24. Februar 2021
Alte Menschen werden in Deutschland häufig von Arbeiterinnen aus Osteuropa gepflegt. Weil es hier kaum Regulierungen gibt, gehören Lohndumping und 24h-Stunden-Einsätze für sie zum Alltag. Dagegen wehrt sich eine bulgarische Pflegerin mit einer Klage.
Anstatt die Bedingungen in der häuslichen Pflege zu verbessern, nutzt Deutschland das Lohngefälle innerhalb der EU aus und rekrutiert Arbeiterinnen aus Osteuropa (Symbolfoto).
Die Geschichte von Frau Aleksewa (Name geändert) ist typisch für viele migrantische Arbeitende aus Osteuropa. Aufgewachsen im sozialistischen Bulgarien, begann sie ihre Karriere bei Balkantourist, der staatlichen Tourismusagentur, die im gesamten Ostblock für ihre Schwarzmeer-Urlaubspakete bekannt war. Nach der Privatisierung in den 1990er Jahren arbeitete sie weiter im Gastgewerbe, musste aber mit zunehmendem Alter feststellen, dass viele Hotels jüngere Angestellte bevorzugten. In der Not sah sie sich gezwungen, schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs anzunehmen, um über die Runden zu kommen.
Ihre ohnehin schon schwierige Lage spitzte sich weiter zu, als Frau Aleksewas Ehemann eine Reihe von Schlaganfällen erlitt. Als sie ihn daraufhin in Vollzeit-ähnlichem Umfang pflegen musste, konnte sie nur noch gelegentlich arbeiten, wenn es sein Gesundheitszustand erlaubte. Das bulgarische Gesundheitssystem hat im EU-Vergleich den zweithöchsten Anteil an Zuzahlungen – so hatte sich das Ehepaar schon bald wegen der Krankenhausrechnungen und Medikamente hoch verschuldet. Schließlich verstarb ihr Mann und sie hatte »alleine hohe Ausgaben und Kredite« zu schultern, wie sie erzählt.
Ihr wurde bewusst, dass sie ihre Schulden mit dem Geld, das sie in Bulgarien verdiente, niemals würde zurückzahlen können. Also begann sie, die örtlichen Zeitung zu durchforsten – in der Hoffnung, dass sie mit den Fremdsprachenkenntnissen, die sie in ihrem früheren Beruf erworben hatte, eine besser bezahlte Stelle im Ausland finden könnte. Sie bewarb sich bei einer Personalagentur, die osteuropäische Fachkräfte für die Altenpflege in Deutschland rekrutierte und verließ ihre Heimat 2013. Doch entgegen ihrer Hoffnungen löste die Arbeit im Ausland ihre finanziellen Probleme nicht, sondern verschlimmerte sie nur noch.
In weniger als zwei Jahren hatte sie als Hauspflegerin für vier verschiedene Familien gearbeitet, Freundschaften mit anderen Pflegekräften geknüpft – und sogar mit den Menschen, die sie betreute. Dennoch fühlte sie sich völlig allein. »Wir schlafen, wo die alten Menschen schlafen, wir essen, wo sie essen. Wir bereiten Essen zu, räumen auf, putzen, waschen, bügeln, wechseln Windeln, verabreichen Medikamente, gehen mit ihnen spazieren und sprechen mit ihnen. Es gibt kein Entkommen.« Zwar hatte Frau Aleksewa einen 30-Stunden-Vertrag, jedoch mussten die Menschen, die sie betreute, rund um die Uhr versorgt werden. Dabei war kaum daran zu denken, sich eine kurze Auszeit zu nehmen, um sich mit der neuen Umgebung vertraut zu machen. Hinzu kam, dass ihr Arbeitgeber nicht bereit war, ihr eine deutsche Krankenversicherung zu bieten – eine Erfahrung, die viele migrantische Arbeitskräfte machen müssen.
Letztlich hatte sie es satt, um jeden freien Tag und den ihr vertraglich zustehenden bezahlten Urlaub betteln zu müssen. Sie durchschaute die Buchhaltungstricks der Firma und wusste, dass sie ungerecht behandelt wurde. Also trat sie einer Gewerkschaft bei, was für Beschäftigte aus ihrer Branche eher unüblich ist, und wandte sich an die DGB-Beratungsstelle Faire Mobilität, die osteuropäische Arbeiterinnen und Arbeiter über ihre Rechte in Deutschland informiert.
Dieser Tage steht sie im Mittelpunkt eines Gerichtsverfahrens gegen ihren bulgarischen Arbeitgeber in Deutschland. Sie fordert die Nachzahlung aller geleisteten Überstunden und durchgearbeiteten Wochenenden. Wenn sie den Prozess für sich entscheiden kann, könnte sich dieser Erfolg in bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne für alle Hauspflegerinnen übersetzen. Denn wie der vorsitzende Richter im ersten Rechtsstreit, den sie im August 2019 vor dem Berliner Arbeitsgericht gewann, bekräftigte: »Das Geschäftsmodell als solches steht hier auf dem Prüfstand«. Laut einer Sprecherin des Gerichts ist der Fall von »grundsätzlicher Bedeutung« und bietet den deutschen Gewerkschaften eine einmalige Gelegenheit, die weit verbreiteten ausbeuterischen Praktiken im Pflegesektor aufzudecken und anzugehen. Das lässt hoffen, dass sich die Situation für Arbeitende aus Osteuropa in Deutschland verbessert – hätte Frau Aleksewa nicht den Mut gehabt, öffentlich über die Missstände zu sprechen, wäre das undenkbar gewesen.
In Deutschland, einem der wenigen Länder, das eine eigene Säule für Langzeitpflege in sein öffentliches Sozialversicherungssystem eingeführt hat, ist Frau Aleksewa eine von schätzungsweise 400.000 osteuropäischen Arbeiterinnen und Arbeitern – überwiegend Frauen –, die sich um ältere Menschen kümmern. Doch die Langzeitpflege kann seit Jahrzehnten nicht adäquat gewährleistet werden, was unter anderem auf den demographischen Wandel zurückzuführen ist, aber auch auf den Personalmangel in der Branche, der durch die niedrigen Löhne und die mit der Pflegearbeit verbundene hohe Belastung bedingt ist.
Im Jahr 2018 erhielten etwa 3 Millionen Seniorinnen und Senioren in Deutschland häusliche Pflege. Weitere 700.000 wurden in Pflegeheimen betreut. Die Zuzahlungen, die für diese Pflegeleistungen anfallen, sind höher als die staatlichen Hilfen, die ältere Menschen erhalten. Wohlhabendere Menschen können die häusliche Pflege leicht aus eigener Tasche zahlen. Doch ohne angemessene Finanzierung und die Regulierung der Arbeitsbedingungen durch die Behörden werden Pflegekräfte weiterhin den Preis für die Entscheidungen der Verbraucherinnen und Verbraucher zu zahlen haben.
Schon jetzt fehlen der Branche 36.000 Arbeitskräfte, während sich die Zahl der Pflegebedürftigen Schätzungen zufolge bis 2060 verdoppeln wird. Anstatt den Pflegesektor durch höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen attraktiver zu machen, nutzt Deutschland die vergleichsweise niedrigen Lohnkosten in seinen osteuropäischen Nachbarländern aus. Während hierzulande der Anteil der älteren Bevölkerung steigt, werden Tausende pflegebedürftige ältere Bürger in billigere Pflegeheime nach Osteuropa »exportiert« und umgekehrt billigere Arbeitskräfte von dort nach Deutschland »importiert«.
Doch während viele Pflegekräfte in den Westen abwandern, werden sie in Bulgarien selbst dringend benötigt. Das liegt zum einen an den Sparmaßnahmen der Regierung und zum anderen an dem Prozess, den das linke Kollektiv LevFem als »Institutionalisierung der Vernachlässigung der Pflege« beschrieben hat, und der sich unter anderem in den entwürdigend geringen Löhnen der bulgarischen Arbeiterinnen und Arbeiter niederschlägt. Im vergangenen Jahr beantragten etwas mehr als 28.000 Pflegebedürftige einen persönlichen Assistenten, um in den staatlich finanzierten Pflegesektor aufgenommen zu werden. Die staatliche Finanzierung im Jahr 2021 würde jedoch nur 23.000 Arbeitskräfte abdecken, wodurch mindestens 5.000 Patienten außerhalb des Programms bleiben. Außerdem beträgt der Lohn einer Pflegekraft trotz einer Erhöhung zu Beginn dieses Jahres immer noch 450 € pro Monat für einen Acht-Stunden-Arbeitstag.
Die ungleiche Verfügbarkeit von Gesundheits- und Pflegediensten und das Lohngefälle innerhalb der EU bilden die Grundlage für die rücksichtslose Ausbeutung dieser Arbeitskräfte durch Personalagenturen. So wird der Pflegesektor in Ländern wie Deutschland am Laufen gehalten, während er in den osteuropäischen EU-Ländern erschöpft wird. Der Fall von Frau Aleksewa ist in dieser Hinsicht beispielhaft: Hätte sie Zugang zu angemessener Pflege für ihren kranken Mann gehabt, dann hätte sie Bulgarien wohl gar nicht erst verlassen.
Durch Deutschlands Abhängigkeit von der häuslichen Pflege werden die Kosten der Pflegearbeit auf die einzelne Arbeitnehmerin ausgelagert. Viele, die Kinder, Kranke oder alte Menschen betreuen, bezeichnen dieses Verhältnis als »Sklavenarbeit«. Die Umstände ihrer Arbeit zwingen die Arbeiterinnen in eine gewisse Unterwürfigkeit, die unweigerlich mit Schuldgefühlen verbunden ist, was sie wiederum davon abhält, sich zu organisieren – die Branche »nutzt die Gutmütigkeit der Krankenschwestern und Pflegerinnen aus. Sie fühlen sich so schuldig, wenn sie nicht zusätzliche Stunden arbeiten, und das ist so gewollt«, wie es eine Pflegekraft Jacobin gegenüber einmal darstellte.
Wegen der rund um die Uhr anfallenden Pflegearbeit fühlte sich Frau Aleksewa wie »eine Gefangene in einem Gefängnis mit minimalen Sicherheitsvorkehrungen«. Für sie bedeutete das, dass sie dem deutschen Unternehmen, der osteuropäischen Vermittlungsagentur und den von ihr betreuten alten Menschen und ihren Familien völlig ausgeliefert war und eine Reihe von Aufgaben erfüllen musste, die nicht zu ihren vertraglichen Verpflichtungen zählten.
Zwei Jahre lang pflegte sie eine ältere Frau in einem Pflegeheim. Als nach Deutschland entsandte Arbeitnehmerin hatte sie einen Vertrag mit einem bulgarischen Unternehmen. Für diesen Vertrag galt also das bulgarische und nicht etwa das deutsche Recht. Die Angehörigen der älteren Frau beauftragten eine deutsche Agentur, die wiederum die bulgarische Firma als Subunternehmen in Anspruch nahm. Anfangs betrug ihr Bruttolohn 1.600 Euro für eine 40-Stunden-Woche. Später übertrug die bulgarische Firma ihren Vertrag auf eine Tochterfirma, ohne sie darüber zu informieren. Dadurch wollte die Firma vermeiden, dass die deutsche Firma für die Beschäftigung von Frau Aleksewa verantwortlich werden würde.
Der folgende Vertrag, der 2015 ohne ihr Wissen abgeschlossen wurde, besagte, dass sie nur noch 30 Stunden pro Woche arbeiten würde, und zwar für einen Bruttolohn von 1.562 Euro beziehungsweise 950 Euro netto. Ihr Arbeitgeber zahlte für sie die Sozialabgaben an das bulgarische Gesundheitssystem und die Sozialversicherung. Die deutschen Familien, für die sie arbeitete, zahlten jedoch mehr – etwa 2.000 Euro im Monat. Die Personalagenturen, die sie einstellten, steckten sich also bis zu 25 Prozent ihres Lohns in die eigenen Taschen – vielleicht etwas weniger, sofern sie die Kosten für die deutsche Krankenversicherung übernahmen.
Ihr Arbeitgeber sorgte zwar dafür, dass sie in Bulgarien krankenversichert war, aber das nutzte ihr wenig, da sie die meiste Zeit des Jahres in Deutschland verbrachte. Als sie sich einmal aus dem Haus schlich, während die Frau, die sie pflegte, gerade schlief, suchte sie einen Arzt auf, um sich untersuchen zu lassen. So erfuhr sie, dass sie an einer Lungenentzündung erkrankt war. Kurz darauf erhielt sie für die Behandlung eine Rechnung, die sie nicht begleichen konnte. Entrüstet rief sie ihren Arbeitgeber an und forderte, dass dieser die Kosten übernehme. Dieser willigte schließlich ein – aber erst nachdem er sie fragte: »Warum sollten wir für Sie in Deutschland Versicherungsbeiträge zahlen, wenn Sie ansonsten gesund sind?«
Außerdem wurde von Frau Aleksewa verlangt, dass sie ihren freien Tag in »Raten« aufteilt – so könne sie etwa an einem Donnerstag vormittags und dann an einem Sonntag nachmittags frei machen. »Das würde mir noch nicht einmal genug Zeit lassen, um zum Alexanderplatz zu fahren und in Ruhe einen Kaffee zu trinken.«
Damit Wanderarbeiterinnen wie Frau Aleksewa für ihre Rechte eintreten können, müssen sie wissen, welche Rechte sie haben und welche Organisationen sie unterstützen. Doch sobald das erreicht ist, tun sich neue Hindernisse auf: Kennen sie andere Arbeiterinnen, die bei demselben Unternehmen beschäftigt sind? Landen sie auf einer schwarzen Liste, wenn ihre Namen veröffentlicht werden? Wird ihr früherer Arbeitgeber ihnen ein Empfehlungsschreiben ausstellen? Außerdem lässt sich ein Arbeitgeber nicht so leicht vor Gericht bringen. Und bei Fällen im Sektor der häuslichen Pflege ist es schwierig, Beweise zu sammeln. Nicht zuletzt ist das alles extrem zeitaufwendig – Geringverdienende können es sich kaum leisten, Zeit für einen Rechtsstreit aufzuwenden.
Als Frau Aleksewa auf eine Entschädigungszahlung für die unabgegoltenen Urlaubstage bestand, wurde sie von der Personalagentur gefeuert. Da sie wusste, dass ihr Arbeitgeber ihre Rechte systematisch missachtete, bat sie eine in Berlin lebende bulgarische Freundin um Rat. »Meine Freundin meinte, dass mir nur die Gewerkschaften in meiner Lage helfen können.« Das führte sie zu Faire Mobilität, wo man sich ihre Geschichte anhörte und ihr mitteilte, dass in ihrem Fall eine ganze Reihe von Arbeitsrechtsverletzungen vorlägen.
Gemäß der europäischen Vorschriften kann ein Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber – sofern dieser in einem europäischen Mitgliedsstaat angemeldet ist – entweder in diesem Staat verklagen oder in jenem, in dem der Arbeitseinsatz erfolgt. Wo die Arbeitnehmerin die Klage einreicht, obliegt ihrem Ermessen. Da Frau Aleksewa seit drei Jahren in Deutschland gearbeitet hatte, entschied sie sich dafür, ihren Arbeitgeber vor einem deutschen Gericht zu verklagen, wo die Aussichten auf Erfolg und eine breitere Wirkung höher waren.
Mit Hilfe der Ver.di und Faire Mobilität reichte sie für die zwei Jahre ihrer Beschäftigung zwei identische Klagen ein und verlangte, dass der Arbeitgeber ihr für die 24-Stunden-Pflege eine faire Vergütung gewährt. Rechtlich steht Frau Aleksewa diese Vergütung zu, denn der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass Arbeitnehmerinnen für Leerlaufzeiten, in denen sie anwesend sein müssen, Anrecht auf Mindestlohn haben.
Im Jahr 2016 wurde eine erste Klage abgewiesen, aber Frau Aleksewa kämpfte weiter, und im August 2019 entschied das Arbeitsgericht Berlin, dass ihr Arbeitgeber ihr fast 40.000 Euro schuldete. Gegen dieses Urteil ging ihr Arbeitgeber in Berufung, was durch das Landgericht zugelassen wurde. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts wird im Laufe dieses Jahres erwartet. Justyna Oblacewicz, eine Beraterin bei Faire Mobilität, sagte im Gespräch mit Jacobin, ein Gerichtsurteil zugunsten Aleksewas könnte »dieser Ausbeutung ein Ende setzen« und Arbeitgeber zwingen, »diese Arbeit fair zu entlohnen und ihr den Respekt zu zollen, den sie verdient«.
Hinsichtlich eines gesellschaftlichen Wandels in ihrer Heimat ist Frau Aleksewa nicht besonders optimistisch. Doch da sie die Probleme im deutschen Pflegesektor aus erster Hand miterlebt hat, weiß sie, dass sowohl die Versorgung von Seniorinnen und Senioren als auch die der Pflegekräfte selbst besser aufgestellt werden muss. »Die deutsche Gesetzeslage muss sich ändern und festschreiben, dass migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter die gleichen Rechte und Privilegien haben wie deutsche. Wir machen die gleiche Arbeit! Auch wir brauchen freie Tage und bezahlten Urlaub.«
Die Verantwortung für die niedrigen Löhne und die unfaire Behandlung sieht sie bei den Vermittlungsagenturen und der Weigerung des Staates, den Arbeitsmarkt zu regulieren: »Wenn Deutschland Pflegekräfte braucht, sollte der Staat freie Stellen in Krankenhäusern und Pflegeheimen ausschreiben. Und alle, die dort arbeiten, sollten Verträge nach deutschem Recht bekommen. Die Vermittlungsagenturen sind überflüssig – die kassieren bloß die Hälfte des Gehalts. Das ist auch den Angehörigen gegenüber nicht fair.« Auch bei Faire Mobilität ist man der Meinung, dass es die Personalagenturen nicht braucht. Denn der Druck, den sie auf alle Arbeitenden ausüben – ob nun mit oder ohne Migrationshintergrund – untergräbt bestehende Arbeitsstandards. Die private häusliche Altenpflege ist teuer und kann die professionelle 24h-Betreuung, die die Patienten benötigen, oft nicht gewährleisten.
Gemeinnützige Pflegeheime, die aus Steuern oder Sozialversicherungsbeiträgen finanziert werden (und nicht durch private Pflegeversicherungen), könnten eine Möglichkeit darstellen, um Pflegebedürftigen würdige Lebensumstände zu bieten. Denkbar wäre auch, Pflegeheime in die weitere Community zu integrieren, um damit zugleich auch die Wohnungsfrage anzugehen. Anstatt auf erzwungene Überstunden oder die Senkung der Lohnkosten zu bauen, sollte die Pflege von gut bezahlten und ausgebildeten Pflegekräften geleistet werden, die gewerkschaftlich organisiert sind. Dadurch würden Personalvermittlungsagenturen überflüssig und die ausbeuterischen Praktiken, die mit einer 24h-Betreuung durch eine einzige Arbeitskraft einhergehen, drastisch reduziert.
Mittlerweile ist Frau Aleksewa Ende 60 und denkt darüber nach, wieder arbeiten zu gehen. Derzeit ist sie in Bulgarien und kümmert sich um ihren Enkel, da ihre Tochter in Deutschland bei einem Autozulieferer beschäftigt ist. Doch deren Arbeitsstelle ist aktuell gefährdet, weil die Lieferungen aufgrund der pandemiebedingten Auflagen unterbrochen wurden. »Ich hatte gehofft, dass mir die Arbeitsagentur meine Entschädigung auszahlt, denn ich komme kaum über die Runden – wir sind allein auf meine Rente angewiesen. Aber es scheint, als könnte das noch eine Weile dauern.«
Als zu Beginn der Pandemie klar wurde, dass ältere Menschen anfälliger für die Auswirkungen von Covid-19 waren und Tausende in den Pflegeheimen starben, erwiesen sich die Pflegekräfte als »systemrelevant« – dadurch waren sie der Krankheit selbst aber auch in größerem Maße ausgesetzt, da es oft an persönlicher Schutzausrüstung mangelte. Es wäre kurzsichtig – um nicht zu sagen grausam – gewesen, wenn die Regierungen nicht die richtigen Vorkehrungen getroffen hätten, um die Sicherheit von Patienten und Pflegepersonal gleichermaßen zu gewährleisten.
In privaten Pflegeheimen waren irregulär beschäftigte Wanderarbeiterinnen und -arbeiter (die etwa 90 Prozent aller Pflegekräfte ausmachen) und Teilzeitbeschäftigte am stärksten betroffen. In einigen Teilen Europas begannen Pflegekräfte, sich zu wehren. Nachdem sie im Zuge der Pandemie sie in den Fokus der öffentlichen Debatten gerückt waren, fingen Pflegekräfte in Süd- und Osteuropa an, sich zu organisieren, und erkämpften in einer Kampagne, die vom Central Europe Organizing Center des Gewerkschaftsverbunds UNI Global Union unterstützt wurde, die Auszahlung einer Gefahrenzulage. Wichtig war auch, dass es Ver.di gelang, bei der Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) Prämien für Pflegekräfte mit Vollzeitverträgen auszuhandeln. Die derzeit arbeitslosen oder irregulär beschäftigten Pflegekräfte entschädigt das jedoch nicht. Um deren Arbeitsbedingungen zu verbessern, braucht es EU-weite Reformen. Nur so kann eine aufwärtsgerichtete soziale Angleichung aller Mitgliedsstaaten erreicht werden, die nämlich nur möglich ist, wenn in Mittel- und Osteuropa mehr gewerkschaftliche Organisierung stattfindet und der Westen aufhört, niedrige Löhne als Wettbewerbsvorteil auszunutzen.
Sollte das Bundesarbeitsgericht ein Urteil zugunsten von Frau Aleksewa aussprechen, dann wäre das für Wanderarbeiterinnen und -arbeiter in ganz Deutschland ein Gewinn. Aber wie sie aus eigener Erfahrung weiß, ist es an den Arbeitenden, dafür zu sorgen, dass ihre Rechte wirklich durchgesetzt werden: »Alle Arbeiterinnen und Arbeiter müssen sich vor Augen halten, dass sie Pflichten haben, aber auch Rechte. Besteht auf eure freien Tage, besteht auf bezahlte Urlaubstage und auf alles, worauf ihr Anspruch habt. Wir müssen für unsere Rechte und unser Überleben kämpfen.«
Madlen Nikolowa promoviert an der Universität Sheffield und ist Mitglied des Collective for Social Interventions in Sofia.
Madlen Nikolowa ist Doktorandin am Institut für Politik und Internationale Zusammenarbeit der University of Sheffield und Mitglied des Kollektivs für Soziale Interventionen (KOI) in Sofia.