24. Juni 2021
Immer mehr Rentner und immer weniger Beitragszahler: Wegen des sinkenden Rentenniveaus schlagen CDU und FDP vor, dass der Staat mit der Rente an die Börse geht. Das ist weder sinnvoll noch notwendig.
Für die leeren Rentenkassen wird oft der demografische Wandel verantwortlich gemacht. Tatsächlich ist das Finanzierungsproblem politisch gemacht.
Unsere Gesellschaft wird immer älter. Es wird also zukünftig immer mehr Rentnerinnen und Rentner und gleichzeitig immer weniger Erwerbstätige geben. Diese Tatsache wird häufig als Bedrohungsszenario gezeichnet: Wenn immer mehr Leute vom Rententopf leben, aber immer weniger Leute einzahlen, ist irgendwann der Topf leer. Deshalb wollen FDP und CDU die Leute länger schuften lassen und mit einem Teil der gesetzlichen Rente an die Börse gehen. »Aktienrente« wird das dann genannt und als neue vierte Säule neben der gesetzlichen, betrieblichen und privaten Altersvorsorge ins Gespräch gebracht. Sonst seien gute Renten nicht mehr finanzierbar, so das Argument. Dabei wird die Rentenfrage unter völlig falschen Prämissen diskutiert.
Eine Gesellschaft kann nur verbrauchen, was sie produziert. Je mehr pro Kopf produziert werden kann und je mehr Köpfe produktiv eingesetzt werden, desto besser geht es einer Gesellschaft. Die große Frage lautet: Können wir auch mit weniger Erwerbstätigen noch genug produzieren? Tatsächlich steigt die Produktivität – also die Produktion pro Kopf– stetig an. Heute produzieren wir pro Kopf 3,5 Mal so viel wie vor sechzig Jahren. Es sollte also kein Problem darstellen, alle Rentnerinnen und Rentner zu versorgen – theoretisch zumindest. Doch der materielle Wohlstand ist schlecht verteilt. Niedriglöhne und die Senkungen des Rentenniveaus – allesamt Konsequenzen der Agenda-Politik der SPD – haben dazu geführt, dass die Mehrheit der Bevölkerung ein immer kleineres Stück vom stetig wachsenden Kuchen abbekommt.
Wer etliche Jahre malocht hat, der hat einen Anspruch darauf, mit seiner Rente seinen Lebensstandard halten zu können. Das ist leider immer seltener der Fall. Das Alter ist im Neoliberalismus zum ökonomischen Risikofaktor geworden. Finanzielle Unsicherheit und Existenzängste sind die Folge. Mit den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010, die den Niedriglohnsektor in Deutschland aufgeblasen haben, hat diese Entwicklung ihren Lauf genommen. Wer wenig verdient, zahlt weniger ein und bekommt auch weniger raus.
Hinzu kommt, dass die gesetzliche Rente im neoliberalen Austeritäts- und Privatisierungswahn unter die Räder gekommen ist. Private Versicherungen und neoliberale Marktschreier konnten die Riesterrente durchsetzen. Die ist nicht nur ineffizient, weil private Versicherungen daran mitverdienen, sie ist für Niedriglohnbezieher auch finanziell außer Reichweite. Das alles hat dazu geführt, dass Rentnerinnen und Rentner immer häufiger drastische Einschnitte in ihren Einkommen und sinkende Lebensstandards hinnehmen müssen. Ein kaputter Kühlschränke oder eine defekte Waschmaschine werden zur ernsthaften finanziellen Belastung.
Im Wesentlichen gibt es zwei verschiedene Rentenmodelle, die den Diskurs und die Politik beherrschen: die umlagefinanzierte und die kapitalgedeckte Rente. Bei der umlagefinanzierten Rente wird angenommen, dass diejenigen, die heute in den Rententopf – also die gesetzliche Rentenversicherung – einzahlen, die Renten der heutigen Rentnerinnen und Rentner finanzieren. Aus einem realen Problem – Versorgung der Nicht-Erwerbstätigen mit Gütern und Dienstleistungen – wird ein rein finanzielles Problem – Einzahlungen in die Rentenkasse. Tatsächlich ist das Finanzierungsproblem aber politisch gemacht.
Es ist nicht so, dass es unserer Gesellschaft insgesamt an Geld mangelt. Doch es ist schlecht verteilt. Die Schere bei den Einkommen und den Vermögen geht immer weiter auseinander. Diejenigen, die viel verdienen, zahlen den Rentensatz nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze von 7.100 Euro in Westdeutschland und 6.700 Euro in Ostdeutschland. Diejenigen, die wenig verdienen, können gar nicht genug einzahlen, um eine auskömmliche Rente zu erhalten. All das könnte man ändern, etwa durch höhere Beitragsbemessungsgrenzen, höhere Löhne oder auch durch eine Ausweitung der Einzahlung auf Selbständige und Beamte.
Aber muss die Rente eigentlich eine Versicherung sein? Nein. Man könnte die Rentenversicherungsbeiträge auch einfach durch höhere Sätze bei der Einkommensteuer ablösen und eine gute Rente zu einer öffentlichen Garantieleistung des Staates machen, die über den Haushalt statt über die Rentenkasse läuft. Damit gäbe es dann keine Töpfe mehr, die leer werden können. Das würde kleine Einkommen entlasten und große belasten. Die Beitragsgrenze nach oben wäre hinfällig und die Einkommensteuer progressiv ausgestaltet – wer mehr hat, zahlt auch höhere Steuersätze und andersherum. Außerdem wäre es effizienter und unbürokratischer, die Rente über den Haushalt laufen zu lassen, als eine separate Behandlung der Sozialversicherungsbeiträge zu bewerkstelligen.
Bei der kapitalgedeckten Rente wird üblicherweise – aber nicht notwendigerweise – in eine private Rentenversicherung eingezahlt. Die Riesterrente ist die private Variante und die von der FDP und CDU vorgeschlagene Aktienrente ist die öffentliche Variante einer kapitalgedeckten Rente. In diesen Modellen wird das eingezahlte Geld am Kapitalmarkt angelegt, soll dort Zinsen erwirtschaften und dann beim Eintritt in die Rente wieder ausgezahlt werden. Im Gegensatz zur umlagefinanzierten Rente finanziert hier jede Person ihre eigene Rente, indem sie ihre Kaufkraft in die Zukunft zu übertragen versucht. Auch hier wird aus dem realen Problem ein finanzielles konstruiert.
Die Idee der kapitalgedeckten Rente basiert auf einer makroökonomischen Fehlannahme, nämlich dass sich die Kaufkraft in die Zukunft verlegen lässt. Für einen Privathaushalt mag das stimmen. Sparen, also heutiger Konsumverzicht, kann zum Zwecke von höherem Konsum in der Zukunft, etwa im Rentenalter, durchaus sinnvoll sein. Gesamtgesellschaftlich geht der Plan aber nicht auf. Wir können uns nicht alle eine gute Renten ersparen.
Dieses Phänomen hat der Ökonom John Maynard Keynes seinerzeit als »Sparparadoxon« bezeichnet. Eine der einfachsten aber wichtigsten ökonomischen Gesetzmäßigkeiten ist, dass des Einen Ausgaben des Anderen Einkommen sind: Meine Ausgaben beim Bäcker Lutze, sind die Einnahmen von Bäcker Lutze. Jeder, der also für seine Rente spart und damit auf Konsum verzichtet sowie seine Ausgaben verringert, senkt damit das Einkommen anderer Personen, die dadurch wiederum selbst gezwungen werden, ihre Ausgaben ebenfalls zu kürzen – eine Abwärtsspirale.
Unternehmen reagieren auf die sinkende Nachfrage mit Produktionsrückbau, Entlassungen und verringern ihre Investitionen. Eine schwindende Wirtschaftsleistung und eine niedrigere Produktionsmenge sind aber genau das Gegenteil von dem, was angesichts der demografischen Entwicklung erforderlich wäre. Sparen mag also im Privaten sinnvoll sein, gesamtwirtschaftlich ist es aber kontraproduktiv. Eine Gesellschaft als Ganzes kann ihre Kaufkraft nicht in die Zukunft übertragen.
Wir sind reich genug, um auch mit weniger Erwerbstätigen alle Menschen zu versorgen. Rentenkürzungen und höhere Abschläge für vorzeitige Rentenantritte verschärfen die ohnehin ungerechte Verteilung nur noch weiter. Wer eine gute Rente für alle will, der muss sich hingegen über Umverteilung, Produktivität und Vollbeschäftigung Gedanken machen. Die Aktienrente hilft hier nicht.
Es ist nicht notwendig, dass der Staat an der Börse spekuliert, um auskömmliche Renten zu garantieren. Stattdessen sollten die Löhne kräftig angehoben und die untere Hälfte der Bevölkerung bei der Einkommensteuer entlastet werden, damit der Kuchen wieder gerechter verteilt wird. Wir brauchen eine Investitionsoffensive in Bildung, Digitalisierung, Forschung und Infrastruktur, damit wir produktiver werden können. Und wir brauchen eine konsequente Vollbeschäftigungspolitik samt Jobgarantie, um alle verfügbaren Arbeitskräfte zu nutzen und den Kuchen größer werden zu lassen. Nur so können wir sicherstellen, dass alle Menschen auch in einer Zukunft mit weniger Erwerbstätigen angemessen versorgt sind.
Maurice Höfgen ist Autor des Buches »Mythos Geldknappheit« und betreibt den YouTube-Kanal »Geld für die Welt«.
Maurice Höfgen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Bundestag und Autor des Buches »Mythos Geldknappheit«. Zudem betreibt er den YouTube-Kanal »Geld für die Welt«.