06. April 2020
In der Pandemie zeigt der Staat seine enorme Macht – zum Guten wie zum Schlechten. Ein Essay.
Es ist kein Zufall, dass in diesen Tagen die berühmte Titelillustration von Hobbes ‘Leviathan’ wieder die Runden macht.
Ich erinnere mich, wie ich als frisch politisierter Jugendlicher hitzige Diskussionen zum Sozialabbau der Regierung Schröder führte, mit einem Grünen, dessen catch phrase war, die Zeit des »Etatismus« und der »linken Staatsgläubigkeit« sei vorbei. Die Zukunft gehöre intelligent designten Märkten, die Unternehmen, staatliche und »zivilgesellschaftliche Akteure« flexibel zusammenbringen und so den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern ein ungeahntes Maß an Freiheit und Aktivierung bescheren würden.
Wie die Soziologin Stephanie Mudge beschreibt, gehörte die Entwaffnung des Staates gegenüber Märkten und die pragmatisch-passive Anpassung an ihre Dynamik zum Kern der neoliberalen Revolution. Diese wurde maßgeblich durch den programmatischen Schwenk von Mitte-Links-Parteien vollzogen. Diskussionen über staatliche Regulierung zum Wohl der Beschäftigten, Besteuerung von Unternehmen zur universellen Bereitstellung von Gemeingütern oder gar Vergesellschaftung von Banken erschienen wie ein peinliches Relikt der 1970er Jahre. Es war die Zeit der Deregulierung, Privatisierung und Reorganisierung öffentlicher Institutionen nach privatwirtschaftlichen Prinzipien; etwa bei der Einführung kommerzieller Management-Methoden in jenen deutschen Krankenhäusern, die man nicht direkt an profitorientierte Konzerne verkaufte.
Was von dieser Staatsskepsis die Finanzkrise überlebte, ist spätestens mit dem gegenwärtigen Corona-Schock so tot wie eine Ideologie nur sein kann. Heute denken selbst der Internationale Währungsfonds und CDU-Wirtschaftsminister Altmaier laut über die staatliche Übernahme großer Unternehmen nach, die in den kommenden Wochen von Insolvenz bedroht sein werden. Und die Redaktion des neoliberalen Kampfblatts Financial Times, schreibt in ihrem Editorial vom 4. April:
»Es gehören nun radikale Reformen auf den Tisch, die die politische Richtung der letzten vier Jahrzehnte rückgängig machen. Regierungen müssen sich zu einer aktiveren Rolle in der Wirtschaft bereitfinden. Sie müssen öffentliche Leistungen als Investitionen ansehen, statt als Kostenfaktoren, und die Entsicherung der Arbeitsmärkte bekämpfen. Umverteilung wird wieder auf der Agenda stehen, die Privilegien der Alten und Reichen in Frage gestellt werden. Staatliche Interventionen, wie Reichensteuern und Grundeinkommen, die bis vor kurzem als exzentrisch galten, werden ein Teil der richtigen Mischung sein.«
Die gegenwärtige Krise schlägt vor unser aller Augen nacheinander in alle gesellschaftlichen Funktionssysteme ein, eine Unzahl massiver, zentralisierter Anstrengungen des Ausgleichs, der Kompensation und Koordination sind erforderlich. Es wird deutlich, dass nur der Staat zu derlei Aufgaben in der Lage ist – und auch nur der Staat die gesellschaftliche Legitimität besitzt, das Verhalten von Millionenbevölkerungen von einem Tag auf den anderen in neue Bahnen zu lenken.
Ob durch polizeilich überwachte Kontaktverbote und Ausgangssperren, Lohnausgleichszahlungen und schuldenfinanzierte Investitionsprogramme, die Anwendung von Kriegsgesetzen, um große Unternehmen zur Produktion medizinisch notwendiger Güter zu verpflichten oder die Entscheidung über die Priorität bestimmter Patientengruppen durch staatliche Ethikkommissionen: In der Krise entfaltet der Staat das ganze Arsenal seiner Macht.
Die frenetische Aktivität und die ungewöhnliche Sichtbarkeit staatlicher Administration in diesen Tagen zeigt, was möglich ist, wenn Dringlichkeit und politischer Wille den Apparat befähigen, Menschen und gesellschaftliche Systeme umfassend und rapide zu mobilisieren.
Genau jetzt müssen wir uns deshalb mit den vielen Gesichtern des Staates vertraut machen, die im Normalfall meist verborgen bleiben. Nur so können wir uns auf das vorbereiten, was uns in der Zeit nach Corona schwant – und womöglich die Chance ergreifen, durch die Katastrophe einen weiteren Horizont zu erlangen. Denn die »Staatsgläubigkeit« wird groß sein in der Post-Corona-Zeit, mit allen Möglichkeiten und Gefahren. Die gegenwärtige Krise könnte ein Vorgeschmack auf die Auseinandersetzungen sein, die sich schon bald um den Fallout der anderen menschengemachten Naturkatastrophe, den schleichenden ökologischen Kollaps, entzünden werden.
Die Kontrolle von Menschen ist vielleicht die offensichtlichste Funktion des Staates. Sowohl unsere Alltagswahrnehmung als auch ein großer Teil akademischer Theorien verbindet den Staat in allererster Linie mit Institutionen rechtlich mehr oder minder umschränkter Gewalt, wie der Polizei, dem Militär oder auch der Regierungsgewalt. Der Philosoph Thomas Hobbes gab diesem Gesicht des Staates den Namen »Leviathan«, ein Ungeheuer aus dem Alten Testament.
Im Buch Hiob droht Gott mit dem Leviathan als dem schlimmsten aller Raubtiere:
»Sein ganzer Rücken ist aus festen Schilden, verschlossen und versiegelt, undurchdringbar. Das Licht sprüht strahlend hell bei seinem Niesen und wie das Morgenrot glühn seine Augen. In seinem Nacken wohnt so große Kraft, dass jeder, der es sieht, vor Angst erzittert. Sein Herz ist hart wie Stein. Selbst die Stärksten weichen voller Angst vor ihm zurück. Auf Erden kannst du nichts mit ihm vergleichen.«
Aus Hobbes Sicht war es der Staat, dem in neuerer Zeit die unausweichliche Allmacht dieses Monsters zufällt. Traumatisiert vom Chaos des englischen Bürgerkriegs empfahl er eine scheinbar paradoxe Wendung: Die sich unweigerlich bekriegende Bevölkerung solle befriedet werden, indem sie sich unter einem Staat versammle, inklusive seinem fürchterlichen Arsenal institutionalisierter Gewalt: Kerkern, Geschützen und Polizeipatrouillen. Als Einzelne würden die Bürgerinnen und Bürger so zwar entmachtet, doch als Teil des Souveräns seien sie geschützt und befähigt, friedlich ihren Geschäften nachzugehen.
Es ist kein Zufall, dass in diesen Tagen die berühmte Titelillustration von Hobbes »Leviathan« wieder die Runden macht. Wer durch die leeren Straßen einer Stadt im Lockdown läuft, ist erschlagen von der Effizienz, mit der sich das Leben einer ganzen Gesellschaft auf Order von oben hinter die Fassaden verkriecht. Es könnte der Tag nach einem Putsch sein.
Wie der Historiker Michel Foucault zeigte, waren es in der Geschichte oft Zeiten der Epidemie, in denen staatliche Institutionen zentrale Regierungstechniken entwickelten und perfektionierten: So die Ausstoßung mit Lepra infizierter Gruppen vor die Tore der Stadt, die Einschließung der Stadtbewohner in Häusern und Quartieren während der Pest, oder die statistische Beobachtung und präventive Impfung von Bevölkerungen gegen die Pocken. Alle diese gesundheitlichen Interventionen standen für ein bestimmtes Verhältnis des Staates zu »seiner« Bevölkerung. In ihnen manifestierte sich eine bestimmte Art des Regierens, die auch jenseits der akuten Krankheitszeiten zum Einsatz kam.
Und heute? Philipp Sarasin bemerkt, dass die Corona-Bewältigung eine Mischung des »Pest«- und des »Pocken«-Modells ist: halb Einsperrung, halb statistische Beobachtung und Prävention. Es gilt in diesen Tagen also besonders wachsam zu beobachten, wie den Polizistinnen und Polizisten derzeit bei aller Sorge eine klammheimliche Freude über die Aufwertung ihrer Rolle als Vollstreckerinnen staatlicher Macht anzumerken ist; und wie sie regelmäßig über ihr Mandat hinausschießen. Wie politische Entscheidungen hinter den computer-simulierten Modellen vermeintlicher Experten versteckt werden, wie im Falle der fehlgeleiteten »Herdenimmunitäts«-Strategie der britischen »Nudge Unit« oder dem Versagen der niederländischen Forschungsbehörde RIVM. Und wie die Beobachtung von oben sich mit der nervösen Diskussion um Kurven und Ansteckungsraten einer plötzlich kollektiv zu Virologinnen mutierten Bevölkerung vermischt, die sich schließlich in Rufen nach härterem Durchgreifen Bahn bricht.
»Der Totalitarismus spricht die äußerst gefährlichen emotionalen Bedürfnisse von Menschen an, die in kompletter Isolation und in Angst voreinander leben«, schrieb Hannah Arendt 1974. Wo aufrührerische Krisen die Angst und Verzweiflung der Menschen kollektivieren und in den öffentlichen Raum tragen, finden wir uns heute als vereinzelte, besorgte Medienkonsumentinnen hinter den Mauern unserer Wohnungen wieder, wartend auf das Handeln unserer gemeinsamen Vorgesetzten.
In Staaten wie Ungarn und Israel, die sich seit Jahren zielstrebig in die Autokratie bewegen, schuf diese Lage den perfekten Anlass für weitreichende Manöver der Machtausdehnung seitens der Exekutive. Doch auch in Portugal und Italien wurden mit dem Notstand soziale Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern von einem Tag auf den nächsten außer Kraft gesetzt, in Deutschland wird der staatliche Einsatz handybasierter Überwachungstechniken diskutiert. Die Übergänge zwischen demokratischer Bewältigung und autoritärem Ausnahmezustand sind immer nur graduelle, als gesellschaftlicher Zustand liegen zwischen ihnen nicht mehr als ein paar Jahre technokratischer Ermächtigung plus politischer Zersetzung von rechts.
Die in diesen Tagen von Journalisten wie Heribert Prantl geäußerte liberale Kritik an den Auswüchsen staatlicher Kontrolle in der Krise ist richtig und willkommen. Doch sie trifft bloß die Spitze des Eisbergs. Denn der Ruf nach staatlichem Schutz vor der Ansteckung draußen – so sinnvoll er in der gegebenen Situation ist – ist in gewisser Weise bloß eine Steigerung des Normalzustands.
Vor einiger Zeit verbrachte ich einen Nachmittag mit der Nachbarin meiner Eltern, einer lieben, reservierten Frau, die stramm auf die hundert zuging. Sie war, wie ich, im Bayerischen Viertel in Berlin aufgewachsen und erzählte mir davon, wie »man« die zahlreichen jüdischen Nachbarn »irgendwann halt nicht mehr gegrüßt hat«, bis sie nach und nach weg waren, von der Dauerbombardierung des Viertels im Krieg und dem Hunger danach – sie mit den Kindern, ihr Mann acht Jahre Gefangener in Russland. »Schlimme, schlimme Zeiten«, beendete sie ihre Erzählung und schwieg eine Weile, die Luft dicht in ihrem beigen Wohnzimmer, der Fernseher flackernd in der Ecke. Dann fügte sie hinzu, »aber so schlimm wie heute, mit den ganzen Messerstechereien, so schlimm war es noch nie.«
Die Anekdote steht für einen Gefühlszustand, der weit verbreitet ist. 2016 gaben in einer großangelegten Umfrage des Sozioökonomischen Panels gut 80 Prozent der Befragten in Deutschland an, sich »gewisse« oder gar »große Sorgen« bezüglich der Kriminalitätsentwicklung in Deutschland zu machen. In einem Jahr, in dem die Zahl polizeilich verzeichneter Straftaten so niedrig war, wie zuletzt fast 25 Jahre zuvor. Globale Tendenz: stagnierend. Für mich ist die Nachbarin ein Bild dieses Gefühlszustands, weitgehend immobil und oft allein, blickte sie auf die Welt durch die Augen des Fernsehens, das eine rohe Welt von Intensivtätern mit verpixelten Augenpartien zeigt, eine Gesellschaft außer Kontrolle.
Krisen sind bloß die Steigerung eines gefühlten Kontrollverlustes, der auch im Normalzustand autoritäre Bedürfnisse befeuert. Sie führen uns vor Augen, dass wir als Einzelne unfähig sind, die gesellschaftlichen Bedingungen unseres Lebens zu kontrollieren. Arbeitsplätze, Infrastruktur, Ordnung, Versorgung und Verkehr: Nichts befähigt uns, die Knäuel von Strukturen hinter all diesen Alltäglichkeiten zu begreifen oder selbst in die Hand zu nehmen. Unser Alltag ist so organisiert, dass bis auf eine winzige Zahl von Expertinnen des Regierens und Verwaltens alle die entscheidenden Fragen anderen überlassen und sich ganz dem kleinen Taktieren in ihrem nahen Umfeld hingeben. So ist es nicht verwunderlich, dass sich in Krisenzeiten bei uns zuallererst die bange Erwartung regt, es möge doch von oben jemand eingreifen, die Dinge richten und wieder »Vertrauen schaffen«.
Liberale Kritik, die sich ganz auf die Macht des Ungeheuers konzentriert, verkennt, dass die noch größere Bedrohung von unserer eigenen Machtlosigkeit ausgeht. In der aus ihr resultierenden Angewiesenheit auf die Steuerung der Eliten zeigt sich in der Krise das ebenso alltägliche wie fürchterliche Gesicht des Leviathan.
Und auch die liberale Strategie zur Einhegung des Leviathan bleibt verkürzt, wo sie sich Politik als heroisches Ringen mutiger Publizistinnen mit übergriffigen Staatsapparaten vorstellt. Die gesetzlichen und verfassungsmäßigen Schranken und Normen, um die es in diesem Ringen geht, werden derzeit allenthalben von entschlossenen Rechten mit Füßen getreten – in dem Wissen, dass sie außer kritischen Editorials keine Gegenwehr zu erwarten haben.
Die wirksamere Weise, das Monster zu zähmen, ist eine Ausdehnung der Kontrolle normaler Menschen über die Bedingungen ihres Alltagslebens. Hier nimmt eine sozialistische Antwort auf das autoritäre Gesicht des Staates ihren Ausgang. Während die Corona-Krise viele von uns auf die einsamen Inseln unseres Privatlebens verbannt, macht sie andererseits deutlich, wie abhängig wir von den Tätigkeiten Millionen anderer und dem Funktionieren riesiger Infrastrukturen sind. Als zu Beginn der Epidemie die Bilder von Hamsterkäufern und Preppern durch die Medien gingen, bemerkte der Soziologe Kieran Healy trocken: »Du bist nicht weniger mit allem verbunden, wenn du mit einer vollen Garage am Ende der globalen Lieferkette hängst«.
Diese Abhängigkeit wird zur Bedrohung, wenn wir fühlen, wie ohnmächtig wir sind. Und es ist dieses Gefühl der Ohnmacht, gegen das uns die zwingende, autoritäre Seite des Staates Abhilfe verspricht. Der wirkliche Gegenentwurf zu dieser autoritären Lösung besteht darin, die Abhängigkeit von der Arbeit vieler anderer in eine positive, menschliche Tatsache zu verwandeln: Indem wir sie in Institutionen einbetten, die es der arbeitenden Masse der Menschen erlauben, Entscheidungen über unsere Lebensbedingungen zu treffen.
Unsere Gesellschaft ist zu komplex, um allen unmittelbar Anteil an der Steuerung von Kraftwerken und Kindertagesstätten, Stadtplanung und Seuchenschutz zu geben. Doch in den Kernbereichen des Alltags, den Arbeitsplätzen und Wohnquartieren, wie auch der Versorgung auf der Ebene der sogenannten Fundamentalökonomie (etwa Strom und Wasser, aber auch Pflege und Bildung) sind effektiv vermittelte Formen demokratischer Kontrolle oder gar der Selbstverwaltung machbar. Sie zu ermöglichen und zu organisieren ist Aufgabe des Staates, den wir brauchen.
Linus Westheuser ist Redakteur bei Jacobin.
Linus Westheuser ist Soziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin und Contributing Editor bei JACOBIN.