10. November 2023
Seit dem brutalen Angriff vom 7. Oktober ist die Hamas in aller Munde. Doch es herrscht viel Unwissen über die Ursprünge der Organisation. Nur wenn wir ihre Geschichte verstehen, können wir auf bessere Konfliktlösungen in der Zukunft hinarbeiten.
Anhänger der Hamas nehmen an einer Demonstration in Solidarität mit dem Westjordanland und Jerusalem teil am 4. November 2022 in al-Bureij im Zentrum des Gazastreifens.
Infolge der Attacken der Hamas am 7. Oktober, bei denen rund 1.400 Israelis getötet wurden, haben sich die politischen Führungen des Westens und anderer verbündeter Staaten umgehend hinter Israel gestellt, als das Land seine Vergeltungsaktion startete. Seitdem wurden mehr als 10.000 Palästinenserinnen und Palästinenser, die überwiegende Mehrheit von ihnen Zivilpersonen, durch israelische Bomben getötet. Diese Bomben flogen auf Schulen, Krankenhäuser, Moscheen, Kirchen und Geflüchtetenlager.
Inzwischen werden die Rufe nach einem Waffenstillstand immer lauter. Doch viele Politikerinnen und Politiker sind weiterhin der Ansicht, auch nur der Versuch, den Angriff der Hamas zu verstehen und Zusammenhänge aufzuzeigen, sei eine Rechtfertigung für den Terrorismus. Tareq Baconi sprach im Podcast The Dig auf Jacobin Radio mit Daniel Denvir über die Anfänge der Hamas während der (gescheiterten) Friedensgespräche zwischen Israel und der Fatah sowie ihren anschließenden Aufstieg. Diese Friedensbemühungen, deren Höhepunkt das Osloer Abkommen von 1993 war, hätten nur dazu geführt, ein Apartheidsystem in Israel zu festigen und eine Situation zu schaffen, in der Israel das Westjordanland kontrolliert und der Gazastreifen zu einem Freiluftgefängnis geworden sei, argumentiert Baconi.
Er stellt die Ereignisse des 7. Oktober in den Kontext der Versuche der Hamas, eine Normalisierung dieses Zustands zu verhindern, und betont, dass Stabilität im Nahen Osten nur dann erreichbar ist, wenn auch die Palästinenserinnen und Palästinenser frei leben können.
Fangen wir mit der Geschichte der Hamas an. Sie wurde im Dezember 1987 während der ersten palästinensischen Intifada im Geflüchtetenlager Shati in Gaza gegründet. Das war zwanzig Jahre nach der ersten Besetzung des Gazastreifens, Ostjerusalems und des Westjordanlands durch Israel – und fast vier Jahrzehnte nach der Gründung des Staates durch jüdische Siedler sowie der sogenannten Nakba, während derer Hunderttausende palästinensische Menschen aus dem Gebiet des späteren jüdischen Staates vertrieben wurden. Was hat die Hamas-Gründer dazu bewogen, diese neue Organisation genau zu diesem Zeitpunkt zu schaffen? Warum glaubten sie, dass eine islamistische Widerstandsorganisation notwendig war, um den Kampf zu diesem Zeitpunkt auf diese Weise zu führen?
Das geschah zu einem Zeitpunkt, dem etwa ein Jahrzehnt interner Reflexion und Debatte unter den späteren Hamas-Führern vorausgegangen war. Um diesen Moment im Jahr 1987 in einen historischen Kontext zu stellen: Die Muslimbruderschaft, die 1928 in Ägypten gegründet wurde, hatte bereits Ableger in Palästina. Diese Ableger waren schon vor der Nakba in Palästina aktiv, also in den 1940er, 50er und 60er Jahren. Die Muslimbruderschaft hat eine ganz bestimmte Ideologie, die auf eine Islamisierung ausgerichtet ist. Im Wesentlichen geht es darum, eine Gesellschaft zu schaffen, die »tugendhaft« ist und auf dem Islam beruht; die sich explizit an die moralischen Werte hält, die der Islam vorgibt. Die Muslimbrüder waren der Ansicht, dass der Aufbau einer solchen tugendhaften und moralisch agierenden palästinensischen Gesellschaft der Weg zur Befreiung sein würde. Anstatt sich offen gegen die israelische Besatzungsmacht zu wehren, sollte der Fokus auf der Islamisierung liegen.
Die Muslimbruderschaft investierte viel Zeit und Ressourcen in den Aufbau einer Infrastruktur mit Bildungs- und Wohltätigkeitsstiftungen, Gesundheitseinrichtungen und ähnlichen Wohlfahrtseinrichtungen, die auf islamischen Werten beruhen. In den 1980er Jahren begann sich aber etwas zu verändern. Die Palästinenser unter der Besatzung – im Westjordanland, in Ostjerusalem und im Gazastreifen – begannen, sich aktiv und mit Gewalt gegen die israelischen Besatzungstruppen aufzulehnen. Insbesondere im Gazastreifen gab es eine Splittergruppe namens Islamischer Dschihad, die die bisherige Strategie gewissermaßen auf den Kopf stellte.
»Im Gegensatz zu anderen antikolonialen Bewegungen, die die Kolonisatoren ›zu Hause‹ bekämpften, war das palästinensische Volk verstreut und führte seine Angriffe gegen Israel von Geflüchtetenlagern (außerhalb Israels) aus.«
Anstatt an die Islamisierung als Weg zur Befreiung zu glauben, sagten sie im Prinzip: »Der einzige Weg zur Befreiung ist der Widerstand, also der bewaffnete Kampf. Erst wenn wir die Befreiung erreicht haben, können wir uns auf den Aufbau einer islamischen, einer tugendhaften Gesellschaft, die wir weiterhin anstreben, konzentrieren.« Dadurch geriet die Muslimbruderschaft in den palästinensischen Gebieten unter Zugzwang. Sie musste Ansätze finden, sich ebenfalls aktiver mit der Besatzung durch Israel auseinanderzusetzen und Widerstand zu leisten.
Während sie in der Vergangenheit eher duldsam waren und in gewisser Weise sogar offen von den israelischen Besatzern abhingen (beispielsweise für Infrastruktur und einzelne Betriebsgenehmigungen), begannen die Muslimbrüder in den 1980er Jahren, einen stärkeren formellen Widerstand gegen die Besatzung in Erwägung zu ziehen. Ich würde sagen, diese Entwicklung spitzte sich dann, wie Du schon sagtest, mit dem Beginn der ersten palästinensischen Intifada 1987 deutlich zu.
Es kam zu massivem Widerstand und zivilem Ungehorsam der palästinensischen Bevölkerung. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, dass die Idee der Islamisierung – also diese eher langwierige Entwicklung – einer konfrontativeren Haltung weichen würde. Zunächst schien es so, dass sich die Islamische Widerstandsbewegung (Hamas) von der Muslimbruderschaft abspalten würde, aber am Ende entstand die Hamas als eine Bewegung, die ihre Mutterorganisation übernahm. In gewisser Weise wurde die gesamte, über Jahrzehnte aufgebaute soziale Infrastruktur zum wichtigen Faktor für das Wachstum der Hamas als eine politische und militärische Bewegung, die sich dem aktiven Widerstand gegen die Besatzung verschrieben hat.
Von den 1950er bis in die späten 70er Jahre agierte die Muslimbruderschaft in einer politischen arabischen Welt, die von höchst säkularen Strömungen geprägt war. Man denke nur an den Panarabismus von Ägyptens Präsident Nasser, aber auch an die Palästinenser im Allgemeinen sowie die 1959 gegründete Fatah im Speziellen.
Ich möchte historisch nochmals ein wenig zurückgehen, denn man kann die Gründung der Hamas nicht ohne die Entwicklung in der breiteren Befreiungsbewegung (Palästinensische Befreiungsorganisation, PLO) unter Führung der Fatah verstehen. Das liegt daran, dass – wie Du sagst – die Hamas als fundamentale Kritikerin der Ansätze von PLO und Fatah in den späten 1980ern zu verstehen ist. Gleichzeitig wurde die Hamas aber auch mit einer gewissen Ehrfurcht vor der früheren Fatah und PLO gegründet.
Die Hamas sollte ein kompromissloses Engagement für die nationale Befreiung mittels des bewaffneten Kampfes wieder aufleben lassen. Erzähle uns doch bitte etwas mehr von der historischen Periode, in der die Fatah gegründet wurde, und wie sie vom globalen Kontext antikolonialer Revolutionen in der damaligen sogenannten Dritten Welt geprägt war. Was war ihre Theorie (und ihre Praxis) des Widerstands und aus welchen Quellen schöpfte sie?
Es ist tatsächlich wichtig, diesen Kontext zu verstehen, um zu begreifen, wie sich die Hamas in diesem Übergangsmoment im Jahr 1987 vom Panarabismus und von der traditionellen Islamisierung abgrenzte. Die Hamas versuchte, mit der Vorstellung aufzuräumen, dass sich diese beiden Dinge entfalten und florieren könnten, bevor die Palästinenser sich aktiv mit der unmittelbaren Krise – also der Besatzung und der Kolonialisierung ihrer Heimat – befassen.
1987 löste sich die Hamas endgültig von diesen vorherigen Strömungen, aber wie Du schon sagtest, war dieser Bruch schon früher unter einem säkularen Nationalismus erfolgt, insbesondere unter der Fatah, als diese die Führung der PLO übernahm. Die Fatah selbst begann als eine Organisation aus den Geflüchteten-Communities heraus. Ihre Basis waren die palästinensischen Menschen, die 1948 aus Palästina vertrieben wurden und in Lagern rund um ihr Heimatland landeten: in Jordanien, im Libanon, in Syrien und in Ägypten, sowie natürlich im Gazastreifen und im Westjordanland.
Diese Bewegung war sehr stark von den Ideen anderer antikolonialer Bewegungen geprägt, die die Befreiungen ihrer jeweiligen Länder anstrebten. Der entscheidende Unterschied ist, dass sich die Palästinenserinnen und Palästinenser außerhalb ihrer Heimatgebiete befanden. Im Gegensatz zu anderen antikolonialen Bewegungen, die die Kolonisatoren »zu Hause« bekämpften, war das palästinensische Volk verstreut und führte seine Angriffe gegen Israel von Geflüchtetenlagern (außerhalb Israels) aus. Im Gegenzug befestigte Israel seine Grenzen und begann auch, gegen Geflüchtete vorzugehen, die versuchten, in ihre frühere Heimat zurückzukehren.
So entstand eine Situation, in der die Fatah zu einer Bewegung aufstieg, die von verstreuten Flüchtlingscamps aus angreifen konnte. Inzwischen richteten sich diese Angriffe gegen einen Staat, der sich gefestigt und etabliert hatte. Das brachte die Fatah in eine sehr schwierige Lage: Sie führte Angriffe von Gastländern wie Jordanien und dem Libanon aus, denen im Zuge dessen selbst Konflikte und Repressionen Israels drohten.
Zu diesem Zeitpunkt führte die Fatah – und nicht nur die Fatah, sondern auch andere Gruppierungen wie die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) und die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) – einen revolutionären bewaffneten Kampf gegen Israel von jenseits der Grenzen des neu entstandenen israelischen Staates aus. Einige erinnern sich vielleicht an die Flugzeugentführungen oder die Kämpfe, die in Jordanien und anderswo zwischen Palästinensern und dem israelischen Militär geführt wurden.
Dies war eine Zeit, in der der Antikolonialismus auf dem Vormarsch war – und viele antikoloniale Bewegungen siegreich aus dem Kampf hervorgingen. Doch Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre gab es aus palästinensischer Sicht zwei wichtige Veränderungen. Erstens wurde der begrenzte Erfolg des bewaffneten Widerstands gegen das starke Heer Israels immer deutlicher – zumindest in der Form des bewaffneten Widerstands, wie ihn die PLO leisten konnte. Die zweite Entwicklung war, dass die internationale Gemeinschaft der PLO ein Angebot unter gewissen Bedingungen gemacht hatte. So könnte die PLO in die diplomatische, internationale Gemeinschaft aufgenommen und anerkannt werden, wenn sie ihrerseits den Staat Israel anerkennt und den bewaffneten Kampf einstellt. Der Druck auf die PLO und die palästinensische Führung wurde diesbezüglich immer größer. Während der gesamten 1980er Jahre ließ sich beobachten, wie die PLO in internen Diskussionen die Möglichkeit auslotete, diesen Forderungen nachzukommen.
Im Jahr 1988 veröffentlicht die PLO dann eine Erklärung, in der sie die Unabhängigkeit eines Staates Palästina ausrief. Das kam im Wesentlichen einem historischen Zugeständnis seitens der Palästinenser gleich, denn die PLO akzeptierte damit den Verlust von 78 Prozent der ehemaligen Heimatgebiete der Palästinenser an Israel und stimmte der Gründung eines neuen palästinensischen Staates auf lediglich 22 Prozent des vorherigen Kolonial-Territoriums zu. Genau dieses Zugeständnis wurde und wird von der Hamas kritisiert.
Ende 1988 ist die Lage also folgende: Während die PLO sozusagen »die Waffen niederlegt« und damit anerkennt, dass nun die Diplomatie eine Lösung bringen soll, tritt die Hamas als Bewegung auf, die diese Kompromisshaltung aggressiv infrage stellt. Anstelle der Diplomatie müsse man sich weiterhin dem bewaffneten Widerstand für eine vollständige Befreiung verpflichten – nur solle dies nun auf der Grundlage einer islamischen Ideologie geschehen, und nicht einer säkularen [wie dem Antikolonialismus].
Wie konnte die Hamas in der Folgezeit von der Konzessionshaltung der PLO profitieren? Welche alternative Vision bot sie an? Und warum war sie der Meinung, ihr Kampf könnte im Vergleich zum »Scheitern« der PLO tatsächlich zur Befreiung der Palästinenserinnen und Palästinenser führen?
Ich denke, die Hamas hat im Laufe der Jahre aus dem historischen Zugeständnis der PLO im Jahr 1988, aus dem später das Osloer Abkommen hervorging, auf unterschiedliche Weise sehr viel gelernt. In ihren Anfangsjahren war die Hamas noch recht naiv in dem Glauben, dass dieses Zugeständnis der PLO für die Bewegung in der Praxis schlicht nicht umgesetzt werden könnte, weil die eigene Ideologie einer Teilung des Gebiets zuwiderlief. Zunächst glaubte sie naiverweise, man werde niemals in eine Situation geraten oder eine solche akzeptieren, in der auch nur der Gedanke an eine Teilung infrage käme. Vielmehr würden der Islam und die islamische Ideologie der Hamas ihr einen ausreichenden ideologischen Rückhalt bieten, sodass sie jeglichen Druck, eine Teilung des Landes hinzunehmen, abwehren oder ihm widerstehen könnte.
Ich sage »naiv«, weil ich der Ansicht bin, dass die Hamas im Laufe der Jahre begriffen hat, dass es sehr viel schwieriger ist, diese Position einer strikten Teilungsablehnung aufrechtzuerhalten, als sie es in ihren Anfangsjahren vielleicht erwartet hätte. Um auf Deine Frage zurückzukommen: Ich denke, was die Hamas aus dem historischen Zugeständnis der PLO gelernt zu meinen hat, ist, dass der Verzicht auf den bewaffneten Widerstand und die friedliche Akzeptanz einer Teilung nicht zur Befreiung führen wird. Ganz im Gegenteil, Zugeständnisse hätten offenbar zu weiteren Niederlagen und noch mehr Nachgeben geführt. Das sind Schlüsse, die die Hamas in den 1990ern in aller Öffentlichkeit gezogen hat. Die Palästinenser im Allgemeinen, auch jenseits der Hamas, haben demnach erkannt, dass die internationale Gemeinschaft Israel nicht zu Zugeständnissen drängt, nachdem das palästinensische Volk dieses große, große Zugeständnis, 78 Prozent seines Landes aufzugeben, akzeptiert hatte.
»Im bewaffneten Kampf der Hamas gibt es einen fundamentalen Unterschied gegenüber dem bewaffneten Kampf der PLO.«
So ging beispielsweise die Landnahme israelischer Siedler immer weiter; gleichzeitig wurden die Palästinenser für ihre Zugeständnisse nicht mit irgendeiner Form von Selbstbestimmung belohnt. Vielmehr wurden diese Zugeständnisse dazu benutzt, jede wirkungsvolle palästinensische Stimme zu untergraben, die Israel seinerseits zu Zugeständnissen bewegen könnte. Die Lektion, die die Hamas von der PLO gelernt hat, ist also, dass man keine Zugeständnisse machen und schon gar nicht aus einer Position der Schwäche heraus in Verhandlungen eintreten sollte.
Wir sehen, dass diese Erkenntnis bei der Hamas auch in späteren Jahren wieder auftaucht, als sie tatsächlich Verhandlungen mit Israel in Betracht zog, aber immer wieder betonte, dass sie die Waffen nicht niederlegen wird, bevor die Verhandlungen abgeschlossen sind. Das steht im klaren Gegensatz zu dem, was die PLO zuvor tat – nämlich erst nachgeben und dann eine Art Belohnung erwarten. Die Hamas war hingegen der Ansicht, die andere Seite verhandele nicht aufrichtig. Man dürfe deswegen nicht aus einer Position der Schwäche heraus Zugeständnisse machen. Vielmehr müssen Kompromisse oder Verhandlungen aus der stärkeren eigenen Position des bewaffneten Widerstands heraus erfolgen.
Was bedeutete es konkret für die palästinensische Politik und für die nationale Bewegung, dass die PLO dieses Zugeständnis machte und schließlich dem zustimmte, was euphemistisch als »Sicherheitskoordination mit Israel« bezeichnet wird?
Als die PLO der Teilung Palästinas zustimmte, wurde sie damit Teil der diplomatischen Verhandlungen. Es gab ein Zeitfenster – ich beziehe mich hier speziell auf die Madrider Verhandlungen – in dem die palästinensischen Unterhändler sehr effektiv auf die Schaffung eines palästinensischen Staates auf 22 Prozent des Gebietes drängten.
Heute mag man sich aus ideologischen Gründen gegen eine Teilung Palästinas aussprechen, aber es gab einen Moment, in dem das Zugeständnis der PLO zu einem tatsächlichen palästinensischen Staat hätte führen können. Das wurde jedoch durch die Osloer Abkommen völlig auf den Kopf gestellt, denn wie bereits gesagt, erhielt die israelische Regierung durch diese Abkommen die verbriefte Anerkennung des Staates Israel durch die PLO. Im Gegenzug wurde aber nur die PLO als einzige legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes anerkannt.
Das heißt: In den Osloer Verträgen war weder von einem palästinensischen Staat noch von palästinensischer Selbstbestimmung, dem Recht der Geflüchteten auf Rückkehr oder der Beendigung des israelischen Siedlungsbauprojekts die Rede. Aus palästinensischer Sicht war das eine herbe Niederlage. Für viele Palästinenserinnen und Palästinenser bedeuteten die Oslo-Abkommen die vollständige Kapitulation der PLO vor den Forderungen Israels. Edward Said sprach in dieser Hinsicht vom »palästinensischen Versailles«.
So wurde die damalige Situation institutionalisiert: Durch die Osloer Abkommen wurde diese Regierungsinstanz, die wir als Palästinensische Autonomiebehörde kennen, geschaffen. Die Palästinensische Autonomiebehörde sollte theoretisch so etwas wie die Keimzelle eines zukünftigen palästinensischen Staates sein, aber in Wirklichkeit war sie nicht mehr als ein Bantustan. Sie war eine Behörde, die sich verpflichtet hatte, die palästinensische Zivilbevölkerung zu regieren, dabei aber unter dem übergeordneten Rahmen eines israelischen Apartheidsystems und der israelischen Besatzung agierte.
Sie wurde zu einer Behörde, die für Stabilität unter den Palästinensern unter der Besatzung sorgen sollte. Das hatte einige implizite Auswirkungen. Erstens war Israel nicht mehr verpflichtet, für die [palästinensische] Zivilbevölkerung unter seiner Besatzung zu sorgen. Das ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht, das besagt, dass die Besatzungsmacht immer für die Zivilbevölkerung unter ihrer Kontrolle Sorge tragen muss. Indem die Autonomiebehörde diese Verantwortung übernommen hat, wurde Israel faktisch von der Verantwortung befreit, als Besatzungsmacht in gewissen Gebieten zu handeln. Zweitens täuschte die Schaffung der Autonomiebehörde die internationale Gemeinschaft in gewisser Weise. Sie wurde als die Grundlage für einen zukünftigen palästinensischen Staat angesehen und nicht als das, was sie tatsächlich ist: eine Regierungs- oder Verwaltungsbehörde unter einer Besatzung. Drittens, und das ist das Wichtigste, hat sie verhindert, dass der palästinensische Befreiungskampf sich auf alle Palästinenserinnen und Palästinenser beziehen kann.
Letzteres ist der Fall, weil palästinensische Geflüchtete, Palästinenser in der Diaspora, palästinensische Bürgerinnen und Bürger Israels nicht unter die Kontrolle der Autonomiebehörde fallen. So ist das Thema Befreiung kein Projekt im Namen des [gesamten] palästinensischen Volkes, sondern die Palästinensische Autonomiebehörde wurde zu einer Behörde, die im Namen des Teils der palästinensischen Bevölkerung spricht, die unter Besatzung lebt. So wurde die PLO, die einzige legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes – diese antikoloniale Befreiungsbewegung, die auf ihrem Höhepunkt die »vollständige Befreiung Palästinas« forderte – im Laufe der Jahre praktisch zu einer Behörde, die einen kleinen Teil des palästinensischen Volkes unter israelischer Gebietskontrolle regiert und durch die sogenannte »Sicherheitskoordination« sogar der israelischen Sicherheit verpflichtet ist. Die Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde untergräbt somit das palästinensische Befreiungsvorhaben, indem sie es in ein reines Regierungsprojekt unter Apartheid-Bedingungen verwandelt.
1994, also sieben Jahre bevor die Hamas erstmals Raketen auf Israel feuerte, gab es ihren ersten Angriff in Form eines Selbstmordattentats. Dabei wurden sieben Israelis getötet. Warum kam es zu dieser Art der Angriffe, direkt nachdem die PLO die Oslo-Abkommen unterzeichnet hatte? Du selbst hast in Deinem Buch darauf hingewiesen, dass Selbstmordattentate von der palästinensischen Bevölkerung abgelehnt, und von [Benjamin] Netanjahu, der erstmals 1996 Ministerpräsident Israels wurde, politisch ausgeschlachtet wurden.
Die Hamas konnte sich freilich darauf berufen, dass andere Ansätze nicht funktioniert haben – und Oslo hätte ihr wohl rechtgegeben. Aber nochmals: Warum Selbstmordattentate? Und was war die längerfristige Vision der Hamas, auch in Bezug auf Anschläge gegen israelische Zivilisten?
Ich denke, im bewaffneten Kampf der Hamas gibt es einen fundamentalen Unterschied gegenüber dem bewaffneten Kampf der PLO. Im Falle der PLO waren die meisten der gegnerischen Kämpfer und Ziele israelische Militärs – unter anderem aus dem banalen Grunde, dass die PLO von außerhalb der Grenzen des israelischen Staates keinen »Zugriff« auf israelische Zivilisten hatte.
Keine Frage, in der Geschichte der PLO gab es auch Angriffe auf jüdische Zivilistinnen und Zivilisten – nicht unbedingt Israelis – in Form von Entführungen und in anderen Zusammenhängen, aber der Diskurs war immer, dass dies ein Prozess oder eine »Politik« ist, die verfolgt wird, um Druck auf Israel und die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft auszuüben, damit sie die Palästinafrage nicht ignorieren. Man kann aus moralischer Sicht natürlich Fragen in Bezug auf die Kämpfe der PLO und beispielsweise Flugzeugentführungen oder regelrechte Massaker stellen – aber ganz kalt und strategisch gesehen, hat sie damit die palästinensische Frage immer wieder erfolgreich in den Mittelpunkt der internationalen Agenda gerückt.
»Die zweite Intifada entsprang einer Phase der Verzweiflung für die Palästinenserinnen und Palästinenser.«
Um zur Hamas und der Taktik der Selbstmordattentate zu kommen: Dies war etwas, das von der Hisbollah gelernt wurde. 1994 nahm die israelische Regierung hunderte Hamas-Funktionäre und andere Mitglieder der Bewegung fest und deportierte sie in den Libanon. Im Grunde handelte es sich dabei um eine Zwangsumsiedlung von Palästinensern unter israelischer Besatzung nach außerhalb der Grenzen des israelischen Staates. Rückblickend ging das gewaltig nach hinten los, denn anstatt die Hamas rauszuschmeißen – aus den Augen, aus dem Sinn – wurde einerseits erneut die Lage der Palästinenser in den Vordergrund gerückt und andererseits die Hamas in die Lage versetzt, sich im Libanon zu organisieren, mit der Hisbollah zusammenzuarbeiten und von ihr zu lernen.
Dort kam die Hamas auch erstmals mit der Taktik der Selbstmordattentate in Berührung. Als sie diese Taktik in den 1990er Jahren anwandte, ging es ihr vor allem um eines: die Unterminierung der Osloer Gespräche, weil die Hamas (zu Recht) der Ansicht war, diese Verhandlungen würden die palästinensischen Rechte nicht voranbringen, sondern lediglich die palästinensischen Niederlagen zementieren. So wurden Selbstmordattentate ganz gezielt als Mittel eingesetzt, um die Verhandlungen zu sabotieren und die PLO sozusagen zu blamieren, die ja aus einer Position heraus verhandelte, in der sie die palästinensischen Gebiete lediglich verwaltete und gleichzeitig die Sicherheit der Juden in Israel gewährleistete. Darüber hinaus sollte mit den Anschlägen auch Druck auf die israelische Regierung ausgeübt werden, damit diese ihrerseits von den Verhandlungen abrückt.
Diese Taktik war allerdings auch innerhalb der Hamas nicht unumstritten. Sie warf intern große moralische und auch strategische Fragen auf. Es gab viele Bedenken, aber im Nachhinein betrachtet war es ein Ansatz, der – nochmals: ganz kalt und nüchtern, ohne Rücksicht auf ethische Fragen – die Verhandlungen tatsächlich untergraben und damit sein Ziel erreicht hat.
Es ist sehr schwer zu sagen, ob die damaligen Verhandlungen ohne die Selbstmordattentate letztendlich zu einem palästinensischen Staat geführt hätten. Ich persönlich glaube das nicht. Ich bin der Meinung, die israelische Regierung war fest entschlossen, ihr Siedlungsprojekt trotzdem fortzusetzen und auszuweiten. Und wie ich schon sagte, verstehen wir heute, dass Oslo ein Projekt war, das lediglich eine gewisse palästinensische Autonomie sichern sollte, nicht die zukünftige Staatlichkeit. Zusammenfassend kann man also sagen, die Selbstmordattentate haben in jedem Fall eine große Rolle dabei gespielt, die von der Hamas kritisierten Oslo-Verhandlungen zu untergraben.
Dann kam es zur zweiten Intifada. Wie reagierte die Hamas darauf und wie prägte dieser Aufstand die palästinensische Bewegung im Allgemeinen sowie die spezielle Rolle der Hamas darin?
Die zweite Intifada entsprang einer Phase der Verzweiflung für die Palästinenserinnen und Palästinenser. Knapp zehn Jahre lang hatte die palästinensische Führung versucht, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um einerseits den Staat Israel zu akzeptieren und anzuerkennen und andererseits zu versuchen, die besetzten palästinensischen Gebiete zu sichern und zu einem Staat zu formen. Währenddessen aber weitete der Staat Israel sein Siedlungsprojekt aus und verschärfte seine Besatzung weiter. Gleichzeitig wurden angepeilte Fristen für die Gründung eines palästinensischen Staates nicht eingehalten und immer wieder aufgeschoben. Dann kommt es zu den Verhandlungen von Camp David – diesem letzten Versuch unter der Führung der Vereinigten Staaten, endlich ein Abkommen zu erzielen, bei dem alle »Fragen des endgültigen Status« angesprochen werden.
Doch trotz der Bemühungen und des Drucks von außen wurde klar, dass das Maximalangebot, das die Israelis zum Verhandlungstisch brachten, weit von den Minimalforderungen der Palästinenser entfernt lag. Somit erschienen die Verhandlungen zunehmend sinnlos.
Als diese Erkenntnis entsteht, führt sie zu einem Bruch in der palästinensischen Bevölkerung. Nach dem provokanten Besuch [des damaligen israelischen Premierministers Ariel] Sharons in der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem erheben sich die Palästinenserinnen und Palästinenser erneut, mit zivilem Ungehorsam und einem Volksaufstand in den besetzten Gebieten. Die Aktionen ähneln der ersten Intifada sehr. Der große Unterschied besteht jedoch darin, dass Yitzhak Rabin [Israels Premierminister 1974–77] bei der ersten Intifada, als es sich vor allem um zivilen Ungehorsam handelte, bekanntlich die israelische Armee aufforderte, allen Demonstrierenden die Knochen zu brechen. In der zweiten Intifada wurde auf andere Weise versucht, der Lage Herr zu werden: Nun ging es nicht mehr darum, Knochen zu brechen, sondern es wurde scharf geschossen. Praktisch vom ersten Tag an setzte Israel erhebliche Gewalt ein. Es wurden hunderttausende Kugeln auf unbewaffnete Zivilisten geschossen, die sich im ganzen Gebiet erhoben. Im Gegensatz zur ersten Intifada wurde die zweite Intifada also sehr schnell zu einer militaristischen Angelegenheit. Das bestärkte insbesondere die Hamas in ihrer Auffassung, dass friedliche Verhandlungen nicht der richtige Weg für die Zukunft seien.
»In jüngerer Zeit weigert sich Israel vor allem, mit der Hamas zu verhandeln. Stattdessen werden die Hamas im Besonderen, aber nicht selten auch die Palästinenser im Allgemeinen, als Terroristen dargestellt – selbst, wenn sie ihre Rechte auf gewaltfreiem Wege einfordern.«
Man sollte festhalten, dass die Hamas nicht die einzige Partei war, die sich dem bewaffneten Widerstand verschrieben hatte, aber sie führte die meisten Widerstandsaktivitäten an. Im Laufe der 1990er Jahre hatte sie als Bewegung erheblich gelitten, weil durch die Sicherheitskoordination mit Israel ein großer Teil ihrer Infrastruktur zerschlagen worden war. In den ersten Monaten der zweiten Intifada war sie aber sehr schnell in der Lage, zu mobilisieren und eine Kampagne zu fahren, die als »Balance« oder »Gleichgewicht des Terrors« bezeichnet wurde. Demnach glaubte die Hamas, Israel durch einen Zermürbungskrieg dazu zwingen zu können, die Besetzung aufzugeben: Wenn man die israelische Zivilbevölkerung mit gezielten Anschlägen nur ausreichend terrorisiere, würde diese sich gegen ihre Regierung wenden und sie auffordern, die Okkupation zu beenden.
Die Message war klar: »Ihr erlebt jetzt Selbstmordanschläge auf euren Straßen. Wenn ihr Sicherheit wollt, müsst ihr die Besatzung beenden.« In gewisser Weise war es ein Abnutzungskrieg. Jedes Mal, wenn Israel in die besetzten Gebiete einmarschierte oder mit harter Hand gegen palästinensischen Widerstand vorging, brachte die Hamas Selbstmordattentäter auf israelische Straßen.
Diese Taktik schien aus Sicht der Hamas zumindest zu Beginn der zweiten Intifada kurzfristig erfolgsversprechend zu sein. Letztendlich war sie aber erfolglos. Der wichtigste Grund dafür ist die internationale Lage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die Vereinigten Staaten. Der von der US-Regierung ausgerufene »Krieg gegen den Terror« war bereits in vollem Gange. Den israelischen Behörden gelang es vor diesem Hintergrund, die USA davon zu überzeugen, dass die zweite Intifada sozusagen Israels 9/11 war…
… und dass deswegen hart gegen den palästinensischen Widerstand vorgegangen werden müsse, weil dieser ja Teil des islamistischen Terrorismus sei…
Ganz genau. Israels Regierung hatte sozusagen einen Freibrief, mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen palästinensische Menschen vorzugehen. Die Selbstmordattentate der Hamas haben also nicht zu inner-israelischen Dynamiken geführt, die zum Rückzug aus den besetzten Gebieten führen würden, sondern vielmehr zu einer Verfestigung der militärischen Situation. So kam es zu Invasionen der Flüchtlingslager, zum Beispiel in Dschenin und andere Camps im Westjordanland.
Israel nutzte im Zuge dessen seine gesamte militärische Stärke, um in die besetzten Gebiete zurückzukehren, die es vorgeblich an die Palästinensische Autonomiebehörde abgetreten hatte. Es eroberte all diese Gebiete zurück und zerschlug alle Formen des palästinensischen Widerstands.
Und so passt sich auch die Hamas erneut an: Anstatt weiterhin auf die Strategie des »Terror-Gleichgewichts« und auf Selbstmordattentate zu setzen, um Israel zur Aufgabe der Besatzung zu bewegen, ändert sie ihre Taktik. Sie beginnt, sich speziell auf die besetzten Gebiete zu konzentrieren und greift vor allem jüdische Siedler an, anstatt Selbstmordattentäter nach Israel zu schicken. Außerdem beginnt sie, ihre Taktiken zu ändern und andere Formen des Widerstands zu erforschen, einschließlich des politischen und diplomatischen Widerstands.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Selbstmordanschläge der Hamas nicht die erwünschte Abschreckung innerhalb der israelischen Zivilbevölkerung bewirkt haben, sondern vielmehr das Gegenteil. Immer brutalere Repressalien, die mit dem Einmarsch in die Geflüchtetenlager einen neuen Höhepunkt erreichten. Tatsächlich – und das wird sich wie ein roter Faden durch die Geschichte, die wir hier erzählen, und durch dieses Interview ziehen – ist Israel mit Unterstützung der USA immer bestrebt zu zeigen, dass keine Methode der Hamas funktioniert und dass langfristig die einzige Option die palästinensische Kapitulation ist.
Die Hamas zwingt Israel ihrerseits immer wieder, die Art und Weise, wie es mit der palästinensischen Frage umgeht, zu hinterfragen. Am Ende der zweiten Intifada stehen dann zwei Entwicklungen: zum einen entscheidet Sharon, Israels Armee aus dem Gazastreifen zurückzuziehen. Zum anderen gibt es innerhalb der Hamas eine gewisse Müdigkeit; die Unterstützung für den bewaffneten Widerstand schwindet. Man versteht, dass es möglicherweise noch andere, nämlich politisch-diplomatische, Möglichkeiten gibt, um die Sache der Palästinenser voranzubringen. Allerdings erinnert man sich auch daran, dass diese Formen des Dialogs in der Vergangenheit nicht von Erfolg gekrönt waren. Israel hatte alle Formen der Auseinandersetzung mit den Palästinensern, die nicht bewaffneter Widerstand waren, erfolgreich abgewürgt. Die Hamas konnte daher auf das »abschreckende« Beispiel der PLO verweisen, die die Annäherung versucht, die Waffen niedergelegt und in langwierige Verhandlungen mit Israel eingestiegen war – nur, um dann letztlich eine Situation zu haben, in der die israelische Armee sich vermutlich fester als je zuvor in den besetzten Gebieten festsetzte.
Für die Hamas war somit die Schlussfolgerung, dass neue, auch friedlich-politische Methoden ausprobiert werden müssen, gleichzeitig der bewaffnete Kampf aber ganz klar nicht aufgegeben wird.
Allerdings wird es häufig so dargestellt, dass die Palästinenser und vor allem die Hamas die Seite im Konflikt sind, die nicht nachgeben und nicht verhandeln will.
Die Stärke der israelischen Reaktion auf die zweite Intifada hat der Hamas auch deutlich gemacht, dass es Grenzen dessen gibt, was im bewaffneten Kampf gegen Israel erreicht werden kann. Darüber hinaus wurde klar, dass eine »vollständige Befreiung Palästinas« absolut unrealistisch war. Im Laufe der fünf Jahre der zweiten Intifada hat die Hamas sehr, sehr aktiv und hat offen politische Maßnahmen vorgeschlagen, um die Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung zu begrenzen und den Erwartungen der internationalen Gemeinschaft zu entsprechen, dass ein Staat Palästina auf die besetzten palästinensischen Gebiete beschränkt bleiben würde.
Mehrfach wurden den israelischen Behörden Hudnas, also Waffenstillstände, angeboten. Dabei wurde versprochen, alle Kämpfer zurückziehen, sofern Israel die Okkupation der besetzten Gebiete beendete. Ebenso wurde versucht, den bewaffneten Widerstand auf den Kampf gegen jüdische Siedler in den besetzten Gebieten zu beschränken – also nicht mehr israelisch-jüdische Zivilisten innerhalb der Grenzen des historischen Palästina anzugreifen, sondern Kolonialisten, die illegal Siedlungen im Westjordanland oder im Gazastreifen besiedelten.
»Gaza wurde zu einem Raum, in dem sich die Hamas auf die Entwicklung ihrer Infrastruktur konzentrieren konnte, auf die politischen und sozialen sowie militärischen Projekte, die es ihr dann auch ermöglichten, die Angriffe von Anfang Oktober 2023 auszuführen.«
Damit forderte die Hamas implizit und nicht so implizit – in einigen Fällen ganz explizit – die Schaffung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967, was zumindest vordergründig auch lange die Forderung vieler israelischer Behörden und der internationalen Gemeinschaft nach einer Zwei-Staaten-Lösung war. Dennoch: Anstatt mit der Hamas in den Dialog zu treten, anstatt zu versuchen, die zivilen Todesopfer vor Ort zu begrenzen und mit der Hamas politisch zu verhandeln, wird alles daran gesetzt, die Hamas weiterhin als eine irrationale Truppe zu dämonisieren, die keine tragfähigen Lösungen anbietet.
Dadurch wird freilich auch die Ansicht gestärkt, der einzige Weg, mit der Hamas oder den Palästinensern im Allgemeinen umzugehen, sei ein militärischer. In der Vergangenheit hatten Israels Regierungen mehrfach versucht, die palästinensischen Bewegungen, sogar die PLO im Libanon, als nicht-politisch und als reine Terrorgruppen darzustellen. In gewisser Weise wurde mit dem Einmarsch in Beirut im Jahr 1982 das politische Projekt der PLO im Libanon völlig unterminiert. In jüngerer Zeit weigert sich Israel vor allem, mit der Hamas zu verhandeln oder sich mit ihren politischen Projekten zu befassen. Stattdessen werden die Hamas im Besonderen, aber nicht selten auch die Palästinenser im Allgemeinen, als Terroristen dargestellt – selbst, wenn sie ihre Rechte auf gewaltfreiem Wege einfordern.
Mit dem Waffenstillstand von 2005 ordnete Israel dann an, dass 8.000 jüdische Siedler den Gazastreifen verlassen sollten. Diese hatten rund 30 Prozent der Region Gaza kontrolliert. Die Hamas feierte das als Sieg ihres Widerstandes. Du hast zuvor aber argumentiert, dass der Rückzug nur Teil einer breiteren Strategie Israels ist, die Westbank zu annektieren. Was stimmt?
Beides. Die Hamas hatte sich auf das »Hisbollah-Modell« gestützt, also die Art des Widerstands der Hisbollah gegen die Israelis, die letztlich dazu führte, dass Israel seine Kontrolle über den Südlibanon und dessen Besetzung aufgab. Die Hamas sah den Abzug von 8.000 Siedlern aus dem Gazastreifen als einen Sieg an. Dieser schien deutlich zu machen, dass der israelische Staat nicht in der Lage war, die immensen Kosten für die Beibehaltung dieser Siedlungen zu tragen.
Man muss sich das vor Augen führen: Es waren rund 8.000 Siedler, die 30 Prozent des Landes kontrollierten; und zwei Millionen Palästinenser die restlichen 70 Prozent. Das Ausmaß der Einschränkung der palästinensischen Menschen, um Platz für jüdische Siedler zu schaffen, war im Gazastreifen extrem. Diese 8.000 Siedler wohnten in den fruchtbarsten Gebieten, verfügten über eine umfangreiche Infrastruktur, die direkt mit Israel verbunden war, und genossen ein westeuropäisches Vorstadtleben mit Pools und Rasenflächen, während zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser um sie herum in Geflüchtetenunterkünften und Camps lebten, ohne Infrastruktur und ohne die Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Es war eine besonders krasse Form der Apartheid.
Aus Sicht der Hamas ist der Abzug dieser Siedler deswegen zwar ein Sieg, aber man macht sich nicht die Illusion, die Besetzung habe mit diesem Abzug geendet. Vielmehr hat sich Israels Besatzungsstruktur verändert: Anstatt die Besatzung Gazas von innen aufrechtzuerhalten, indem es die jüdischen Siedler dort schützt, hat sich Israel darauf umgestellt, eine Blockade des Gazastreifens von außen aufrechtzuerhalten.
In gewisser Weise ist der 7. Oktober 2023 aber das Ergebnis davon, dass die Hamas offenbar in der Lage war und ist, diesen Landstreifen wie ein tatsächlich »befreites Gebiet« zu verwalten. Das hätte ich vor vier, fünf Wochen wohl noch anders gesehen. Ich muss anerkennen, dass die Palästinenser in Gaza natürlich weiterhin »belagert« waren, aber dort offenbar eine relative Autonomie hatten, die es beispielsweise im Westjordanland nicht gibt. Das zeigt sich daran, dass die israelische Armee tagtäglich in das Westjordanland einmarschiert: Sie führt Razzien durch, sie terrorisiert Zivilisten, sie zerschlägt jegliche dortige Organisierung. Das geschah und geschieht im Westjordanland weiterhin, aber eben nicht im Gazastreifen. So wurde Gaza zu einem Raum, in dem sich die Hamas auf die Entwicklung ihrer Infrastruktur konzentrieren konnte, auf die politischen und sozialen sowie militärischen Projekte, die es ihr dann auch ermöglichten, die Angriffe von Anfang Oktober 2023 auszuführen.
Ab 2005 trat die Hamas dann auch bei Wahlen an, zunächst auf lokaler Ebene. Bereits 2006 erhielt sie eine Mehrheit bei den Parlamentswahlen. Dabei war sie doch eigentlich als Gegenpol zur Autonomiebehörde gegründet worden, die aus Hamas-Sicht ja lediglich die fortgesetzte Besatzung verwaltet. Warum hat sie überhaupt an den Wahlen teilgenommen und welche Reformen wollte sie erreichen?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Die Hamas hat sich intern damit auseinandergesetzt – und ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich eine gute Antwort gefunden hat. Da sollte ich einige Dinge betonen... Zunächst einmal gilt die PLO zu diesem Zeitpunkt als die alleinige Vertreterin des palästinensischen Volkes; das ist das Ergebnis des Osloer Abkommens. Die Hamas sowie der Islamische Dschihad wurden hingegen von der PLO immer an den Rand gedrängt.
Es wurden alle erdenklichen Anstrengungen unternommen, um sicherzustellen, dass diese radikaleren Gruppen nicht in die PLO einbezogen werden. Dagegen hat die Hamas historisch gesehen immer rebelliert. Spätestens ab den 2000er-Jahren war sie der Meinung, dass sie in der palästinensischen Bevölkerung genügend Legitimität genießt, um Teil dieser Dachorganisation zu werden, die doch alle palästinensischen Gruppierungen, die für die Befreiung kämpfen, zusammenführen soll. Dass die Hamas von der PLO marginalisiert wurde, liegt unter anderem daran, dass die PLO 1988 bis zu den Osloer Verträgen den Staat Israel anerkannt und die Rahmenbedingungen von Oslo akzeptiert hat.
Die Hamas ist entschieden gegen diese Abkommen. Ein Beitritt der Hamas zur PLO würde also bedeuten, dass sich die PLO mit diesem historischen Zugeständnis, das sie gemacht hat, erneut auseinandersetzen müsste. In den Jahren 2005 und 2006 wurden die Wahlen dem palästinensischen Volk aufgezwungen. Auch dies müssen wir im Zusammenhang mit dem »Krieg gegen den Terror« betrachten. Die US-Regierung unter George W. Bush drängte darauf, eine demokratische palästinensische Führung zu schaffen. Sie forderte Wahlen – nachdem viele der führenden palästinensischen Politiker ermordet worden oder gestorben waren.
Die Amerikaner drängen also auf Wahlen innerhalb der Palästinensischen Autonomiebehörde. Jetzt kommt die Hamas und sagt: »Die Palästinensische Autonomiebehörde ist illegitim. Das Oslo-Abkommen ist gescheitert. Wir können uns die Palästinensische Autonomiebehörde im Rahmen des Osloer Abkommens nicht vorstellen. Wenn wir nun bei diesen Wahlen antreten, dann in einer Zeit nach der zweiten Intifada, in der die Palästinenser ihr politisches Projekt neu aufbauen wollen – nach all der vernichtenden Gewalt, die gegen sie eingesetzt wurde.« Diese Zeit nach der (gescheiterten) zweiten Intifada wird somit eine Art Wiedergeburt für die palästinensische Befreiungsbewegung.
Die Hamas glaubte, ob zu Recht oder zu Unrecht, dass sie Teil der Palästinensischen Autonomiebehörde werden und dann sozusagen von innen heraus das palästinensische politische Establishment revolutionieren könnte. Sie hoffte, den Fuß in der Tür der Palästinensischen Autonomiebehörde nutzen zu können, um wirklich auch Teil der PLO zu werden oder zumindest alle grundlegenden Prinzipien zur Diskussion zu stellen, die die PLO bis dahin akzeptiert hatte, darunter nicht weniger als die Anerkennung des Staates Israel. Das Problem dabei war jedoch, dass weder Israel noch die PLO noch die internationale Gemeinschaft damit einverstanden gewesen wären. Sie waren vielmehr der Ansicht, dass der palästinensische Widerstand ausreichend geschwächt und daher nun genau der richtige Zeitpunkt sei, um die Palästinensische Autonomiebehörde als Verwalterin des Status quo zu stärken – und die Gespräche mit einer geschwächten palästinensischen Seite wieder aufzunehmen.
Diese Erwartungen waren natürlich nicht miteinander vereinbar. Nun tritt die Hamas jedenfalls bei den Wahlen an und es kommt zur Kettenreaktion: Die Hamas wird demokratisch gewählt, und zwar mit einer deutlichen Mehrheit in Wahlen, die von der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten unterstützt sowie von internationalen Beobachtern, darunter Ex-Präsident Jimmy Carter und diversen EU-Vertreterinnen als »fair« bezeichnet werden.
»Der gewaltsame Widerstand der Hamas ist somit damals wie heute etwas, das viele Palästinenserinnen und Palästinenser bewundern und schätzen, weil sie diese Haltung als Schutz vor israelischer Gewalt ansehen.«
Die Hamas gewinnt also eine demokratische Wahl. Ich möchte hier noch einmal kurz einwerfen und betonen, dass es sich um Palästinenser in besetzten Gebieten handelt. Palästinensische Geflüchtete in Drittstaaten, die Diaspora sowie palästinensische Bürgerinnen und Bürger Israels waren also nicht wahlberechtigt. Dennoch: Die Palästinenser in den besetzten Gebieten haben sich im Jahr 2006 aus diversen Gründen für die Hamas entschieden. Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft bestand nun hingegen darin, Anstrengungen zu unternehmen, um einen Regimewechsel zu erzwingen. Es wurden Vorbereitungen für einen Coup getroffen, um die gewählte Hamas zu stürzen und die Fatah wieder einzusetzen – also die Partei, die trotz des israelischen Apartheidsystems weiter auf Verhandlungen setzen will.
Diese Anstrengungen erfolgen in Form von finanzieller, militärischer und diplomatischer Arbeit gegen die Hamas und zugunsten der Fatah. Dennoch folgt ein knappes Jahr, in dem die Hamas versucht, den versuchten Staatsstreich zu verdauen und eine geeinte Palästinensische Autonomiebehörde aufzubauen, wobei sogar die unterlegene Fatah in das Regierungsgremium einbezogen werden soll. Ebenso scheint es, dass die internationalen Forderungen akzeptiert würden, einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 zuzulassen, die Teilung also in gewissem Maße zu akzeptieren und große Zugeständnisse zu machen.
Die internationale Gemeinschaft hingegen stellt der Hamas dieselben Bedingungen, die sie zuvor auch der PLO auferlegt hatte: Sie müsse den bewaffneten Widerstand aufgeben, den Staat Israel anerkennen und die Osloer Vereinbarungen akzeptieren – während diese Vereinbarungen von Israel, das immer noch mit Waffengewalt gegen Zivilisten vorgeht und seine Siedlungen weiter ausbaut, offensichtlich weder angewandt noch akzeptiert werden.
So wurde also versucht, die Hamas zu delegitimieren und zu marginalisieren. In vielerlei Hinsicht waren die Versuche erfolgreich: Es kam zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Hamas und Fatah, mit dem Endergebnis, dass die Hamas fortan den Gazastreifen kontrollierte und die Fatah die Macht im Westjordanland hielt. Damit nahm die institutionelle und politische Spaltung zwischen den palästinensischen Gebieten ihren Anfang.
Kommen wir zunächst noch einmal zurück zu den Wahlen: Wie konnte die Hamas so viele Wählerinnen und Wähler überzeugen? War es eher der radikale Widerstand gegenüber Israel oder doch das politische Programm, in dem ja beispielsweise die weit verbreitete Korruption unter und innerhalb der Fatah kritisiert wurde? Wie wollte die Hamas zukünftig Politik machen, die »normale« Regierungsführung einerseits und Widerstand andererseits unter einen Hut bringt?
Es wurde viel darüber spekuliert, wie die Hamas diese Wahlen gewinnen konnte. Eine der häufigsten Erklärungen lautet, dass es vor allem eine Protestwahl gegen die Fatah war. Tatsächlich hatte die Fatah zu diesem Zeitpunkt viel an Legitimität verloren, einerseits, weil sie sich zu den Verhandlungen mit Israel verpflichtet hatte, die offensichtlich ins Leere liefen. Andererseits wurde die Führung als korrupt angesehen und schien nicht die Interessen des palästinensischen Volkes zu vertreten.
Zum Zeitpunkt der Wahlen war die Fatah eine Partei, die ihre Blütezeit hinter sich hatte und nur noch von ihrem früheren Ruhm zehrte. Ich denke aber, man kann den Sieg der Hamas nicht nur als Protestwahl ansehen. Die Hamas hatte ein sehr kohärentes und durchaus cleveres politisches Programm vorgelegt, das viele Veränderungen innerhalb der Palästinensischen Autonomiebehörde beinhaltete. Sie trat für Reformen ein, sprach sich klar gegen die Korruption aus und konzentrierte sich auf die Bedürfnisse der unter der Besatzung lebenden Menschen.
In diesem Sinne schien sie vielen Palästinenserinnen und Palästinensern im Westjordanland wie auch im Gazastreifen aus dem Herzen zu sprechen. Gleichzeitig war natürlich auch die radikale Widerstandshaltung wichtig. Es mag ideologische Differenzen geben – nicht alle Palästinenser sind Islamisten – und es mag taktische Differenzen geben – bei weitem nicht alle Palästinenser würden Angriffe auf Zivilisten unterstützen – aber die Idee eines Widerstands, der Israel offensiv und mit Gewalt begegnet, ist etwas, das viele Palästinenser schätzten. Diese offensive Haltung wurde und wird als eine Form der Verteidigung gegen die aggressive, koloniale Gewaltausübung Israels angesehen. Das muss man klar so benennen: Die »Sicherheitskoordination« bedeutete für viele Palästinenser, eine Situation zu akzeptieren, in der tagtäglich Zivilisten getötet werden, ohne dass es eine Gegenwehr und/oder eine Form des Schutzes gibt. Der gewaltsame Widerstand der Hamas ist somit damals wie heute etwas, das viele Palästinenserinnen und Palästinenser bewundern und schätzen, weil sie diese Haltung als Schutz vor israelischer Gewalt ansehen.
All diese Faktoren zusammengenommen haben dazu geführt, dass die Hamas bei den Wahlen eine sehr gute Ausgangsposition hatte. Darüber hinaus sollte ich aber auch die Mobilisierung und Organisierung im Wahlkampf betonen, wo die Hamas offensichtlich viel effektiver war als die Fatah.
Was den zweiten Teil Deiner Frage zur Regierungsführung angeht... Ich glaube, die Hamas war sich insgesamt sehr unklar, was die Regierungsführung beinhalten würde. Ich glaube nicht, dass sie als Teil der Regierungsbehörde auftreten wollte. Sicherlich war der Wahlsieg auch für die Hamas selbst eine Überraschung. Man muss im Hinterkopf behalten, dass es sich bei ihr um eine Bewegung handelt – und ich glaube, diese Bewegung hatte deswegen eine ganze spezielle Idee des Regierens. Sie würde sich von der reinen Administration unter der Besatzung wegbewegen, hin zum organisierten Widerstand: Wie mobilisiert man Menschen unter der Besatzung, damit sie sich nicht mehr einbilden, ein okayes Leben zu haben, sondern damit sie sich darauf konzentrieren, »wirklich« Widerstand gegen die Besatzung zu leisten? Das war im Prinzip das »Regierungsprogramm« der Hamas.
Und in gewisser Weise konnten wir dieses Programm im Gazastreifen, in dem die Hamas in den vergangenen fünfzehn Jahren regiert hat, beobachten. Ich würde sagen, die Idee von Governance, von Regierungsführung, wie wir sie im Westen wohl verstehen – also im Grund die Versorgung einer Bevölkerung – war nicht unbedingt das, was die Hamas antrieb. Natürlich wollte sie eine Art Sozialsystem und Wohlfahrtsstrukturen für die Zivilbevölkerung schaffen oder beibehalten, aber prinzipiell ging es ihr immer mehr darum, den gewonnenen politischen Raum zu nutzen, um aktiv gegen die Besatzung vorzugehen.
Nun sind wir in unserem Gespräch am Zeitpunkt angekommen, an dem die Hamas die Macht in Gaza übernommen hat. Ich würde einen kurzen Ausreißer machen und über die Beziehungen der Hamas in der Region sprechen wollen. Traditionell war sie auf die Unterstützung aus dem Iran und Syrien sowie auf die Hisbollah als mächtigen Verbündeten an der Nordgrenze Israels angewiesen. Zumindest war das der Fall, bis der Arabische Frühling die Dinge verkomplizierte.
Wie kann man die Unterstützung für – oder den Widerstand gegen – die Hamas in der regionalen Geopolitik von den späten 1980er Jahren bis zu den Protesten auf dem Tahrir-Platz in Kairo einordnen? Und wie haben diese einschneidenden Proteste in der gesamten arabischen Welt – die unter anderem alte Bekannte, nämlich die Muslimbruderschaft, kurzzeitig an die Macht in Kairo brachten – die geopolitische Dynamik für die Hamas verändert?
Sowohl der Hamas als auch der PLO vor ihr war immer klar, dass die Palästinenser als eine mit wenig Ressourcen ausgestattete Gruppe auf die finanzielle, militärische und diplomatische Unterstützung von anderen Kräften in der Region angewiesen sind. Die Hamas war tatsächlich sehr gut darin, sich diese Unterstützung von verschiedenen Stellen zu sichern. Im Laufe der Jahre führte sie immer wieder Gespräche mit den Führungen von Ägypten, Saudi-Arabien, Libanon, Jordanien, Syrien, dem Iran, Katar und der Türkei. Dabei gab es stets ein Auf und Ab; oft hat die Hamas auch einige dieser Partner gegeneinander ausgespielt. Insgesamt war sie aber immer sehr gut darin, dafür zu sorgen, dass ihre Kontakte und ihre Aktivitäten nie über ihr unmittelbares Ziel, nämlich die Befreiung Palästinas, hinausgingen. Mit anderen Worten: Soweit ich weiß, wurde die Hamas nie dazu benutzt, in anderen Kriegen als Stellvertreter für ihre jeweiligen regionalen Gönner aktiv zu werden.
Wie Du angesprochen hast, änderte sich die Lage und wurde für die Hamas ziemlich turbulent, als die Revolutionen im Nahen Osten ausbrachen. Zwei Dinge waren dabei sehr wichtig. Erstens verbündete sich die Hamas, die sich immer als eine sehr volksnahe Bewegung sah, in den ersten Tagen der Revolutionen mit dem syrischen Volk gegen das Regime von Bashar al-Assad. Dies hat tiefe Risse verursacht. Der politische Arm der Hamas, der damals noch in Damaskus ansässig war, wurde aus Syrien vertrieben. Auch die Finanzierung aus dem Iran, einem Verbündeten des Assad-Regimes, wurde umgehend eingestellt. Nachdem die Hamas also aus Syrien hinausgeworfen worden war, verlegte sie ihr Politbüro nach Katar und begann, über andere Formen der Finanzierung zu nachzudenken.
»Die Hamas regiert in vielfacher Hinsicht autoritär. Sie hat soziale Proteste rigoros unterbunden. Im Gazastreifen gibt es keine wirkliche Rede- oder Versammlungsfreiheit.«
Die zweite große Veränderung war, dass im Zuge der Revolution die Muslimbruderschaft in Ägypten an die Macht kam; [Mohamed] Morsi wurde demokratisch gewählt. Man könnte sagen, dass dies eine Zeit der traditionell-islamischen Renaissance war: Es war die Zeit, in der die Muslimbruderschaft wieder Macht ausüben konnte.
Für den Gazastreifen und für die Hamas war das von großer praktischer Bedeutung. Schließlich ist Ägypten essenziell wichtig im Hinblick auf den Grenzübergang Rafah zwischen Gaza und Ägypten. Blockaden dieses Übergangs waren mehrfach ein Versuch, die Hamas gänzlich zu erdrosseln. Die Bewegung investierte damals sehr viel, um Tunnel vom Gazastreifen auf die Sinai-Halbinsel unter Rafah hindurch zu graben. Diese Tunnel wurden zu einer echten Lebensader für Gaza.
[Der ehemalige ägyptische Präsident Hosni] Mubarak hatte sich mit Israel gemein gemacht, indem er die Blockade gegen den Gazastreifen mittrug. Allerdings drückte er bei den Tunneln ein Auge zu. Während der Mubarak-Jahre konnte die Hamas somit einen gewissen Transport von Materialien und Waren (und Menschen) durch die Tunnel unter der Grenze sichern. Als Mohamed Morsi an die Macht kam, änderte sich die Lage aber ganz drastisch. Die Tunnel – eigentlich nicht nur die Tunnel, sondern die gesamte Grenze bei Rafah selbst – wurden viel durchlässiger. Die Blockade wurde gelockert; die Zusammenarbeit des ägyptischen Regimes mit Israel rund um den Gazastreifen wurde deutlich aufgeweicht.
Verständlicherweise wurden die damaligen Proteste in Kairo sowie die Machtübernahme von Morsi und den Muslimbrüdern entsprechend enthusiastisch in Gaza aufgenommen. Überall im Gazastreifen sah man Morsis Konterfei. Es herrschte der Glaube, die Blockade könne nun komplett überwunden werden. Die Palästinenserinnen und Palästinenser würden nun einen regionalen Schutzpatron haben, der sich gegen Besatzung und Blockade stellt. Die baldige Wendung der Ereignisse in Ägypten hat dem jedoch ein jähes Ende gesetzt: Als Abdel Fatah El-Sisi an die Macht kam, waren einige seiner ersten Maßnahmen, Tunnel zu schließen, einen Großteil der Gegend um Rafah herum zu räumen und die Blockade Gazas wieder zu verstärken. Das ist auch der heutige Status quo: Die ägyptische Regierung unter El-Sisi ist aktiv an der Blockade von Gaza beteiligt.
Auch Israel befand sich in einem Dilemma: Natürlich galt die Hamas als Feind, aber ihre Absetzung von der Macht in Gaza wollte man offenbar auch nicht. Warum?
Israel wollte das damals nicht, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es eine regierende Kraft brauchte, die den Gazastreifen stabilisieren und Israel von der Verantwortung für die Versorgung von zwei Millionen Menschen unter seiner Besatzung befreien würde. Man war der Meinung, dass die Hamas ausreichend in Schach gehalten werden konnte. Die israelische Regierung rechnete sich aus, dass ein paar Raketen alle paar Monate ein hinzunehmender Preis dafür waren, den Gazastreifen erfolgreich unter Blockade zu halten und ihn zu stabilisieren. Die politische Konstellation mit der Hamas als relativ schwache Führung wurde als eine Situation angesehen, die man relativ leicht tolerieren konnte. Deswegen sollte die Hamas als Regierungskraft an der Macht bleiben.
Mit Blick auf den Oktober 2023 wirkt das tragikomisch: Heute lautet das israelische Narrativ ja, dass die Hamas immer schon mit Gruppen wie dem Islamischen Staat vergleichbar war und deswegen zerschlagen werden müsse. Natürlich gibt es diesen Unterschied zwischen »jener« Hamas um 2014 und »dieser« Hamas nach dem 7. Oktober 2023 nicht. In der israelischen Polit-Szene wird jene Hamas von damals dennoch als nicht so kraftvoll und explizit aggressiv in ihrem Widerstand eingeschätzt als diese heutige Hamas.
Um nochmal zurückzugehen: Im Jahr 2014 wollte Israel also die Hamas als Regierungsautorität erhalten. Dies ist die Zeit nach Mursi in Ägypten, wo alle Lebensadern der Hamas in Form von Tunneln, die die Einfuhr von Waren ermöglichen würden, schon wieder unzugänglich waren. Damit waren Krisen in Gaza vorprogrammiert. Tatsächlich war die Hamas nicht in der Lage, die Menschen in Gaza zu versorgen, und die Palästinenserinnen und Palästinenser begannen, sich gegen sie zu wenden. Die Hamas wurde zumindest als Mitgrund für das Leid gesehen. Sicherlich verstanden die Leute auch damals, dass das Hauptproblem die Blockade ist – aber die Blockade kann man nicht abwählen, die Hamas schon.
So wird die Hamas zum ersten Adressaten der Wut in Gaza. Doch sie war in Bezug auf Regierungsführung, wie ich schon sagte, überaus ambivalent. Es war schlicht nicht ihr Anspruch, »Good Governance« im Inneren zu bieten. Sie wollte nur insoweit regieren, als sie ihre Regierungsgewalt dazu nutzen konnte, das Projekt »Widerstand« voranzutreiben und aufrechtzuerhalten. Im Jahr 2014 bedeuteten all diese Dinge, dass die Hamas mehr oder weniger handlungsunfähig war: Aufgrund der finanziellen Zwänge war sie nicht in der Lage, als effektive Regierungsbehörde zu agieren, und zeitgleich konnte sie auch keinen wirklich effektiven Widerstand gegen Israel leisten.
Wie würdest Du die Regierungsführung der Hamas seitdem beschreiben?
Die Hamas operierte immer unter bestimmten politischen Umständen und Gegebenheiten. Nach ihrem Wahlsieg 2006 zeigte sie sich vorsichtig inklusiv. Sie versuchte, die Fatah in die neue Regierungsstruktur zu integrieren. Das Problem in den Beziehungen der beiden Gruppen ist aber bis heute, dass die Hamas der Überzeugung ist, die Fatah verfolge eine Annäherungspolitik, die faktisch einer Kapitulation des palästinensischen Volkes gleichkäme. Diese Sicht macht eine tatsächliche Kooperation praktisch unmöglich. Die Hamas war und ist deswegen gegen Pluralismus im Allgemeinen oder Zusammenarbeit mit der Fatah im Speziellen. Eine »Versöhnung« der beiden Bewegungen ist sehr unwahrscheinlich.
»2023 war ein tödliches Jahr für die Palästinenser. Bis zu den Ereignissen am 7. Oktober wurden über fünfzig Kinder von israelischen Soldaten ermordet. International hat das niemanden interessiert.«
Aber um auf Deine Frage nach der Regierungsführung zu kommen: Ich denke, es ist wirklich wichtig, die Regierungsführung der Hamas im Zusammenhang mit der Blockade zu verstehen. Sie ist immer eingeschränkt in dem, was sie tun kann und was sie nicht tun kann. In der Praxis bedeutet das, dass ihre Regierungsführung alles andere als ideal ist. Ich würde die Regierungsform der Hamas als einen weichen Autoritarismus bezeichnen. Sie hat ganz eindeutig die politische Pluralität ausgehebelt. Beispielsweise wird Mobilisierung oder Organisierung der Fatah in Gaza nicht mehr zugelassen. Das darf man nicht rechtfertigen oder relativieren, es liegt aber zum Teil daran, dass es bei der Hamas einfach eine gewisse Paranoia gibt: Schließlich war die Mobilisierung der Fatah nach den Wahlen 2006 darauf ausgerichtet, einen Coup zu initiieren und den – wie gesagt: demokratisch in den damaligen Wahlen legitimierten – Aufstieg der Hamas zu untergraben.
Die Hamas regiert in vielfacher Hinsicht autoritär. Sie hat soziale Proteste rigoros unterbunden. Im Gazastreifen gibt es keine wirkliche Rede- oder Versammlungsfreiheit. Im Laufe der vergangenen sechzehn Jahre wurde immer wieder gegen Demonstrierende vorgegangen. Man muss diese klaren Defizite in der Regierungsführung der Hamas betonen. Zeitgleich sollten sie im Kontext der besonderen Herausforderungen von Okkupation und Blockade betrachtet werden.
Nun kam es am 7. Oktober zu den großen Angriffen der Hamas auf Israel. Was war der Kontext dieser Attacken und warum scheinen sie ein echter Wendepunkt, ein Bruch mit dem Bisherigen, zu sein?
Das sind zwei Fragen: die nach dem breiteren Kontext und die des unmittelbaren Zeitpunkts. Der breitere Kontext ist, dass die Hamas recht effektiv eingedämmt zu sein schien und der Widerstand im und aus dem Gazastreifen heraus eingeschränkt war. Es war also verhältnismäßig ruhig. Für die Israelis und für Außenstehende sah das wie eine erneute Form der »Sicherheitskoordination« und eine Beschneidung der Stärke der Hamas aus: Sie war auf den Gazastreifen beschränkt, und zwar auf eine Weise, die die israelische Zivilbevölkerung nicht allzu sehr stören oder ängstigen musste.
Während dieser Zeit hat die Hamas ihre Ideologie allerdings nicht geändert, im Gegensatz zur Fatah vorher. Die Hamas hat nie ideologische Zugeständnisse oder Kompromisse gemacht. Deshalb argumentiere ich in meinem Buch, dass die Eindämmung in den vergangenen Monaten und Jahren zwar wirksam war, es aber hätte absehbar sein können, dass die Ruhe nur vorübergehend ist. Denn für die Hamas war es immer denkbar, zu ihrer eigentlichen Ideologie und Praxis zurückzukehren, also dem bewaffneten Kampf für die Befreiung Palästinas.
Der breitere Kontext ist des Weiteren, dass angesichts dieser Eindämmung der Hamas das israelische Apartheidregime einerseits noch aggressiver vorangetrieben wurde und andererseits international und regional an Akzeptanz gewann. Mit aggressiver meine ich: noch mehr Einschränkungen für die Menschen im Gazastreifen, mehr Übergriffe von israelischen Siedlern auf Palästinenser im Westjordanland, mehr Veränderungen am Status quo in Jerusalem, mehr Hetze sowie mehr Verbrechen und Gewalt gegen palästinensische Communities in Israel selbst. Unter der am stärksten rechtsgerichteten und teilweise sogar faschistischen Regierung Israels werden Kolonisierung und ethnische Säuberung vorangetrieben.
Währenddessen zeigt sich die Biden-Regierung verständnisvoll, unter anderem soll die Visumspflicht abgeschafft werden; und es gibt Annäherungsversuche mit Saudi-Arabien. Aus palästinensischer Sicht ist das alles eine sehr beunruhigende Konstellation von Ereignissen, bei denen sie selbst immer stärker der israelischen Kolonialgewalt ausgesetzt sind, während Israel politisch und diplomatisch in der Region immer beliebter zu werden scheint. Das ist also der Kontext, in dem die Hamas beschließt, zu zeigen, dass sie eben nicht ausgeschaltet oder eingedämmt ist, und wieder als bewaffnete Kraft in Erscheinung zu treten.
Was das genaue Timing betrifft, so sollten wir bedenken, dass dies keine Aktion war, die in ein paar Wochen erdacht wurde. Das dürfte mit Sicherheit von langer Hand geplant worden sein. Ich denke, dass mehrere Faktoren für den genauen Zeitpunkt ausschlaggebend waren. Meiner Ansicht nach war der wichtigste Punkt – und andere mögen da anderer Meinung sein – die wahrgenommene Schwäche des israelischen Militärs. Sehr viele Reservisten protestierten gegen die Reformen, die die Regierung Netanjahu in Israel durchsetzte. Hinzu kommt eine gewisse Selbstgefälligkeit, denn in israelischen Militärkreisen hat man offenbar wirklich geglaubt, den Widerstand im Gazastreifen erfolgreich niedergeschlagen zu haben. So wurde die Alarm- und Einsatzbereitschaft im Gazastreifen zurückgefahren und sich stattdessen ganz auf den Schutz der Siedler im Westjordanland konzentriert.
Aus Sicht der Hamas erschienen diese inner-israelischen Konstellationen wohl als »gute Mischung«. Man sah die Zeit gekommen, Israel und seiner Armee möglichst großen Schaden, physisch wie psychisch, zuzufügen.
Dann kam es zum groß angelegten Anschlag… Zuvor hatte es allerdings diverse Versuche des weitgehend friedlichen Protests gegeben, beispielsweise die »Märsche der Rückkehr« 2018 und 2019. Dabei wurden von israelischer Seite aber rund 200 Menschen getötet und Tausende verletzt. Auch die umstrittene BDS-Bewegung verfolgt im Grunde eine klassische, nicht gewalttätige Strategie. Sie wird dennoch dämonisiert und mit massiver Repression bedacht. Wie kann aus palästinensischer Sicht eine sinnvolle Strategie gefunden werden, wo Israel und auch die Vereinigten Staaten doch offenbar alles tun, um sicherzustellen, dass jede einzelne Strategie – welcher Art auch immer – scheitert?
Das ist meiner Ansicht nach eines der größten Probleme. Die Haltung des aktuellen israelischen Polit-Establishments und auch der Amerikaner scheint zu sein: Nur ein guter (oder zumindest ein stummer) Palästinenser ist ein guter Palästinenser. Alle Formen des Widerstands werden mit Gewalt beantwortet; BDS und ökonomischer Protest werden als antisemitisch oder gar terroristisch abgestempelt; sich an den Internationalen Strafgerichtshof zu wenden, wird von israelischen Politikern als juristischer Terrorismus bezeichnet; selbst das Schreiben oder die Kultur oder das Eintreten für die Sache auf dem Uni-Campus wird als eine Form des »intellektuellen Terrorismus« angesehen. Das liegt daran, dass Israel ein Siedlerkolonialstaat ist, und in Siedlerkolonialstaaten müssen die Indigenen verschwinden, sie müssen beseitigt werden – weil sie sonst immer weiter an die Ungerechtigkeit erinnern, die der Kern für die Entstehung dieses Staates ist.
Es ist nicht vorstellbar, dass israelische Siedler nicht wissen oder nicht verstehen, dass die Grundlage ihres Handelns und ihres Staates ethnische Säuberung ist. Das ist in ihrer Geschichte verankert, sie sind sich dessen bewusst. Die Palästinenser erinnern durch ihre bloße Anwesenheit an diese Ungerechtigkeit. [Die Siedler] mögen die Vertreibungen als etwas rechtfertigen, das leider im Zusammenhang mit Kriegshandlungen geschehen sei, aber im Grunde erinnert die Anwesenheit der Palästinenser sie immer daran, was die Grundlagen ihres Wunsches nach einem kolonialen Staat sind. Anstatt sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen, und anstatt sich mit der politischen Realität auseinanderzusetzen, die die Palästinenser anprangern, haben sich diverse israelische und amerikanische Regierungen darauf konzentriert, dafür zu sorgen, dass das Thema »Palästinenser« entpolitisiert ist. Diese Menschen werden nur als ein Volk akzeptiert, das mit einigen Bürgerrechten lebt, und zwar in stiller Dankbarkeit. Jegliche Art von politischen Forderungen werden demontiert, ignoriert oder ausgeschlossen.
»Das ist die Arbeit, die wir nun tun müssen: herausfinden, welcher politische Ansatz eine wirksame Strategie zur Dekolonisierung beinhaltet und wie dieser Ansatz vorangebracht werden kann.«
2023 war ein tödliches Jahr für die Palästinenser. Bis zu den Ereignissen am 7. Oktober wurden über fünfzig Kinder von israelischen Soldaten ermordet. International hat das niemanden interessiert. Nun könnte man argumentieren, dass der bewaffnete Kampf das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser zwar wieder auf die internationale Bildfläche gebracht hat, aber es nun zu noch mehr Leid, zu noch mehr ethnischer Säuberung und zu einem Genozid kommen könnte. Das ist eine nachvollziehbare und sicherlich korrekte Einschätzung. Aus Sicht der Hamas ist die aktuelle Konfliktsituation aber wohl eine Alternative zum langsamen Leiden und Sterben der vorherigen Monate.
Zuvor war man im Gazastreifen gefangen und immer wieder kam es zu Übergriffen und Tötungen – ohne, dass das jemanden interessieren würde. Wenn man die politischen Grundlagen einer solchen Situation nicht ansprechen will, dann sagt man im Prinzip: Ich nehme es hin, dass palästinensische Menschen sterben, denn das ist der Preis, der für die Existenz Israels als jüdischer Staat bezahlt werden muss. Das ist aber leider nicht nur zu kurz gedacht, sondern offensichtlich auch nicht praktikabel. Die Palästinenser werden so lange Widerstand leisten, wie sie als Volk existieren.
Nach den Attacken der Hamas gab es in der [amerikanischen] Linken Debatten darüber, wie man diese Angriffe einzuordnen habe: Ist das ein Versuch der Dekolonialisierung Palästinas?
Wie haben derartige Debatten über die Befreiung Palästinas im Laufe der langen Geschichte der palästinensischen Bewegung ausgesehen? Und wohin könnten sie sich in diesem aktuellen, hoffnungslosen Moment als Nächstes entwickeln?
Ich denke, es steht mehr auf dem Spiel als je zuvor, und ich bin fest davon überzeugt, dass die Dekolonisierung in Palästina kontextspezifisch sein wird. Man kann von Algerien oder von Südafrika lernen, aber keines dieser Beispiele bietet die ultimative Lösung dafür, wie die Befreiung Palästinas letztendlich aussehen kann. Wir als Palästinenser und als ihre Verbündeten müssen selbst herausfinden und verstehen, was Dekolonisierung für uns bedeutet. Das Ergebnis wird aber nicht nur Palästina-spezifisch sein, sondern es ist etwas Universelles. Wir leben im 21. Jahrhundert; und auf dem Gebiet Palästina gibt es einen der beiden verbliebenen siedler-kolonialen Apartheidstaaten.
Also nochmals: Die Herausforderungen, mit denen die Palästinenser konfrontiert sind, sind sehr spezifisch für Palästina, aber sie haben auch universelle Auswirkungen in Bezug auf rassistische Unterdrückung, Macht und Herrschaft. Wir können das bereits beobachten: Wir sehen, dass die Ereignisse vom 7. Oktober neue Debatten in der Region und weltweit ausgelöst haben. Palästina steht also in gewisser Weise im Zentrum dessen, was es für uns bedeutet, über Dekolonisierung nachzudenken, was es für uns bedeutet, wirklich in eine postkoloniale Welt einzutreten.
Letztendlich wird Dekolonisierung nur effektiv sein, wenn sie nicht auf Blutvergießen und Tötung von Zivilisten beruht. Sie muss ein Prozess sein, der sich darauf konzentriert, eine bestehende Unterdrückungsstruktur zu beseitigen. Natürlich wird es dabei auch zu Gewalt kommen – ich glaube nicht, dass es irgendeinen antikolonialen Kampf gab, der nicht gewalttätig war. Doch es gibt einen Unterschied zwischen strategischem, bewaffnetem Widerstand und blindem Blutvergießen, das ohne ein wirksames ideologisches und strategisches politisches Projekt außer Kontrolle geraten könnte.
Ich denke, das ist die Arbeit, die wir nun tun müssen: herausfinden, welcher politische Ansatz, welches Projekt, eine wirksame Strategie zur Dekolonisierung beinhaltet und wie dieser Ansatz vorangebracht werden kann.
Tareq Baconi ist Vorsitzender von Al-Shabaka. Außerdem ist er der Autor von Hamas Contained: The Rise and Pacification of Palestinian Resistance.