüne mit der Einführung von Hartz IV die soziale Absicherung für Arbeitslose zerstörten, hatten zuvor jahrelang Politiker in Talkshows gegen vermeintlich faule Jobverweigerer gewettert. Und auch aktuell bereiteten die zahllosen Bürgergeld-Diskussionsrunden, in denen vor allem Unionspolitiker ständig (und teils mit falschen Fakten) im Fernsehen gegen das Bürgergeld wetterten, die nun beschlossenen unsozialen Verschärfungen vor.

Die schwarz-rote Koalition hat sich zum Auftakt ihres angekündigten Herbstes der Reformen auf Eckpunkte einer neuen »Grundsicherung« geeinigt. Die geplanten Änderungen werden zu Armut, Obdachlosigkeit und Verdrängung führen. Sozialer Abstieg per Gesetz.

Besonders dramatisch ist die erneute Verschärfung der Sanktionen bei Verstößen gegen die Mitwirkungspflicht – etwa, wenn Leistungsempfänger unentschuldigt Termine beim Jobcenter verpassen. Wer mehr als einen Termin versäumt, dem sollen künftig 30 Prozent des Regelsatzes gekürzt werden, beim dritten Verstoß werden alle Geldleistungen eingestellt. Wer anschließend immer noch nicht beim Jobcenter erscheint, dem werden zusätzlich Miet- und Heizkosten gestrichen.

»Profitieren würden einige Vermieter und Immobilieninvestoren, die mit Hilfe der neuen Sanktionen womöglich einfacher zahlungsschwache Mieter aus Wohnungen in begehrten Lagen herauskündigen könnten.«

Bisher galt: Bei mehrfachen Terminverstößen durften – stufenweise ansteigend – maximal 30 Prozent des Regelsatzes gekürzt werden. Das sieht ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 vor. Heiz- und Mietkosten waren bei Sanktionen ausgenommen. Damit ist es nun vorbei. Künftig sind die Gängelungsmöglichkeiten der Behörden so weitreichend, wie seit Jahren nicht mehr – es sei denn, die Richter in Karlsruhe erklären die Änderungen für verfassungswidrig, was wünschenswert wäre.

Denn der aktuelle Regelsatz von 563 Euro liegt bereits am Existenzminimum und wird seit Jahren kleingerechnet. Der Paritätische Wohlfahrtsverband schrieb im April: »Die Regelleistungen decken weiterhin nicht die zentralen Bedarfe. Um Armut zu vermeiden, müssten die Leistungen der Grundsicherung auf über 800 Euro angehoben werden.« Eine Kürzung um 30 Prozent garantiert also soziales Elend.

Chefs und Vermietern ausgesetzt

Noch verheerender wird sich die Ausweitung der Sanktionen auf die Miete auswirken. Sollten die Jobcenter die Überweisungen an den Vermieter einstellen, droht Betroffenen im schlimmsten Fall Obdachlosigkeit. Und das mitten in einer sozialen Krise, die sich schon jetzt ausweitet. Allein in Berlin hat sich die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen drei Jahren verdoppelt. Der Senat rechnet bis Ende 2029 mit einem Anstieg der Wohnungslosen-Zahl um knapp 60 Prozent – auf dann mehr als 85.600 Personen. Ist es wirklich im gesellschaftlichen Interesse, diese erschreckende Zahl noch zu steigern? Günstiger wird der Sozialstaat dadurch sicher nicht. Profitieren würden vermutlich nur einige Vermieter und Immobilieninvestoren, die mit Hilfe der neuen Sanktionen womöglich einfacher zahlungsschwache Mieter aus Wohnungen in begehrten Lagen herauskündigen könnten.

Für derart drastische Sanktionsmaßnahmen gibt es keine sachliche Rechtfertigung. Nur eine kleine fünfstellige Zahl sogenannter »Totalverweigerer« nimmt keine Jobs an. Viele Bürgergeldempfänger, die Termine verpassen, leiden dagegen unter erheblichen gesundheitlichen und psychischen Problemen. Drangsalierung und der Entzug ihrer Lebensgrundlage verschärfen ihre Lage eher noch. Sie bräuchten intensive Betreuung und neue Perspektiven. Im öffentlichen Diskurs spielt das allerdings kaum eine Rolle.

Eine der wenigen sinnvollen Änderungen beim Übergang von Hartz IV zum Bürgergeld der damaligen Ampel-Regierung betraf die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs – dabei sollten Qualifikation und langfristige Vermittlung gegenüber der Vermittlung in den nächstbesten Job im Vordergrund stehen. Doch auch diese kleine Verbesserung hat Schwarz-Rot nun kassiert. Laut Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas gilt künftig wieder der Vermittlungsvorrang.

»Wer Angst haben muss, beim Jobverlust nach einer kurzen Schonphase im Arbeitslosengeld I in den Niedriglohnsektor hineinsanktioniert zu werden, überlegt sich vielleicht zwei Mal, ob er nach einer Gehaltserhöhung fragt oder dem Chef widerspricht.«

Damit erhärtet die Bundesregierung den Eindruck, dass die nachhaltige Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit keineswegs im Mittelpunkt ihrer Bemühungen steht. Naheliegender ist die Vermutung, dass die neue Grundsicherung vor allem dem Zweck dient, die Mittelschicht zu verunsichern. Wer Angst haben muss, beim Jobverlust nach einer kurzen Schonphase im Arbeitslosengeld I in den Niedriglohnsektor hineinsanktioniert zu werden, überlegt sich vielleicht zwei Mal, ob er nach einer Gehaltserhöhung fragt oder dem Chef widerspricht. Zu dieser Interpretation passt auch die Abschaffung der sogenannten Karenzzeiten auf das Schonvermögen, also das Vermögen, das nicht auf die Grundsicherung angerechnet wird. Wer zu viel Erspartes hat, erhält keine Leistungen.

Zwar will man die Höhe des Schonvermögens »an die Lebensleistung koppeln«, aber dass diese Beträge großzügig genug sind, dass Betroffene Grundsicherung erhalten, ohne einen substanziellen Teil ihres Ersparten aufbrauchen zu müssen, ist eher unwahrscheinlich. Aktuell beträgt das Schonvermögen selbst während der bisher geltenden Karenzzeit von zwölf Monaten nur 40.000 Euro für die erste leistungsberechtigte Person im Haushalt und 15.000 Euro für jede weitere.

Gleichzeitig kündigen die großen deutschen Industrieunternehmen derzeit Tausende Mitarbeiter. Und angesichts der schwächelnden Konjunktur sowie des notwendigen Strukturwandels der deutschen Wirtschaft ist es nicht unwahrscheinlich, dass viele entlassene Arbeitnehmer keinen neuen Job finden, bevor ihr Anspruch (für unter 50-Jährige maximal zwölf Monate) auf Arbeitslosengeld I erlischt und sie ins Hartz-IV-System rutschen – oder nicht einmal anspruchsberechtigt sind, weil sie zu viel Erspartes haben.

Vom Elend profitiert die AfD

Eine solche Entwicklung birgt erhebliches Konfliktpotenzial. Die Frustration über die Preissteigerungen der vergangenen Jahre ist hoch. Wenn nun noch zahlreichen Arbeitnehmern innerhalb kürzester Zeit der soziale Abstieg droht, wird das den Rechtspopulisten weiteren Auftrieb geben.

Vor allem auch, weil Hartz IV/Bürgergeld/Grundsicherung das letzte soziale Haltenetz für fast alle in Deutschland lebenden Menschen ist. Aufgrund des Zuzugs Hunderttausender Flüchtlinge sind bereits fast die Hälfte der Leistungsbezieher Ausländer.

Wie wird sich ein älterer deutscher Arbeitnehmer fühlen, der nach Jahrzehnten seinen Job verliert und dann auf dem Sozialhilfe-Niveau von Zuwanderern landet oder gar nicht einmal diese staatliche Hilfe erhält, weil er nach Ansicht des Gesetzgebers ein zu hohes Vermögen angespart hat? In der ohnehin aufgeheizten Migrationsdebatte wäre ein solches Szenario ein Wahlgeschenk an die AfD – jene Partei, die Bundeskanzler Friedrich Merz einst halbieren wollte – und die laut aktuellen Umfragen mittlerweile stärkste politische Kraft in Deutschland ist.

Ein erheblicher Teil des Stimmenzuwachses der AfD bei der vergangenen Bundestagswahl lässt sich auf die verschärfte soziale Lage in Deutschland zurückführen. Mit der neuen, sozial ungerechten Grundsicherung wird der Weg in den Abstieg nun noch kürzer. Die Rechtspopulisten werden sich freuen.

Jörg Wimalasena arbeitet als freier Journalist in Berlin.