22. Oktober 2025
Die »neue Grundsicherung« wird als Akt der Gerechtigkeit verkauft. Doch indem sie alle Hilfsbedürftigen mit überzeichneten »Totalverweigerern« in Sippenhaft nimmt und diesen das Existenzminimum verweigert, vergeht sie sich am Grundsatz der Menschenwürde.
Ob Friedrich Merz wohl wirklich an Gerechtigkeit dachte, als er die »neue Grundsicherung« bekanntgab?
Die »neue Grundsicherung« soll »für mehr Gerechtigkeit in Deutschland« sorgen. So war es jedenfalls von Friedrich Merz zu vernehmen, als er das Vorhaben ankündigte, »Arbeitsverweigerern« zukünftig keine Sozialleistungen mehr zu gewähren. Damit sind Menschen gemeint, die Sozialtransfers beziehen, sich aber weigern, ein Jobangebot anzunehmen. In den Wochen und Monaten vor Ankündigung der Reform wurde immer wieder öffentlichkeitswirksam über diese Menschen diskutiert, die auch alarmistisch als »Totalverweigerer« bezeichnet wurden.
Ist nun aber wirklich für mehr Gerechtigkeit in Deutschland gesorgt, wenn »Totalverweigerern« die Lebensgrundlage entzogen wird? Diese Frage wirft ein schwer wiegendes Problem auf: Die »neue Grundsicherung« wird nämlich überwiegend moralisierend diskutiert, während dazu aber eine ernsthafte ethische Auseinandersetzung notwendig wäre. Mit Ethik ist hier die kritische Auseinandersetzung mit moralischen Regeln und Prinzipien gemeint, aus der heraus dann eine reflektierte und begründete Position bezogen werden kann.
Unter diesem Gesichtspunkt offenbaren sich im aktuellen Diskurs fundamentale Defizite im Verständnis von Gerechtigkeit, die in Widersprüche führen. Zum Teil wird dabei, so muss man leider sagen, Gerechtigkeit für rein rhetorische und polit-strategische Manöver missbraucht.
»Gegenüber dem kleinen Anteil an ›Totalverweigerern‹ wirkt das Vorhaben und die Rhetorik zur ›neuen Grundsicherung‹ wie die sprichwörtliche Kanone, mit der man auf Spatzen schießt.«
Das fängt schon damit an, dass die »neue Grundsicherung« nicht einmal eine richtige Grundsicherung ist: Der Regelsatz ist mit derzeit 563 Euro ohnehin schon so niedrig bemessen, dass bereits die Sanktionen von 30 Prozent soziales Elend garantieren. Dies und die Vollsanktion, die im Weiteren den Entzug der Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung nach sich ziehen soll, provozieren die Frage danach, ob die »neue Grundsicherung« gegen die Verfassung verstoßen wird.
Zwar stellte das Urteil zu den Sanktionen, das das Bundesverfassungsgericht im November 2019 fällte, einen geistigen Spagat dar, der auch in Fachkreisen kritisiert wurde. Nichtsdestotrotz war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts klar und deutlich darin, dass mehr als 30 Prozent vom Existenzminimum nicht gekürzt werden dürfen. Der vollständige Entzug der Sozialleistungen wurde zudem unter sehr hohe Voraussetzungen gestellt: Es muss sich im Grunde genommen um eine Situation handeln, in der die Bedürftigkeit gar nicht vorliegt, die abgelehnte Arbeit müsste existenzsichernd sein und die Betroffenen müssen zudem auch angehört werden.
Hinzu kommt die Dramatisierung der »Totalverweigerer«: Der Berichterstattung ließ sich dazu häufig die Zahl von 16.000 Personen entnehmen, die sich im Sozialtransfer befanden und ein Jobangebot ablehnten – das entspricht etwa 0,4 Prozent aller Menschen im Sozialtransfer. Gegenüber diesem kleinen Anteil an »Totalverweigerern« wirkt das Vorhaben und die Rhetorik zur »neuen Grundsicherung« wie die sprichwörtliche Kanone, mit der man auf Spatzen schießt.
»Wir sind es unserer eigenen Menschenwürde schuldig, andere menschenwürdig zu behandeln.«
Wie ist es um die Gerechtigkeit bestellt in einer Gesellschaft, die mit ihrer Totalsanktion auch die Mehrheit der Hilfsbedürftigen bedroht und ihnen pauschal unterstellt, sich so zu verhalten wie der verhältnismäßig kleine Teil der »Totalverweigerer«? Was ist das für eine Gerechtigkeit, die solch eine Sippenhaft nötig hat?
Die Sozialtransfers sollen lediglich das soziokulturelle Existenzminimum garantieren und stehen bereits in der Kritik, kleingerechnet und damit nicht bedarfsgerecht zu sein. Die Totalsanktion verweigert also dieses kleingerechnete Minimum an Existenzmöglichkeiten. Das soll einen Beitrag zu mehr Gerechtigkeit leisten?
Aus ethischer Sicht lassen sich aber noch viel mehr Dinge an der »neuen Grundsicherung« und der Debatte kritisieren. Sicher ist es eine berechtigte Frage, ob es gegenüber der Gesellschaft »ungerecht« und deshalb moralisch zu verurteilen ist, Sozialleistungen zu beziehen, aber nichts dafür tun zu wollen, um diesen Sozialbezug zu beenden. Neben allen sachlichen Aspekten, die hier zur Zurückhaltung mahnen – wie eben die geringe Zahl an »Totalverweigerern« –, ist ethisch vor allem eines relevant: die Menschenwürde.
Dabei handelt es sich um eine breit geteilte Basis-Norm des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die teils zum ikonischen Kulturgut geworden ist und Rechtscharakter angenommen hat – zum Beispiel in Artikel 1 des Grundgesetzes und der Europäischen Grundrechtecharta. Doch wie die Debatten um »Totalverweigerer« und die Sanktionen im deutschen Sozialsystem zeigen, scheint bis in diverse Fachkreise hinein nicht immer verstanden zu werden, was Menschenwürde eigentlich bedeutet.
Erstens ist daran zu erinnern, dass die Achtung der Menschenwürde absolut, unantastbar, unverfügbar und unteilbar gegenüber allen Menschen gilt. Auch jene Menschen, für die man keine Sympathie empfindet, die sich etwas haben zu Schulden kommen lassen, die schwersten Verbrecherinnen und Verbrecher – sie alle haben einen Anspruch auf einen menschenwürdigen Umgang. Das heißt: Auch die »Totalverweigerer« sind menschenwürdig zu behandeln, was die Sicherstellung einer soziokulturellen Existenz umfasst.
Zweitens ist Menschenwürde nicht nur nach außen, auf den Umgang mit anderen, gerichtet, sondern wirkt stets auf einen selbst zurück: Wer andere Personen menschenunwürdig behandelt, versündigt sich auch an der eigenen Würde. Wir sind es also unserer eigenen Menschenwürde schuldig, andere menschenwürdig zu behandeln.
»Den Sanktionen ist ihr existenzbedrohlicher Charakter nur deshalb oft nicht anzumerken, weil sie im abstrakten Anreiz-Jargon der Ökonomik daherkommen oder von Empörungsrhetorik begleitet sind.«
Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld, in dem Befindlichkeiten oder als »ungerecht« empfundene Situationen dem Prinzip der Menschenwürde unterzuordnen sind. Zumindest so lange, wie die eigene Menschenwürde davon nicht angetastet wird. Damit verbindet sich zwangsläufig eine Abwägung der Verhältnismäßigkeit.
Und das führt wieder zurück zu Friedrich Merz und seiner Totalsanktion: Es dürfte nämlich fraglich sein, dass etwa 0,4 Prozent potenzieller »Totalverweigerer« die Würde der einzelnen Gesellschaftsmitglieder verletzen. Die »Totalverweigerer« scheinen sich dann doch eher an ihrer eigenen Würde zu versündigen als an der von jeder anderen Person in der Gesellschaft. Aber auch das rechtfertigt es nicht, menschenunwürdig mit »Totalverweigerern« umzugehen.
Aus genau diesen Gründen trägt es nicht zu mehr Gerechtigkeit in Deutschland bei, den »Totalverweigerern« die Sozialleistungen komplett zu streichen: Das ist nicht verhältnismäßig, versagt den »Totalverweigerern« einen menschenwürdigen Umgang und versündigt sich an der eigenen Menschenwürde. Das klingt kompliziert? Damit wird etwas abverlangt? Es sind Spannungen auszuhalten? Richtig! Über so etwas wie Menschenwürde nachzudenken, ethisch zu reflektieren und sich dann auch an moralischen Werten auszurichten – das alles ist eben keine Schönwetterveranstaltung, die sich bequem nebenher erledigen lässt, sondern das ist tagtägliche Übung. Genau darin unterscheidet sich ethische Integrität von einem moralisierenden Populismus.
Was in den öffentlichen Debatten zum Sozialstaat vielfach zu vernehmen ist, das ist nicht einfach nur Unachtsamkeit oder Nachlässigkeit hinsichtlich ethischer Fragen. Dazu kommt, was mit dem Soziologen Wilhelm Heitmeyer als »Ideologie der Ungleichwertigkeit« zu bezeichnen wäre: Damit ist die bürgerliche Verrohung gemeint, mit der die Gleichwertigkeit und Menschenwürde aller Menschen angetastet wird.
Dies geschieht nicht etwa vom rechtsextremen Rand aus. Nein, es ist »die Mitte der Gesellschaft«, aus der heraus munter Vorurteile gegenüber Erwerbslosen bedient werden: Faulheit, finanzielle Unbildung, Sucht oder Sozialbetrug. Es sind die demokratischen Parteien der »Mitte«, die verantwortlich zeichnen für kleingerechnete Regelsätze im Sozialtransfer und für Sozialgesetze, die in existenziellen Fragen – Berechnung der Regelsätze und Sanktionen – verfassungswidrig waren. Genau diese »Mitte« möchte nun den Einsatz existenzbedrohlicher Sanktionen im Sozialtransfer verschärfen »bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist«, wie Arbeits- und Sozialministerin Bärbel Bas es ausdrückte.
Diesen Sanktionen ist ihr existenzbedrohlicher Charakter nur deshalb oft nicht anzumerken, weil sie im abstrakten Anreiz-Jargon der Ökonomik daherkommen oder von Empörungsrhetorik begleitet sind. Bei Lichte betrachtet lässt die Politik existenzbedrohlicher Sanktionen aber die Existenznot zum »normalen« Instrument der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik werden. Im Grunde handelt es sich hier um schwarze Pädagogik. Auch hier darf man bezweifeln, ob wirklich jemand glaubt, damit für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.
»Die ›neue Grundsicherung‹ ist ein Angriff auf uns alle.«
Nicht nur hat die vermeintlich verfassungstreue »Mitte« die Sache mit der Menschenwürde offenbar nicht begriffen. Gleichzeitig lässt der CDU-Kanzler Merz auch nur den leisesten Anflug von katholischer Soziallehre vermissen. So wirkt es beinahe schon wie höhere Ironie, dass Papst Leo XIV. fast gleichzeitig mit Merz’ Vollsanktions-Ankündigung mit seiner Lehrschrift »Dilexi Te« an die Öffentlichkeit trat. Denn diese widmet sich der Liebe zu den Armen und betont den respektvollen Umgang mit ihnen. Papst Leo XIV. unterstreicht, »die Würde eines jeden Menschen jetzt und nicht erst morgen zu respektieren«, und mahnt: »Das Elend so vieler Menschen, deren Würde negiert wird, muss ein ständiger Appell an unser Gewissen sein.«
»Dilexi Te« liefert damit einen warnenden Kontrast zum sozialpolitischen Reformprogramm der schwarz-roten Koalition in Deutschland. Aus einer ethisch aufgeklärten Perspektive drängen sowohl die »neue Grundsicherung« als auch die damit verbundene öffentliche Debatte dazu, auf die Negierung der Menschenwürde hinzuweisen, die sich mit der Lust am existenzbedrohlichen Strafen im Sozialstaat verbindet. Denn der vollmundig und stolz vorgetragene Wunsch, Menschen im Sozialtransfers total zu sanktionieren, ihnen die soziokulturelle Existenz zu versagen, tastet die Idee der Menschenwürde an. Die »neue Grundsicherung« ist damit – mal wieder – ein Angriff auf uns alle.
Sebastian Thieme ist Ökonom und arbeitet als wissenschaftlicher Referent an der Katholischen Sozialakademie Österreichs in Wien. Dort forscht er unter anderem zu Wohlstand, Wirtschaftsethik, Sozialökonomik und Pluraler Ökonomik.