01. Mai 2025
Der erste Vorsitzende des DGB verkörperte die Arbeiterbewegung auf halbem Wege zwischen Emanzipation und Integration – als sie schon institutionell eingebunden war, aber auch noch weitreichende Ambitionen hatte.
»Während Hans Böcklers Lebenszeit wurde die einst randständige und revolutionäre Arbeiterbewegung mächtig und zugleich pragmatisch.«
»Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.« Dieses Bonmot, das August Bebel, dem ersten Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokratie, zugeschrieben wird, wirft ein unvorteilhaftes Licht auf unsere schnelllebige Zeit rasanter Veränderungen. Zumindest im kapitalistischen »Westen« drohen Gesellschaften geschichtslos und damit zukunftsunfähig zu werden.
Der 1. Mai, der internationale Kampftag der Arbeiterbewegung seit 1890, ist eines der wenigen Relikte, das noch zuverlässig an ihre Geschichte erinnert – auch weil er Jahr für Jahr viele Menschen zu mobilisieren vermag. Derweil zerfällt die einstige politische und soziale Doppelbewegung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften mit ihren klassischen Arbeitermilieus und ihrer Erinnerungskultur. Wichtige Protagonisten des 20. Jahrhunderts, deren Namen noch viele deutsche Straßen zieren, stoßen auf Unkenntnis oder Gleichgültigkeit. Kaum jemand vermag etwas mit ihren Namen anzufangen, je jünger, desto weniger – oder nichts.
Hans Böckler, der erste Vorsitzende des DGB und »Vater der Mitbestimmung«, dessen Geburtstag sich unlängst zum 150. Mal jährte, ist eine dieser historischen Figuren. Während seiner Lebenszeit – von 1875 bis 1951 – wurde die einst randständige und revolutionäre Arbeiterbewegung mächtig und zugleich pragmatisch. Mehr noch: Die Umstände seines Lebens erklären die Disziplin und den Pragmatismus, mit denen die deutschen Gewerkschaften einerseits die Erfolge erzielten, von denen wir bis heute zehren, und sich zugleich so weit in die kapitalistische Ordnung einfügten, dass frühere, größere Ambitionen wie Wirtschaftsdemokratie oder gar demokratischer Sozialismus heute kaum noch denkbar erscheinen.
Böcklers Geburtsjahr 1875 markiert zugleich die Vereinigung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) und des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) – der späteren SPD. Die Partei hielt ideell am von Karl Marx vorgegebenen Ziel fest, die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse zu erreichen. Dabei herrschte jedoch Uneinigkeit in der Frage der Mittel: Parlamentarischer Reformismus oder revolutionäre Massenstreiks zur Niederringung des obrigkeitsstaatlichen Systems – so lässt sich der sogenannte Revisionismusstreit in der SPD, aber auch bei den freien Gewerkschaften zusammenfassen, der sich in den Antipoden Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg personifizierte.
Gelingt es in arbeitsteiliger Manier, den Kapitalismus mittels erfolgreicher Wahlen, einer beharrlichen Sozial- und Tarifpolitik und mit Unterstützung mitgliederstarker Organisation zu zähmen oder zu überwinden? Bricht er gar irgendwann zusammen, ohne dass eine soziale Revolution notwendig wäre, um die Emanzipation der Arbeiterklasse zu erkämpfen? Haben Kritiker wie Robert Michels recht, wenn sie am Vorabend des Ersten Weltkrieges darauf hinweisen, dass die immer mächtiger werdenden Gewerkschaften (2,5 Millionen Mitglieder) samt SPD (1.086.000 Mitglieder, 4.250.000 Wähler) zum Selbstzweck werden, und deren Funktionäre nicht für, sondern von den Organisationen leben, die sich – obzwar weiterhin inmitten harter Auseinandersetzungen mit Staat und Unternehmen – in das System integriert haben?
Allerdings handelt es sich bei diesem Integrationsprozess um keinen Automatismus. Oftmals beruht er auf einem moralisch-fundierten oder weltanschaulich-verbrämten Pragmatismus der Arbeiterfunktionäre, die verwirklichbare Ziele verfolgen und dabei risikoavers handeln wollen. Das zeigt sich an der Vita von Hans Böckler besonders deutlich.
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Jens Becker ist promovierter Sozialwissenschaftler. Er veröffentlicht zur Entwicklung in Osteuropa, etwa in den Blättern für deutsche und internationale Politik, sowie zur Geschichte der Arbeiterbewegung, unter anderem in Arbeit – Bewegung – Geschichte.