21. August 2024
Eine bessere Welt entsteht nicht durch den Tod von Märtyern. Unser Ideal sollte eine Zukunft sein, in der niemand für ein politisches Ziel zu sterben bereit ist.
In Gedenken an Hanumshahe Zymberi und Tefik Zymberi wurden in der Kommune Gjilan Büsten aufgestellt.
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich in Deutschland ein erschreckender Stimmungswechsel vollzogen. Angesichts eines Krieges vor der eigenen Haustür machen sich die Deutschen wieder Gedanken über Fragen, die längst vergessen schienen. Was ist Freiheit wert? Wie viele Menschenleben? Ist es die Verantwortung von Männern, ihre Frauen und Kinder zu schützen? Oder ihr Land? Was heißt es, wenn die eigene Identität bedroht wird? Würde ich mein Leben opfern, um sie zu bewahren?
Diese Entwicklung finde ich erschreckend, weil ich Deutschland so nie kannte. Ich wurde im Kosovo geboren, zwei Jahre vor dem Kosovokrieg 1999. Nach dem Krieg kam ich nach Deutschland, wo ich aufwuchs. Im Gegensatz zur patriotischen, vom Krieg traumatisierten Gesellschaft meines Geburtslandes, kam mir meine neue Heimat geradezu verweichlicht vor. Während in jedem kosovarischen Haushalt die albanische Nationalflagge und das Wappen der Kosovarischen Befreiungsarmee hingen, hatten sich meine deutschen Freunde nie Gedanken über ihre Nation gemacht. Stolz oder irgendeine andere emotionale Verbundenheit zum eigenen Land fühlten sie wenn überhaupt nur während der WM 2006.
In der Schule und in den Medien wurde das Bild einer zivilisierten, postnationalen Welt gezeichnet, zu der etwa Länder wie Deutschland oder Frankreich gehörten. Man machte sich lustig über den rückwärtsgewandten Patriotismus der Amerikaner. Und wenn die Tagesschau über Kriege in fernen Ländern berichtete, war die Verblüffung darüber groß, dass es heutzutage noch Menschen gab, die für Religion oder Vaterland zu kämpfen bereit waren.
Nun scheint es so, als sei die Friedensdividende Geschichte. Mit Russland als unmittelbarer Gefahr für die Sicherheit unserer Nachbarstaaten und erstarkenden Autoritarismen auf der ganzen Welt erscheint die liberale Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik als teures Gut, das es mit allen Mitteln zu verteidigen gelte. Vorrangig Politiker und Journalistinnen sind der Meinung, dass Deutschland wieder Verantwortung übernehmen muss – und mit Deutschland auch die deutschen Bürger. Große Teile der Politik und des Verteidigungsapparats fordern eine Wehrpflicht. Der sozialdemokratische Verteidigungsminister Boris Pistorius hat nun angekündigt, zumindest verpflichtende Fragebögen auszusenden, um die Anzahl wehrfähiger junger Männer im Land erfassen zu können. Eine Pflicht zum Militärdienst wurde damit nicht beschlossen. Ob das in der nächsten Legislaturperiode unter einem potenziell christdemokratischen Kanzler so bleiben wird, ist kaum vorauszusagen.
»In der Schule und in den Medien wurde das Bild einer postnationalen Welt gezeichnet. Man machte sich lustig über den rückwärtsgewandten Patriotismus der Amerikaner.«
Ich bin mir im Klaren darüber, dass die Stimmung in den deutschen Haushalten nicht ausschlaggebend für die Verteidigungspolitik der Bundesregierung ist. Trotzdem spüre ich die Verantwortung, meine Familiengeschichte zu teilen. Im Gegensatz zu den meisten Deutschen in meinem Alter haben mich Themen wie Unterdrückung, Patriotismus und Heldentum schon viele Jahre meines Lebens begleitet. Die Auswirkungen des Ukrainekriegs auf die gesellschaftliche Stimmung haben meine Erfahrungen in ein neues Licht gerückt. Wir müssen uns konsequent dagegen sträuben, Gewalt und Tod als angemessen Preis für die Erhaltung gesellschaftlichen Fortschritts zu betrachten. Ich hoffe, dass meine Einsichten über das Schicksal meiner Eltern und über die kosovarische Geschichte für den ein oder anderen dabei von Wert sind.
Meine Eltern waren nicht nur im romantischen Sinn ein Paar. Sie lebten und arbeiteten zusammen, ihre Biografien waren nicht nur miteinander verschränkt, sondern auch mit der Geschichte ihrer Heimat, dem mehrheitlich von Albanern und einer serbischen Minderheit sowie anderen Ethnien bevölkerten Kosovo. Beide stammen aus der Kommune Gjilan, sie war in der Stadt aufgewachsen, er in einem abgelegenen Dorf. Beide zogen für ihr Studium der albanischen Sprache und Literatur nach Pristina, wo sie sich später kennenlernten. Die neue Hauptstadt der Provinz Kosovo war gleichzeitig der neue kulturelle Mittelpunkt der Albanerinnen und Albaner, die jenseits des eisernen Vorhangs unter Enver Hoxha lebten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er sich mit Josip Tito geeinigt, Kosovo Jugoslawien zu überlassen, um eine Vereinnahmung Albaniens abzuwenden. Einige Jahre später schloss sich die Grenze aufgrund der Treue Hoxhas zur Sowjetunion. Albanien wurde von meinen Eltern, wie von den meisten im Ausland lebenden Albanerinnen und Albanern, als verwehrte Heimat idealisiert. Die Abschottung verstärkte diese Sehnsucht, denn bis 1988 konnten revisionistische Jugoslawinnen und Jugoslawen nur illegal in das stalinistische Albanien ein- und ausreisen. Kritik am eigenen Regime gelang selten über die eigenen Grenzen.
Auch mein Vater duldete keine Kritik am heißgeliebten Mutterland. Sein jugoslawischer Reisepass erlaubte ihm, als Saisonarbeiter in der Schweiz zu arbeiten. Aber albanischen Boden betrat er 1992 zum ersten Mal, wo ihm und seinen mitreisenden Freunden die Seitenspiegel ihres Autos gestohlen wurden. Der Stolz hatte ihn davon abgehalten, nach ihrer Heimkehr diese Geschichte zu erzählen.
»Titos Tod markierte allerdings nicht nur das Ende des sozialistischen Aufstiegsversprechens durch den Nachkriegs-Boom, sondern auch das Ende der jugoslawischen Brüderlichkeit.«
Sein Bruder erzählte mir eine Anekdote, die mich geprägt hat und die diesen Text inspirierte: Als er zum ersten Mal in seinem Leben in Albanien war, Anfang der 2000er für einen Strandurlaub, unterhielt er sich mit einem ansässigen Tankwart über die Zeit des Realsozialismus in beiden albanischen Ländern. Er sagte zum Tankwart: »Ihr hattet es besser als wir, ihr konntet ungestört eure eigene Flagge hissen und eure Lieder singen!« Darauf entgegnete der Tankwart: »Wie soll man singen, wenn der Magen knurrt?«
Bis 1980 regierte der über Landesgrenzen verehrte Staatspräsident Jugoslawiens Josip Tito, seinerseits Kroate. Er gestand den verschiedenen Ethnien im Vielvölkerstaat neben weitreichender Autonomie in der Verwaltung und Religionsfreiheit auch ein hohes Maß an kultureller Freiheit zu. Dazu zählte auch die Universität von Pristina. Sie eröffnete einer breiten Masse die Tür zu höherer Bildung abseits von Militär- und Bürokratenausbildung in Belgrad. In Kosovos eigener Universität konnten Akademikerinnen und Akademiker innerhalb der Republik in albanischer Sprache ausgebildet werden. So entstand eine neue Generation, die gleichermaßen gebildet wie patriotisch war und hohes Ansehen in allen Teilen der Gesellschaft genoss. Zu dieser Generation gehörten meine Eltern.
Tito hatte veranlasst, dass nach seinem Tod jede Republik, einschließlich des Kosovo, abwechselnd einen Vorsitzenden stellte. So bekam Jugoslawien 1984 sogar einen albanischen Vorsitzenden namens Sinan Hasani. Die Verfassung Jugoslawiens von 1974, die Kosovo die Rechte einer autonomen Teilrepublik zusicherte, wurde später von Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtlern herangezogen, um Kosovos Anspruch auf nationale Unabhängigkeit zu begründen. Titos Tod markierte allerdings nicht nur das Ende des sozialistischen Aufstiegsversprechens durch den Nachkriegs-Boom, sondern auch das Ende der jugoslawischen Brüderlichkeit.
Meine Eltern wurden in Pristina Teil der kosovo-albanischen Studierendenbewegung, die sich zu einer pro-albanischen Bewegung entwickelte, die im Untergrund agierte und die auf eine gleichberechtigte kosovarische Republik hinzuwirken versuchte. Die Zusammenführung Kosovos mit Albanien wurde von großen Teilen der Bevölkerung ersehnt, auch wenn es dafür keine unmittelbare Perspektive gab. Mein Vater organisierte die ersten Studierendendemos von 1981 mit, die vom Protest gegen die schlechte Universitätsmensa unter Polizeigewalt zu einem Brennpunkt für alle Anliegen kosovarischer Selbstbestimmung wurden und sich danach jährlich wiederholten. Im Zuge der Proteste verbrachte er zwei Monate in einem überfüllten Gefängnis. Einer seiner Zimmergenossen überlebte die Haft nicht. Täglichen gewaltsamen Vernehmungen ausgesetzt, hatte sich der Achtzehnjährige aus dem Fenster gestürzt. Sein Tod hatte eine weitere Eskalation der Proteste zufolge.
»Neben ihrem Engagement für die nationale Sache waren sie Teil der Bewegung für gewaltlose Streitschlichtung. Anfang der 1990er wurden so 2.511 Blutfehden versöhnt.«
Nach seinem Studium wurde mein Vater Lehrer in der Dorfschule, deren Schüler er einmal selbst gewesen war. Er war Chefredakteur einer bald verbotenen Zeitschrift, die pro-kosovarische Agitation betrieb und aktuelle Geschehnisse aus der kosovarischen Gesellschaft problematisierte. Seine Ehefrau, meine Mutter, wurde Direktorin einer Grundschule in ihrer Heimatstadt. Sie waren zunächst beide aktiv in der Demokratischen Verbindung Kosovos (LDK), der ersten Partei abseits der Kommunistischen Partei Jugoslawiens und der gemeinnützigen Organisation Nena Terezë (Mutter Theresa), die Spenden sammelte und Armut linderte. Neben ihrem Engagement für die nationale Sache waren sie Teil der Bewegung für gewaltlose Streitschlichtung. Anfang der 1990er wurden so 2.511 Blutfehden versöhnt.
Die 1990er Jahre waren geprägt von erstarkenden nationalistischen Kräften in Serbien, was zu härterer serbischer Repression und wachsender albanischer Militanz in der serbischen Provinz Kosovo führte. Das kosovarische Parlament wurde aufgelöst und alle albanischen Beamten wurden entlassen, inklusive der Lehrkräfte. Meine Eltern unterrichteten, wie ihre Kollegen, ehrenamtlich weiter. Finanziert wurden sie durch Geldsendungen aus der kosovarischen Diaspora, die Anfang der 1990er vor allem nach Deutschland, in die Schweiz und in die USA geflohen war, sowie einem Solidaritätstopf, organisiert von der LDK (für letztere plünderte mein Vater einmal den Weizenvorrat seiner eigenen Familie).
Teil des nationalen Befreiungskampfes war für immer mehr Kosovoalbanerinnen und Kosovoalbaner auch die militärische Auseinandersetzung, während der gewaltfreie Widerstand, der vom LDK-Vorsitzenden Ibrahim Rugova angeführt wurde, zunehmend verdrängt wurde. Mein Vater trat der Zeitung Bashkimi (Vereinigung) bei, die den bewaffneten Kampf propagierte. Meine Mutter und er schlossen sich der paramilitärischen Nationalen Befreiungsarmee (UÇK) an, in der sie für Logistik und Informationsbeschaffung zuständig waren. Die UÇK wurde maßgeblich durch Waffentransporte aus Albanien unterstützt und kämpfte im Kosovo-Krieg gegen die jugoslawische Armee und die serbische Polizei unter dem nationalistischen Slobodan Milosevic. Adem Jashari, der Anführer der als Terrorgruppe eingestuften UÇK, wurde im März 1998 mit seiner gesamten Familie in seinem Haus ermordet. Angesichts der Erinnerung an den vorangegangenen Völkermord in Bosnien erhielt die UÇK die Unterstützung der NATO.
Meine Mutter ließ sich trotz Bitten und Vorwürfen von Familie und Bekannten nicht auf ihre Rolle als Mutter beschränken. Meine Tante brachte meiner Schwester und mir das Lieblingslied meiner Mutter namens »Ich will Waffen und Munition« bei, ein Propagandalied aus dem hoxhaistischen Albanien, das die Kampfbereitschaft der Frauen besingt: »Ich bin ein albanisches Mädchen, ein Mädchen der Berge. Ich habe Kraft und Herz wie ein Junge.« So arbeiteten meine Eltern die meiste Zeit zusammen und starben auch so.
»Der Krieg hinterlässt ein schwarzes Loch, aus dem die kollektive Psyche nur schwer herausfindet.«
Im April 1999 wurde die UÇK-Basis im Heimatdorf meines Vaters von serbischen Truppen umzingelt. In der Nähe wurden meine Eltern in einem Auto überfallen und getötet. Mein Onkel identifizierte sie in einem Massengrab. Ich weiß bis heute nicht, ob sie je im Gefecht waren – ich habe nie danach gefragt.
Zwei Monate später zwang die NATO Belgrad durch Luftangriffe auf Serbien und Kosovo zur Kapitulation, die zwischen 300 und 1.000 serbischen Truppen und etwa 500 Zivilisten töteten, wobei die Zahlen je nach Quelle stark schwanken. Der Krieg vertrieb weit über eine halbe Million Menschen und forderte über 13.000 Tote. Er wurde mit einem Abkommen zwischen der NATO und der serbischen Seite beendet. Der Kosovo wurde unter UN-Verwaltung gestellt und die UÇK-Kriegshelden erlangten schnell politische Macht im werdenden Staat.
Der Krieg hinterlässt ein schwarzes Loch, aus dem die kollektive Psyche nur schwer herausfindet. »Vor dem Krieg« und »Nach dem Krieg« ist im Kosovo heute noch eine übliche Zeitrechnung. In jedem Dorf stehen Denkmäler gefallener Soldaten und das Unrecht der Kriegsjahre wird laufend thematisiert. Die Konflikte mit dem serbischen Nachbarland überschatten regelmäßig alle anderen tagespolitischen Themen und kosovo-albanische Kinder, die nach dem Krieg in der Diaspora geboren wurden, wachsen mit Hass auf den Erbfeind auf.
Die Instrumentalisierung des Gedenkens der Kriegsopfer erreichte vor einigen Jahren ihren Höhepunkt, als die Kampagne »Freiheit hat einen Namen« mit Bildern von Massakern an der albanischen Zivilbevölkerung und UÇK-Soldaten versuchte, jene mafiöse Politiker zu rehabilitieren, die im Krieg gedient und darauf ihre politischen Karrieren aufgebaut hatten.
Nach allem, was ich über meine Eltern weiß, waren sie sehr beliebt. Sie, selbstbestimmt und witzig. Er, ein hitzköpfiger Träumer. Beide hatten viele Freunde, die heute noch gern davon erzählen, wie sich ihre Wege mit dem des Paars kreuzten.
Einige Artikel meines Vaters wurden nach seinem Tod von einem guten Freund in einem Buch zusammen mit Prosa und Poesie zusammengetragen. Als ich seine Beiträge das erste Mal als Teenager las, überraschte mich, wie »fortschrittlich« sie waren: Neben kämpferischen Aufforderungen zu mehr Brüderlichkeit mit den Landsleuten und zum nationalen Befreiungskampf problematisierte er Kolonialrassismus sowie die mangelnden Rechte von Frauen in der albanischen Gesellschaft.
Meine Eltern waren ihr ganzes Leben lang politisch aktiv – für Aufklärung, Bildung und die Menschen in ihrer Heimat. Sie waren nach meiner Wahrnehmung aufopfernde Persönlichkeiten und mutmaßlich eine Bereicherung für ihr Umfeld und für die Schülerinnen und Schüler, die sie unterrichten. Doch ohne ihren gewaltsamen Tod wäre heute keine Schule nach ihnen benannt worden.
Die Hinterbliebenen von Soldaten und Kriegsopfern werden seit jeher damit getröstet, dass sich ihre Angehörigen heldenhaft aufgeopfert haben. Das hilft sicherlich, mit dem unermesslichen Verlust umzugehen, den der Tod eines Geliebten bedeutet. Aber diese Logik muss gerade in Friedenszeiten abgelehnt werden, denn der Tod kann kein Preis für Fortschritt sein und darf auch niemals als solcher gehandelt werden. Meine Eltern starben nicht für ihre Heimat oder für die Freiheit. Sie lebten dafür, dann starben sie.
»Wenn wir erreichen, dass niemand für ein politisches Ziel sterben will, sind wir vielleicht auch näher an einer Welt, in der niemand dafür tötet.«
Nach ihrem Tod fehlten sie, um das Land aufzubauen, für das sie ihr Leben zu lassen bereit gewesen waren. Sie waren nicht da, um gegen Chauvinismus und Korruption zu kämpfen. Der Kosovo ist seit 2008 offiziell unabhängig, doch die politischen Handlungsspielräume sind ernüchternd schmal und die wirtschaftliche Entwicklung ist gelähmt. Nationale Selbstbestimmung ist sicherlich ein Fundament, auf dem man eine Gesellschaft aufbauen kann. Doch wenn sie erst einmal errungen wurde, dann fängt die eigentliche Arbeit erst an.
Die Opfer des Kriegs setzen sich nicht mehr für Pressefreiheit und Gleichberechtigung ein, sie verhandeln keine politischen Reformen und kritisieren die soziale Ungleichheit nicht. Sie bringen keinen Schülerinnen und Schülern ihre Sprache und Kultur näher, sie pflegen keine Alten und bringen keinen Kindern ihre Lieder bei. Sie diskutieren keine großen Ideen und weisen karrieristische Politikerinnen und Politiker nicht zurecht.
Ich frage mich oft, was meine Eltern heute denken würden, über die erste sozialdemokratische Regierung Kosovos unter der Selbstbestimmungsbewegung (LVV), über auswandernde Jugendliche oder über den Krieg. Wie hätten sie Mitgefühl und Solidarität geschaffen, wenn der gemeinsame Feind vertrieben und die Nationalität für kaum jemanden mehr identitätsstiftend ist? Was würde sie heute beschäftigen?
Vielleicht ist es inspirierend, zu wissen, dass es Menschen gab, die so sehr an etwas Größeres als sich selbst glaubten, dass sie bereit waren, ihr Leben dafür aufs Spiel zu setzen. Ich empfinde Stolz auf ihr humanistisches Engagement zu Lebzeiten. Aber ich akzeptiere nicht, dass ihr Tod die Welt besser gemacht hat. Wenn wir erreichen, dass niemand für ein politisches Ziel sterben will, sind wir vielleicht auch näher an einer Welt, in der niemand dafür tötet.
Vor etwa zehn Jahren spielte mir ein älterer Verwandter ein patriotisches Lied vor, eins von vielen, die nach dem Krieg zu Ehren der gefallenen Soldaten geschrieben wurden. Er pausierte hier und da und wiederholte Zeilen, um sich zu vergewissern, dass ich die Worte verstand und wertschätzte. Eine Zeile brannte sich in mein Gedächtnis. Sinngemäß beklagt der Sänger, wie kostbar das Blut der Märtyrer sei, zu schade, um damit die Blumen zu bewässern. Es ist eine herzzerreißende Stelle im Lied, doch zehn Jahre später lehne ich ihre Prämisse ab.
Nein, Blumen wachsen nicht durch das Blut von Märtyrerinnen. Nur Arbeit füreinander und Liebe zueinander können etwas verändern. Diejenigen, die leben und jeden Tag in ihrer Heimat aufwachen, um zu arbeiten und zu kämpfen, leisten ihren Teil. Indem sie füreinander sorgen und Perspektiven schaffen, bringen sie die Gesellschaft voran.
Ady Zymberi ist Operations Manager beim Brumaire Verlag.