24. Mai 2022
Die Hartz-IV-Sanktionen sollen für ein Jahr gestrichen werden – zumindest teilweise. Das ist sinnvoll. Doch um Armut zu überwinden, reicht das nicht.
Das Sanktionsmoratorium der Ampel-Koalition verspricht mehr, als es einlöst.
Ab dem Sommer werden die Sanktionen des Jobcenters für ein Jahr ausgesetzt werden. »Es ist vollbracht«, könnte man jetzt glauben. Doch die Regierung möchte sich dann doch nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Im neuesten Gesetzesentwurf heißt, dass »Leistungen erst nach einem wiederholten Meldeversäumnis zu mindern sind […] wenn das vorangegangene Meldeversäumnis weniger als ein Jahr zurückliegt«. Übersetzt bedeutet das, dass Arbeitssuchende innerhalb eines Jahres einen Termin versäumen dürfen, aber keinen zweiten, sonst wird ihnen das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) um 10 Prozent gekürzt. Das sind immerhin knapp 45 Euro.
Schaut man sich die Sanktionsstatistik der Bundesagentur für Arbeit an, ist ersichtlich, dass gerade Meldeversäumnisse in den letzten Jahren zugenommen haben. Im Jahr 2007 erschienen rund 50 Prozent der Arbeitssuchenden nicht zum Termin, 2013 waren es über 70 Prozent und 2019 sogar 78 Prozent. Die Quote sank erst wieder seit 2020 und in den Folgejahren der Corona-Pandemie, als die Jobcenter mehrheitlich geschlossen waren. Nun hat die Regierung beschlossen, aus dem Sanktionsmoratorium ein Moratorium light zu kreieren. Wer verzichtet schon gerne auf Rendite, wenn die »Erfolgsquote« bei über 70 Prozent liegt?
Die schärferen Sanktionen mit Kürzungen bis zu 30 Prozent – die etwa fällig werden, wenn sich Erwerbslose bei Trainingsmaßnahme nicht melden oder sich nicht bewerben – sind erst einmal vom Tisch. Angesichts dessen ist das verwässerte Sanktionsmoratorium ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, sofern gleichzeitig eine passgenaue Förderung für Erwerbslose erfolgt. Immerhin haben dafür sehr viele jahrelang gekämpft, allen voran DIE LINKE und die Grünen in der Opposition. Letztere sind nun in der Ampel-Koalition gezwungen, Kompromisse zu machen. Denn weder die FDP noch die SPD haben sich jemals gänzlich gegen die Sanktionen ausgesprochen.
Seit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 stellten sich auch bundesweit diverse Erwerbsloseninitiativen gegen die Sanktionen. Sie kennen natürlich aus eigener Beratungstätigkeit die Nöte der Menschen, wenn ihnen das Geld gekürzt wird. Sie kennen aber auch die Gründe der Meldeversäumnisse und sie wissen, warum jemand sich nicht beworben hat oder ein weiteres Bewerbungstraining ablehnt. Auch Aktivistinnen und Aktivisten machen seit Jahren mit Aktionen darauf aufmerksam, dass Sanktionen in der Praxis kontraproduktiv sind. Inzwischen ist das auch zu den Wohlfahrtsverbänden durchgedrungen, die zu Beginn der Agenda 2010 noch sehr zurückhaltend waren oder Sanktionen sogar befürworteten. Auch sie sprechen sich gegen Sanktionen gegen Erwerbslose aus. Der Weg zum Sanktionsmoratorium war also lang und mühselig. Nur mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts Karlsruhe wurden die Sanktionen im November 2019 von 100 Prozent auf maximal 30 Prozent gesenkt.
Die Befürworter des Sanktionsregimes – seien es Parteien oder Verbände – verfallen erwartungsgemäß in Schnappatmung, wenn Erwerbslose nicht mehr bestraft werden dürfen. Das gilt auch für die Bundesagentur für Arbeit, die mit ihren zugehörigen Jobcentern die Exekutive der Sanktionen darstellt. Wie die Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2013 beteuerte, hätten die Sanktionen einen »erzieherischen Charakter«. Ähnlich äußerte sich eine anonyme Jobcenter-Mitarbeiterin kürzlich in der Süddeutschen Zeitung. Sie hält die Abschaffung für eine Katastrophe und resümiert: »Ohne Sanktionen tanzen uns Hartz-Empfänger auf dem Kopf herum«.
Aktuell teilt die Bundesagentur für Arbeit ihren Beschäftigten Folgendes mit: »Unser Handeln ist nicht auf Sanktionen ausgerichtet. Wir sind an einem vertrauensvollen Miteinander interessiert. Jobcenter brauchen aber eine Handhabe, wenn sich Einzelne entziehen – auch um den Kontakt aufrecht zu erhalten«. Klingt ein bisschen weniger paternalistisch. Doch der Grundtenor ist derselbe: Erwerbslose müssen »erzogen« werden. Und wer sich nicht erziehen lässt, wird mit finanziellen Folgen bestraft. Die alltägliche Grundversorgung mit Essen, Getränken, Hygieneartikeln, aber auch die Begleichung von Rechnungen kann dann mitunter nicht mehr finanziell gestemmt werden.
Das Perfide daran ist, dass die »Schuldigen«, also die Erwerbslosen, die Beweislast für ihre Unschuld zu erbringen haben. So kann es passieren, dass ein Meldeversäumnis sanktioniert wird, weil sich der Bus verspätete. Ähnlich sieht es bei nicht wahrgenommenen Vermittlungsangeboten aus: Es ist surreal, wenn jemand zum wiederholten Mal einen Vermittlungsvorschlag erhält, den er körperlich oder fachlich nicht ausüben kann. Trotzdem muss eine Bewerbung geschrieben werden – ansonsten wird das Geld um 30 Prozent gekürzt.
Das neue Bürgergeld soll Hartz IV im Januar 2023 ersetzen. Für die Bundesagentur für Arbeit bedeutet das: »Das Prinzip des ›Förderns und Forderns‹ bleibt erhalten, wird aber stärker auf den Aspekt des ›Förderns‹ und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe ausgerichtet«. Klingt schön – doch schon im Sommer 2023 wird die Verpflichtung zu einer »Zusammenarbeit auf Augenhöhe« kaum mehr als ein Lippenbekenntnis sein. Denn das Damoklesschwert der Sanktionen hängt dann wieder über den Köpfen der Erwerbslosen. Aus jedem Vermittlungsvorschlag sticht diese Androhung hervor. Es ist ein kollektiver Stumpf- und Starrsinn, wenn Unmengen an Steuergeldern für Vermittlungsvorschläge verprasst werden, die den Kompetenzen der Erwerbslosen ohnehin nicht entsprechen. Der aktuelle Gesetzesentwurf für das Sanktionsmoratorium sieht bei den Leistungen zum Lebensunterhalt eine Mehrausgabe von rund 12 Millionen Euro im Jahr 2022 vor. Man fragt sich, wie verkommen eine Regierung sein muss, um die möglicherweise fälligen Sanktionen im Haushalt als Steuergelder einzuplanen.
Auf Twitter teilen unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen aktuell viele Menschen ihre eigenen Erfahrungen. Alle Parteien, außer der LINKEN, schweigen dazu. Stattdessen werden sanktionierte Menschen zu Totalverweigerern pauschalisiert. So meinte etwa der Unionsabgeordnete Kai Whittaker, dass mit diesem Gesetz der Anspruch »Leistung muss sich lohnen« ausgedient habe und ab sofort der Leitsatz »Nichtleistung lohnt sich mehr« gelte. Totalverweigerer gab es immer. Allerdings werden diese von Akteuren wie Whittaker instrumentalisiert, um die Sanktionen beizubehalten und Beschäftigte dazu zu bewegen, auch schlecht bezahlte Jobs anzunehmen. Das ist das eigentliche Problem – und nicht die wenigen Totalverweigerer.
Laut Sanktionsstatistik fallen gerade einmal 3 Prozent aller Erwerbslosen in diese Kategorie. Wobei auch hier ungeklärt ist, ob die Erwerbslosigkeit tatsächlich Abbild einer Arbeitsunwilligkeit ist. Denn Erwerbslosigkeit kann viele Gründe haben: Insolvenz des bisherigen Betriebes, Stellenabbau, längere Erkrankung, Alter, Erziehungszeit, Pflege von Angehörigen oder aktuell die Corona-Pandemie.
Es ist eine Verschwendung und Entwertung von menschlichen Ressourcen und Fähigkeiten, wenn sich (Hoch)-Qualifizierte in Hilfstätigkeiten verschleißen sollen, während sie sogar dazu bereit wären, für einen Lohn in Höhe des Existenzminimums einer Beschäftigung nachzugehen, die ihren Kompetenzen entspricht. Unter Angst vor Repressionen nehmen sie hingegen jede noch so miserable und schlecht bezahlte Tätigkeit an. Man muss sich doch die Frage stellen, warum die Quote der Meldeversäumnisse überhaupt bei über 70 Prozent liegt. Ob das mitunter auch daran liegen könnte, dass dieses System Leistungen vom Wohlverhalten der Einzelnen abhängig macht, scheint kaum jemand in Erwägung zu ziehen.
Bei allen Diskussionen um die Sanktionen, muss man sich vergegenwärtigen, dass wir uns einer Frage zuwenden, die die allgemeinen Menschenrechte berührt. Sie gelten für alle ohne Vorbehalt und können eben nicht an Bedingungen wie regelkonformes Verhalten geknüpft werden. Sozialleistungen erfolgen bedarfsabhängig. Sanktionen verstoßen jedoch gegen dieses Prinzip, wenn Leistungen gekürzt werden.
Neben diesem Aspekt gelten Sozialleistungen als ein Existenzminimum. Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und der Linkspartei haben ergeben, dass das Existenzminimum für eine alleinstehende Person mindestens 678 Euro betragen muss. Mit derzeit 449 Euro ist dieses bereits weit unterschritten. Die vorübergehende Sanktionsfreiheit verbessert die Lage von Betroffenen ohne Zweifel, doch sie wird Hartz IV nicht abschaffen. Hartz IV bedeutet Armut. Und um diese zu beenden, muss der Regelsatz auf 678 Euro angehoben werden. Kinder und Jugendliche benötigen eine eigene existenzsichernde Kindergrundsicherung. »Weiße Ware«, wie Waschmaschinen müssen bezuschusst und nicht als Darlehen genehmigt werden, das dann über Jahre abbezahlt werden muss.
Auch mit der jahrelangen Stigmatisierung von Erwerbslosen, die sowohl von den Medien als auch von der Politik befeuert wurde, muss Schluss sein. Bereits vor Hartz IV sprach Die Zeit von einer neuen »Unterschicht«. Gemeint waren die »neuen Arbeitslosen«, die Arbeitslosengeld II bezogen. Der damalige SPD-Kanzler Schröder sprach von Eigenverantwortung, auf die bis heute verwiesen wird, um die Verantwortlichkeit auf die Betroffenen abzuschieben, was unter ihnen wiederum Scham und Verletzlichkeiten auslöst. Gleichzeitig wird den Erwerbslosen die »Eigenverantwortung« wieder entzogen, etwa durch Sanktionen oder eine entmündigende und bevormundende Sozialpolitik, die ihnen vorschreibt, was sie zu tun haben und ihnen ihre Entscheidungsfreiheit nimmt. Der Mythos des »faulen, dummen Erwerbslosen« war somit geboren und ist bis heute in den Köpfen der Menschen verankert.
Aussagen wie »Dann tanzen uns Hartz-Empfänger auf dem Kopf herum«, führen keineswegs dazu, dass Erwerbslose in den Jobcentern auf Augenhöhe entgegengetreten wird und sie forcieren das Bild des »faulen Erwerbslosen« in der Öffentlichkeit. Solche Plattitüden entschmenschlichen das Gegenüber auf beiden Seiten und erschweren oder verunmöglichen eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Die Sanktionen für ein Jahr auszusetzen, ändert an dem Machtverhältnis zwischen Jobcenter und Arbeitssuchenden noch nichts. Sie müssen dauerhaft ausgesetzt und Hartz IV nicht nur umbenannt, sondern das entstandene System der Demütigung grundlegend verändert werden.
Inge Hannemann ist Hartz-IV-Kritikerin und ehemalige Politikerin der Linkspartei.