10. Juni 2024
Mit der Verhängung hoher Zölle auf wichtige Güter läutet die Biden-Regierung die nächste Runde im Handelskonflikt mit China ein. Die EU wird dabei Querschläge einstecken. Und darunter leiden werden vor allem die europäischen Beschäftigten.
Der chinesische Präsident Xi Jinping schüttelt die Hand der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen in Paris, 6. Mai 2024.
»Wir verteidigen unsere Unternehmen. Wir verteidigen unsere Volkswirtschaften. Und wir werden nie zögern, dies zu tun, wenn es nötig ist«, kündigt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Mai nach einem Treffen mit Chinas Präsidenten Xi in einer trotzigen Pressemitteilung an. Denn: »[Chinas] subventionierte Produkte – beispielsweise Elektrofahrzeuge oder Stahl – überschwemmen den europäischen Markt. Gleichzeitig setzt Chinas die massive Unterstützung seiner verarbeitenden Industrie fort. In Kombination mit einer stagnierenden Binnennachfrage kann die Welt die chinesische Überproduktion nicht absorbieren.«
Die US-Administration hat nicht lange gezögert und vorgemacht, wie sie ihre Volkswirtschaft verteidigen möchte. »25 Prozent auf Stahl und Aluminium, 50 Prozent auf Halbleiter, 50 Prozent auf Solarpaneele, und 100 Prozent auf Elektrofahrzeuge«, verkündet US-Präsident Joe Biden stolz seine hohen Importzölle auf diese klimarelevanten chinesischen Produkte, weitere könnten noch folgen. Präzedenzlos sind diese Maßnahmen nicht – aber in ihrer aktuellen Dramatik stechen sie hervor.
Die EU ihrerseits prüft bereits seit vergangenem Herbst, inwieweit die chinesischen Produktionssubventionen gegen internationale Wettbewerbsregeln verstoßen und wie neue Zölle oder andere Importbeschränkungen in einem multilateralen Rahmen die eigene Solar-, Stahl- oder auch Autoindustrie vor Konkurrenz schützen könnten. Zweifelsohne wird China auf den aggressiven Schachzug der USA proportional antworten, wie auch schon in der Vergangenheit. Auch der EU hat Peking schon klargemacht, dass es sich etwaige Einfuhrzölle nicht klaglos gefallen lassen wird.
Ja, der internationale Welthandel ist ein hartes Pflaster. Die EU lernt gerade, dass sie einen Paradigmenwechsel im internationalen Handelswesen verschlafen hat, dass sie industriepolitisch weder den USA noch China etwas entgegenzusetzen vermag und dass das europäische Industriekapital in diesem geopolitischen Schlagabtausch noch einige wirtschaftliche Querschläger wegstecken wird. Dabei bedeutet der Handelskonflikt nicht das Ende des Freihandels – den es ohnehin nie so gegeben hat. Was aber zerfällt, ist die Illusion und die ideologische Sprache des freien und fairen Wettbewerbs, die das westliche Interesse an immer offeneren Märkten kaschierte. An ihre Stelle tritt die Sprache der Geopolitik und des offenen industriepolitischen Machtkampfes. Europas schlechte Stellung darin wird besonders die arbeitende Klasse treffen.
Die LINKE-Politikerin und JACOBIN-Podcasterin Ines Schwerdtner erkennt in der jüngsten Eskalation nichts weniger als das Ende der neoliberalen Ära. So epochal das auch klingen mag, unbegründet ist diese Vermutung nicht. Denn die Befreiung des internationalen Warenverkehrs war lange ein Grundpfeiler des Wirtschaftsliberalismus, der der US-amerikanischen Hegemonie nach dem Kalten Krieg zugrunde liegt. Das Gleiche gilt für die Europäische Union. Selbst als Marktvereinigung geboren, überzieht sie heute die Weltwirtschaft mit missionierenden Freihandelsabkommen.
Studierende der Volkswirtschaft lernen im ersten Semester, wie Zölle und andere Importbeschränkungen vermeintlich ineffiziente Unternehmen und veraltete Wirtschaftsformen künstlich vor dem internationalen Wettbewerb schützen. Dadurch soll verhindert werden, dass Konsumentinnen und Konsumenten preiswerte und vielfältige Importgüter aus Übersee zur Verfügung stehen.
Die Befreiung des internationalen Güterverkehrs von Handelsrestriktionen, Kapitalverkehrskontrollen, und Produktionssubventionen soll einen globalen Marktmechanismus fördern, der unter anderem die Spezialisierung von Ländern auf jene Produktionszweige hervorbringt, in denen sie über einen Kosten- und Standortvorteil verfügen. Jeder Markt kann so seine Nische finden und alle profitieren von der exportorientierten Wirtschaftsentwicklung, Friede, Freude, Eierkuchen. So vereinfacht diese Anschauung auch ist, sie war wirkungsmächtig: Mit der Gründung der Welthandelsorganisation 1995 wurde der Großteil der globalen Zolllinien auf Industriewaren stark gesenkt oder abgeschafft – ein krönender Sieg über den sowjetischen Block.
»Welthandel ist ein hartes Pflaster.«
Dass in der Realität vor allem jene Volkswirtschaften vom Freihandel profitierten, die ohnehin bereits in ihm etabliert waren – also vor allem die westlichen Staaten und später Japan – kommt in dieser simplen Schablone nicht vor. Die größten Freihandelschampions wie Großbritannien und Frankreich stützten sich am Anfang ihrer Industrialisierung und Handelsentwicklung sehr ungeniert auf protektionistische Zölle, Produktionssubventionen und koloniale Ausbeute. Auch das war nicht Teil der neoliberalen Entwicklungsrezepte zur Marktöffnung, die den sogenannten Entwicklungsländern in den 1990er Jahren zwangsverschrieben wurden.
Von der Öffnung ehemals zollgeschützter Märkte versprachen sich die Unternehmen auf der Gewinnerseite des Kalten Krieges Zugriff auf günstige Arbeitskräfte und Standortkosten ohne lästige Umwelt- oder Arbeitsschutzstandards, neue Absatzmärkte und Rohstoffvorkommnisse.
Gleichzeitig griffen die Bannerträger der Marktliberalisierung immer wieder gerne auf Importbeschränkungen zurück, wenn das eigene Kapital zu sehr von Neuankömmlingen bedrängt wurde. Japans Autoexporteure, als nur ein Beispiel, mussten sich ihren akzeptierten Platz im westlichen Markt erst mühsam erkämpfen und sich gegen Wellen von massiven Einfuhrrestriktionen der USA und Europas in den 1970er und 1980er Jahren durchsetzen.
Einen wirklich freien Handel unter Gleichen gab es also nie. Der weltweiten Marktliberalisierung folgte eine Auslagerung der unteren Enden vieler Produktionsketten vor allem nach Ostasien. Wertvolle Rohstoffe flossen währenddessen weiter in den Globalen Norden und die wertvollsten Montage- und Innovationsschritte blieben im Technologiesektor in Europa und den USA angesiedelt. Die Dienstleistungssektoren wurden immer zentraler und machen heute rund 73 Prozent aller Jobs in der EU aus.
Doch seit den 1980er Jahren hat die Kommunistische Partei China dieses Spiel des unfreien Freihandels besser gespielt, als seine Schöpfer es sich ausgemalt haben. Mit einer massiv exportorientierten Industriepolitik der Produktionssubventionen und einem unwiderstehlichen Angebot von niedrig bezahlten Arbeitskräften an ausländische Industrieunternehmen, hob China nicht nur Millionen Arbeitende aus der bitteren Armut. Auch wurde das Land zur sprichwörtlichen Werkbank des ehemals nachfragestarken westlichen Blocks und ein unabkömmlicher Teil der globalen industriellen Produktion schlechthin. Noch heute steigt die Abhängigkeit fast aller Volkswirtschaften von chinesischer Exportware an.
Von Peking umgarnt, zogen viele Industrieunternehmen Werke in den chinesischen Sonderwirtschaftszonen hoch und gaben technologisches Wissen weiter (oder wurden ausspioniert). Auch erkannte die staatliche Lenkungsgewalt die Wichtigkeit der Klimatransformation und bald stellte die chinesische Solar-, Stahl- und Elektrofahrzeugindustrie die europäische weit in den Schatten. Dadurch, zeigt Ökonom Dani Rodrik, »produziert China inzwischen fast 80 Prozent der weltweiten Solarmodule, 60 Prozent der Windturbinen und 60 Prozent der Elektrofahrzeuge und Batterien. Allein im Jahr 2023 wuchs die Solarenergiekapazität um mehr als die gesamte installierte Kapazität in den USA.«
»Die USA und EU machen China genau jene Wirtschaftspraktiken zum Vorwurf, die sie selber praktiziert und gepredigt haben und noch immer weiterverfolgen.«
Für die globale Klimatransformation sind es eigentlich gute Nachrichten, wenn essenzielle Waren von spezialisierten Standorten kostengünstig und skaliert hergestellt und vertrieben werden. Doch gerade auf diese Produkte verhängt die Biden-Administration neue drakonische Einfuhrbestimmungen, während sie gleichzeitig mit einem eigenen massiven, »grünen« Produktionssubventionskonstrukt, dem sogenannten Inflation Reduction Act (IRA), massiv Gelder, Investitionsversicherungen und Steuerbegünstigungen an Produzenten auf US-Boden verteilt. Zwar reicht der IRA nicht an die Schlagkraft des chinesischen Geflechts aus Produktionssubventionen, staatlichen Unternehmen und Sonderwirtschaftszonen heran, aber er erhöht die Standortattraktivität der USA für Auslandsinvestorinnen mit grünen Ambitionen bedeutend.
Es ist nicht nur die angebliche chinesische Überproduktion, die der Westen kritisiert: China wird auch vorgeworfen, dass Technologiediebstahl, verwehrter Marktzugang für ausländische Unternehmen und generell unfaire Handelspraktiken für den unlauteren Erfolg des Landes verantwortlich sind. Das klingt etwas heuchlerisch, wenn man die kolonialen und ausbeuterischen Fundamente der europäischen Industriesektoren im Kopf behält.
Aus all diesen Gründen darf man sich vom echauffierten Gefasel über unfaire Wirtschaftspraktiken Chinas nicht täuschen lassen: Die USA und EU machen China genau jene Wirtschaftspraktiken zum Vorwurf, die sie selber praktiziert und gepredigt haben und noch immer weiterverfolgen. Tatsächlich geht es, heute wie auch in der Vergangenheit, schlicht um die Interessenverteidigung des eigenen Kapitalraums. In diesem Sinne bringen von der Leyen und Biden jetzt nur offen zur Sprache, was schon immer der Fall war.
Die USA haben den Ernst der Lage erkannt, sie rudern ihre Bekenntnisse zum Freihandel zurück und fahren schwere Geschütze auf. Die EU hingegen kann, gefesselt von den selbstgesetzten neoliberalen Wirtschafts- und Politikregeln, keine industriepolitischen Maßnahmen auf Augenhöhe mit China ergreifen.
Zum einen können und möchten die EU-Staaten die heimischen Industrien nicht auf amerikanischem Niveau subventionieren. Zwar existieren auch hierzulande Subventionsprogramme, insbesondere für nachhaltige Energie. Doch insgesamt stehen die Wettbewerbsregeln des europäischen Binnenmarkts gegen eine entschiedene Begünstigung strategisch ausgewählter Unternehmen oder Industriezweige. Viele Subventionen sind durch ihr Design der Wettbewerbswahrung nicht durchschlagskräftig oder werden nicht ausgeschöpft. Sie schützen existierende Partikularinteressen von Unternehmensverbänden, anstatt Innovation und nachhaltigkeitsorientierte Weiterentwicklung zu fördern.
Auch die haushälterischen Vorgaben im EU-Block richten sich gegen größere Staatsdefizite, Schuldenaufnahme und planwirtschaftliche Interventionen in die Volkswirtschaft, die für eine billionenschwere Industriepolitik aber notwendig wären. Deutschland und gleichgesinnte EU-Staaten wie die Niederlande oder Österreich werden dieses Dogma bis zur letzten Budgetlinie verteidigen – außer bei der Rüstung, da sehen sie das nicht so eng.
Die ausweglosen politischen Debatten um legitime Staatshaushaltsdefizite auf deutscher und europäischer Ebene und der fortschreitende Sozialabbau verdeutlichen das. So entwickelt sich der Neoliberalismus in ungleichmäßiger und kombinierter Form fort: Die staatlich gesteuerte Handelspolitik wird im Zeichen der Geopolitik wieder legitimiert – bei gleichzeitigem Fortbestand der marktradikalen Austeritätspolitik. Zum anderen ist die wirtschaftliche Verflechtung mit China für die EU deutlich schwieriger zu entwirren als für die USA.
»Bidens neue Zölle sind nur ein weiterer, wenn auch energischer, Schritt in Richtung einer Regionalisierung und Blockbildung innerhalb der Weltwirtschaft.«
Bereits die Obama-Administration erkannte die Zeichen der Zeit und stieß ein wirtschaftliches de-coupling vom chinesischen Exportsektor an. Unter Präsident Donald Trump wurde dies mit eigenen Zöllen auf Stahlimporte und eine Blockierung der Welthandelsorganisation weiter vorangetrieben. Ironischerweise war es gerade Joe Biden, der Trump dafür stark kritisierte.
Insofern sind Bidens neue Zölle nur ein weiterer, wenn auch energischer, Schritt in Richtung einer Regionalisierung und Blockbildung innerhalb der Weltwirtschaft. Doch diese Aussicht bereitet der EU, allen voran Deutschland, ernste Probleme. Nicht nur in der Autoindustrie sind weite Teile deutscher Lieferketten in China ansässig oder verlassen sich auf chinesische Produkte. Die Amerikaner kaufen ohnehin kaum chinesische Elektrofahrzeuge aus China – in Europa hingegen stellen diese heute rund 25 Prozent aller verkauften Elektrofahrzeuge dar. Deutsche Autounternehmen verzeichnen den bedeutendsten Teil ihres Exportgewinns in China.
Neue Studien des Kiel Institut für Wirtschaft schätzen die unmittelbaren Folgen der US-amerikanischen Zölle auf den EU-China-Handel zwar als eher gering ein; sollte die EU aber der Aufforderung der US-Finanzchefin Yellen Folge leisten und ihrerseits Zölle auf Elektrofahrzeuge verhängen, könnten hiesige Käuferpreise wegen der Produktionskosten steigen.
Die USA können mit ihren Schutzmaßnahmen und dem IRA-Subventionsprogramm zu Recht hoffen, dass sie längerfristig selbst eine eigene Stahl-, Solar- und Elektroautoproduktion in ausreichendem Umfang aufbauen können, bevor sie von chinesischen Konkurrenten aus dem Rennen gedrängt werden. Diese Umstellung kostet Zeit und ist klimaschädlich. Das Hochfahren inländischer Produktion verschlingt fossil hergestellte Energie regelrecht und stößt große Mengen an CO2 aus. Diese global betrachtet ineffizienten Mehrkosten könnten durch die Akzeptanz chinesischer Produkte vermieden werden. Aber prinzipiell verfügen die USA über die notwendige Finanz- und Marktmacht, um China etwas entgegenzusetzen. Die EU nicht.
Bidens Zollaktivismus ist gleichzeitig eine klassenorientierte Innenpolitik. Im Zuge der Abwanderung amerikanischer Industrie nach Ostasien in den 2000er Jahre richtete sich die Demokratische Partei immer mehr nach den Wahlinteressen der white-collar-workers, die im Dienstleistungssektor der großen Küstenstädte florierten.
Spätestens in der Trump-Ära brach die Frustration der abgehängten, deindustrialisierten Bundesstaaten wieder an die Oberfläche und gewann an wahlpolitischer Relevanz.
Biden hat das scheinbar verstanden und mit dem IRA den Industriesektor zum Kernstück seiner Wirtschaftspolitik gemacht. Dabei buhlt er auch um die Gunst der Gewerkschaften und verspricht den Schutz inländischer Industriearbeitsplätze. Und so bewirbt die US-Handelsabgeordnete Katherine Tai die Handelspolitik der Biden-Administration nun anbiedernd als »workers-centric« (arbeitnehmerorientiert). Offenbar mit Erfolg: Viele Industriegewerkschaften, wie die mächtige und dynamische United Auto Workers, befürworten Bidens neueste Zollpolitik. Auch die Wirtschaftskrise seit der Covid-Pandemie verdeutlichte erneut, dass eine Wirtschaftszusammensetzung ohne industrielle Basis längerfristig immer wiederkehrenden Krisen nicht verkraften kann.
»Bidens Zollaktivismus ist gleichzeitig eine klassenorientierte Innenpolitik.«
Ob europäische Regierungen ähnliche industrielle Kapazitäten mittelfristig mobilisieren können, ist fraglich. Zu spät sprangen die europäischen Hersteller auf den Zug der günstigen Elektrofahrzeugproduktion auf, zu produktiv ist der chinesische Halbleiter- und Stahlsektor, zu groß war das Scheitern der Solarindustriepolitik, zu teuer ist die (nachhaltige) Energieversorgung durch Krieg und Krisen.
Die Industrie- und Handelspolitik der EU fügt sich generell in den European Green Deal ein, ein massives Transformationsmaßnahmenpaket der EU. Vieles darin beläuft sich allerdings auf regulatorische Maßnahmen der Marktumgestaltung mit verbessertem Zugang zu Kapitalmärkten für Industrielle und begreift die Klimaumstellung vor allem als ein technisches Puzzle. Eine strategische Wirtschaftsautonomie soll unter anderem durch den Critical Raw Material Act, verfolgt werden, der den Zugriff auf essenzielle Rohstoffe im Globalen Süden, vor allem in Lateinamerika und Afrika, gewährleisten soll. Diese Bemühungen stellen in keiner Weise ein de-coupling oder industriepolitisches Gleichziehen mit China dar.
Unwillens, die dirigistischen Zügel in die Hand zu nehmen wie Peking und Washington, bleibt der EU nur noch, europäisch angesiedelte Unternehmen demnächst durch Handelsbeschränkungen zu schützen, dabei aber wichtige Wertschöpfungsketten zu beeinträchtigen und Chinas Vergeltung zu riskieren. Und das zu einer Zeit des kontinuierlich stockenden Wirtschaftswachstums. Anders als Biden wird sich Brüssel dabei nicht auf krude Einfuhrzölle verlassen, sondern eher an den multilateralen Regeln der ohnmächtig dahintreibenden Welthandelsorganisation (WTO) orientieren. Diese ist selbst bereits seit Jahren durch den China-USA-Handelskonflikt gelähmt. Sicher wird die EU das protektionistische Wettrennen noch länger in eher moderater Geschwindigkeit mitlaufen – gewinnen wird sie so nicht.
Ein beispielhaftes Scheitern der EU lässt sich etwa in der Solarindustrie finden. Die EU, und allen voran Deutschland, ließen sich seit den 1990ern auf mehrere Subventionswettkämpfe mit der Kommunistischen Partei Chinas um die zukunftsträchtige Energietechnologie ein. Deutschland stellte breite Unterstützung für Solarhersteller bereit und begünstigte die Eröffnung von Solarindustrieparks, viele davon in Ostdeutschland. Man versprach Jobs, regionale Entwicklung und eine Wiederbelebung der deutschen Ingenieurskunst.
»Europa ist gefangen zwischen dem Druck des geopolitisch aufgeladenen Handelswettstreits, den China und USA mit harten Bandagen austragen, und dem eigenen Unvermögen, politische Spielregeln in nationalen Verfassungen und dem europäischen Wettbewerbsrecht zu reformieren.«
Doch der europäische und deutsche Wirtschaftsraum fiel zurück, aus mehreren Gründen. Die einst ungewisse Verfügbarkeit des Rohstoffs Polysilizium verlief günstig für China; die Finanzierungsbereitschaft der deutschen Regierungskoalitionen in Zeiten der Finanz- und Covid-Krisen schwankte stark im Kontrast zur geduldigeren politischen Rückendeckung Chinas für den heimischen Sektor; die größeren Produktionsstätten in China konnten die Herstellung schneller und größer skalieren als die klassisch deutschen Mittelstandsunternehmen. Jobs in Freiberg, Brandenburg und anderen Produktionsstätten sind heute in Gefahr. Manche ostdeutsche Industrieparks sind bereits wieder verwaist.
Das deutsche Scheitern in der Solarindustrie reiht sich ein in die lange Geschichte industriepolitischer Misserfolge im Osten nach dem Mauerfall. Auch der Tesla-Konzern, der eine umstrittene »Gigafactory« für Elektrofahrzeugherstellung in Brandenburg mit politischer Rückendeckung und millionenschweren Subventionen ausbaut, ist im Taumeln.
Europa ist also gefangen zwischen dem Druck des geopolitisch aufgeladenen Handelswettstreits, den China und USA mit harten Bandagen austragen, und dem eigenen Unvermögen, politische Spielregeln in nationalen Verfassungen und dem europäischen Wettbewerbsrecht zu reformieren. Ohne ein europäisches Gegengewicht wird der Strukturwandel hierzulande vor allem von Peking und dem Weißen Haus getrieben werden. Und wie immer in Zeiten des industriellen Umbruchs stehen Arbeitsplätze auf dem Spiel; sowohl existierende als auch jene, deren Schöpfung durch mangelnden politischen Willen verschlafen wird. Auch der Sozialabbau befindet sich weit oben auf der Kürzungsliste der Regierungen, die die Notwendigkeit von öffentlichen Investitionen anerkennen, sie aber nur im Rahmen einer politischen Schuldenbremse tätigen wollen.
Die Gewerkschaften sind hier in der Pflicht und müssen sich mit Klassenbewusstsein kraftvoll gegen diese Kürzungen stemmen, vor allem in Ostdeutschland. In manchen Orten passiert das bereits: In Brandenburg kämpfen die IG Metall, Gemeinden und Aktivistinnen gemeinsam gegen die ausbeuterische Praxis in der angeblichen Zukunftsindustrie der Elektrofahrzeuge – bei Tesla. Sie müssen ihre Forderungen weiter politisieren, über Lohnkämpfe hinausgehen, und eine nachhaltige arbeitnehmerorientierte Industriepolitik einfordern, die mit dem Spardiktat bricht. Diese muss die europäischen Industriesektoren klimafreundlich und zügig umzubauen – langfristig muss sich das Machtgleichgewicht weg von den Marktradikalen hin zu den Beschäftigten verlagern.
Simon Pompé arbeitet als Referent für Internationale Finanz- und Entwicklungspolitik beim Verein Weltwirtschaft, Ökonomie & Ökologie in Berlin. Er ist gewerkschaftlich und politisch in Berlin aktiv.