21. November 2020
Auf ihrem Parteitag stilisieren sich die Grünen selbst zum Zeitgeist. Statt absolutem Widerstand gegen den Staat gibt es nun absolute Versöhnung.
Robert Habeck predigt nicht vom Leid der Corona-Krise, sondern erzählt eine Gewinnergeschichte.
Auf den ersten Blick ist der Unterschied zwischen einer Charity-Sendung auf Prosieben und der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen nicht ganz leicht auszumachen. Die Moderatoren sitzen verkrampft auf dem gelben Sofa im Studio-Wohnzimmer, der Bundesgeschäftsführer liest vom Teleprompter ab und zwischendurch laufen motivierende Videos aus den Landesverbänden. Das ganze Spektakel läuft noch etwas mühselig ab, aber man muss es den Grünen lassen, immerhin haben sie ziemlich fix einen digitalen Parteitag auf die Beine gestellt. CDU und Linke, die Personalwahlen vor sich haben, können von dieser Show wahrlich nur träumen.
Bei den Grünen hingegen ist schon alles entschieden. Das neue Grundsatzprogramm – gerade mal das vierte in der Geschichte der Partei – ist quasi der nachgelieferte Inhalt zur Personalentscheidung vor einem Jahr. Damals erhielten Annalena Baerbock und Robert Habeck über 90 Prozent der Delegiertenstimmen. An ihrer Führung zweifelt niemand.
Noch weniger zweifeln die Grünen an diesem Wochenende an ihrem Führungsanspruch. Das sagt selbst der trockene Michael Kellner, Bundesgeschäftsführer, der sich zum Anfang abmüht, den richtigen Spirit rüberzubringen. Jung und hip zu sein, das gelingt nicht allen auf Anhieb. Muss es vielleicht auch nicht, denn immerhin verbindet die Partei immer noch Flügelinteressen wie die von Auto-Überrealo Winfried Kretschmann, der seine Rede am Sonntag hält, und der jungen Aminata Touré, die sich für Gleichstellung einsetzt. Das alles in einem Studio zusammengehalten wird, verdankt sich eines selbstbewussten Slogans: »Jede Zeit hat ihre Farbe«.
Während die SPD im letzten Jahr noch versprach »in die neue Zeit« zu führen, kommen die Grünen also mit einer nicht minder großen Ansage um die Ecke. Der Slogan steht hell erleuchtet im sonst dunklen Studio. Ist das schon ein Hinweis auf Schwarz-Grün, sollen wir hier etwa eingelullt werden in die Erzählung, die Grünen seien der natürliche Ausdruck der Klimabewegung? Ja vielleicht, Marketing können sie.
Die Choreographie passt. Freitagabend betritt Annalena Baerbock aka Birgitte Nyborg aka Kamala Harris im weißen Profi-Kleid das Studio. Im Einspieler spüren wir die Borgen-Vibes, als das Foto mit ihr auf dem Fahrrad eingeblendet wird. Baerbock an der Seite von Kindern, von Pflegenden, es ist alles dabei. Nur die Rede selbst bleibt verstockt – ohne Publikum sei das nunmal so, wiegeln einige ab. Vielleicht ist es aber auch nicht entscheidend, wie sie den Text abliest oder ob jemand klatscht. Denn sie setzt die Wir-packen-es-an-Stimmung und den zentralen Begriff: sozial-ökologische Marktwirtschaft.
Selbst Friedrich Merz und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hätten es nicht schöner sagen können. Ökologie und Ökonomie in Einklang, nur wie? Das ist die Jahrhundertfrage. Entsprechend nimmt sie einen großen Teil des neuen Grundsatzprogramms ein. Der starke Staat lenkt, die Marktwirtschaft bleibt innovativ. Symbolträchtig spricht Baerbock in ihrer Rede vom »grünen Stahl«. Zuletzt war sie öfter zu Besuch beim Bund der Deutschen Industrie, dem dürfte die Lobeshymne auf den Maschinenbau gefallen haben.
Nicht zuletzt stehen die Grünen im Widerspruch zwischen Programm und Realpolitik. Während die Parteivorsitzenden von der Autobahn sprechen, die sie am liebsten gar nicht bauen würden, werden Klimaaktivistinnen und -aktivisten im hessischen Dannenröder Wald von der Polizei bedrängt. Wo die Grünen regieren – und das zu tun ist ja ihr Ziel – müssen sie hart gegen jene in der Klimabewegung auftreten, die sie zu vertreten beanspruchen. Wollen sie der natürliche Ausdruck ihrer Zeit sein, dann werden sich die Widersprüche zwischen ökonomischem Wachstum und Grenzen der Ökologie nicht so leicht auflösen lassen wie es vor allem in Robert Habecks Rede anklingt.
Gerade seine Rede klingt eher wie eine Predigt, doch er predigt nicht vom Leid, das die Corona-Krise bringt, sondern erzählt eine reine Gewinnergeschichte. Immerhin ist ein Impfstoff in Aussicht und wir können uns ja Essen liefern lassen. Dass es andere braucht, die weiter an den Kassen der Supermärkte sitzen oder das Essen liefern müssen, nun, das würde das Zukunftsnarrativ doch stören. Wie ein Steuermann geriert sich Habeck, wenn er mit zahlreichen See-Metaphern klarmachen will, dass die Grünen bereit sind, zu führen. Und dass sie willens sind, die Gesellschaft zu einen.
Wer so versöhnlich spricht, verschließt wohl die Augen vor der Wirklichkeit. Mirnichtsdirnichts wird auch der Sieg von Joe Biden als gemeinsamer Triumph einer großen Bewegung gefeiert. Auf diesem Parteitag wird alles Positive eingemeindet, das nicht niet- und nagelfest ist. Sogar die eigene Gründungsgeschichte wird dabei galant umformuliert: Es kommen Gründungsmitglieder zu Wort, die sich über die Entwicklung von der Bewegungs- zur Regierungspartei freuen. Brüche, Kriege, die Agenda-Politik, das alles wird natürlich nicht erwähnt. Die Geschichte beginnt 1980 und führt geradlinig ins Jahr 2020. Das mag eine kluge Strategie für den Wahlkampf sein, doch sie könnte spätestens nach der Wahl große Enttäuschungen zur Folge haben. Insbesondere dann, wenn die Grünen sich entscheiden sollten, mit den Christdemokraten zu koalieren.
Doch das ist gar nicht explizites Ziel, lieber lässt man alles offen. Klar ist dagegen der Anspruch, selbst sogar stärkste Kraft noch vor der CDU zu werden. Machtpolitisch wäre das der nächste große Schritt. Ideologisch vorbereitet wird er durch das zweite wichtige Schlagwort dieses Parteitags: die »ökologische Moderne«. Denn wer selbst beansprucht, die Moderne zu revolutionieren, der kommt um die Führungsrolle gar nicht umhin. Die Frage ist nur, ob die großen Worte und die Inszenierung darüber hinwegtäuschen können, dass eine mittlerweile bürgerliche Partei dabei ist, ihr altes Fundament durch ein neues, ganz anderes zu ersetzen: statt absolutem Widerstand gegen den Staat gibt es nun absolute Versöhnung.
Entscheidend wird auch sein, ob sie die Führung einer grün-rot-roten Regierung beanspruchen wollen, was das neue Grundsatzprogramm zweifelsfrei eher zulässt als ein Bündnis mit der Union. Sollten sich alle drei Parteien auf das 1,5-Grad-Ziel einigen, käme es in Zukunft darauf an, untereinander eine Arbeitsteilung zu definieren, die das Ziel erreichen kann und auch eine Mehrheit findet. Das müsste allerdings vorbereitet werden. Solange die Grünen sich zieren, hier eine Richtung vorzugeben, wird das nicht gelingen.
Ines Schwerdtner ist Host des JACOBIN-Podcasts Hyperpolitik und war von 2020-2023 Editor-in-Chief von JACOBIN.