26. Juli 2024
Im Gazakrieg wurden bisher über 14.500 Kinder getötet, darunter auch die sechsjährige Hind Rajab. Neue Untersuchungen von Forensic Architecture legen nahe, dass die israelische Armee für ihren Tod verantwortlich ist.
Schild in Gedenken an Hind Rajab, das bei einer Mahnwache für die zivilen Opfer des Gaza-Krieges in New York abgelegt wurde, 29. Februar 2024.
Seit dem 7. Oktober 2023 wurden über 39.000 Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza getötet. Der Lyriker Refaat Alareer und das sechsjährige Mädchen Hind Rajab zählen zu den wenigen, deren Namen eine gewisse Bekanntheit erlangt haben. In deutschen Medien erscheinen selten personalisierte Berichte über die zivilen palästinensischen Opfer. Nur vereinzelt, aber weder zu Beginn des Krieges noch in den tagtäglichen Berichten über Einsätze der israelischen Armee (IDF) tauchen individuelle Schicksale aus Gaza auf. Es waren insbesondere die internationale Palästina-solidarische Studierendenbewegung und zivilgesellschaftliche Proteste, die die Namen von Refaat Alareer und Hind Rajab in westlichen Staaten bekannt machten.
Alareer wurde eindeutig durch einen israelischen Luftschlag getötet. Sein Text »Wenn ich sterben muss«, den er wenige Wochen vor seinem Tod veröffentlichte, zählt bereits jetzt zu den berühmtesten Gedichten des 21. Jahrhunderts. Hind Rajabs Todesumstände blieben hingegen lange ungeklärt. Stellvertretend für die mittlerweile bereits über 14.500 getöteten Kinder in Gaza berührt der Fall Menschen auf der ganzen Welt. Street Artists trugen ihr Konterfeit in öffentliche Räume; Studierende der Columbia benannten ein von ihnen besetztes Gebäude in »Hind’s Hall« um, was wiederum den US-Rapper Macklemore zu einem Antikriegslied inspirierte.
Forensic Architecture veröffentlichte Ende Juni detaillierte Ergebnisse ihrer eigenen Untersuchung unter dem Titel »Die Tötung von Hind Rajab«. Das internationale Kollektiv rekonstruiert durch datenbasierte, multimediale Bild- und Raumanalysen Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen weltweit, vom rechtsterroristischen Attentat in Hanau, über deutsche Kolonialverbrechen in Namibia des frühen 20. Jahrhunderts, bis zu Polizeigewalt in Frankreich oder der Hafenexplosion Beiruts 2020. Sie fokussieren sich dabei besonders auf Ermittlungen gegen den Missbrauch staatlicher Gewalt.
Ihre aktuelle Analyse liefert überzeugende Hinweise dafür, dass die israelische Armee für den Tod von Hind Rajab und ihrer Familie verantwortlich ist. Die Untersuchung unterstreicht, dass es dringend umfassende internationale, unabhängige Untersuchungen der Gewalt- und Kriegshandlungen Israels und der Hamas benötigt.
Am 29. Januar versuchte Hinds Onkel Bashar Hamada mit seiner Frau, seinen vier Kindern und Hind in einem Kia Picanto aus Gaza City in vermeintlich sichere Gebiete zu fliehen. Bereits kurz nach Beginn der Flucht wurden fünf der Autoinsassen durch massiven Beschuss getötet. Neben Hind überlebte nur ihre fünfzehnjährige Cousine Layan Hamada, die hilfesuchend den Palästinensischen Roten Halbmond (PRCS) anrief. Panisch beschrieb Layan einen sich nähernden Panzer; schnell gefeuerte Salven, ein gellender Schrei und eine plötzliche Stille waren das letzte, was die PCRS-Mitarbeiter hörten, bevor auch Layan getötet wurde.
Die sechsjährige Hind blieb allein und verwundet, umgeben von ihren getöteten Verwandten zurück im Auto. Mehr als drei Stunden war sie in Kontakt mit Mitarbeitern des Roten Halbmonds. In einer vom PRCS veröffentlichten Aufzeichnung des Gesprächs fleht Hind eine Mitarbeiterin an: »Ich habe solche Angst, bitte komm. Komm und hol(t) mich. Bitte, kommst du?«
Erst einige Stunden später genehmigte die israelische Ziviladministration der besetzten Gebiete COGAT dem PRCS einen Krankenwagen mit zwei Rettungssanitätern, Yusuf Zeino und Ahmed Al-Madhoun, zu schicken. Der Kontakt zu ihnen brach jedoch kurz vor dem Erreichen von Hind ab. Angesichts des Sicherheitsrisikos wurden keine weiteren Krankenwagen mehr geschickt.
»Unter zunehmendem internationalen Druck drängten die USA Israel dazu, den Vorfall intern zu prüfen. Zwölf Tage verstrichen, in denen Hinds Familie nichts blieb, als zu hoffen, dass die Sechsjährige vielleicht von der IDF aufgegriffen wurde.«
Hinds Mutter Wissam Hamada, die mit ihren älteren Kindern zu Fuß geflohen war, flehte die Weltöffentlichkeit an, eine Bergung zu ermöglichen. Unter zunehmendem internationalen Druck drängten die USA Israel dazu, den Vorfall intern zu prüfen. Zwölf Tage verstrichen, in denen Hinds Familie nichts blieb, als zu hoffen, dass die Sechsjährige vielleicht von der IDF aufgegriffen wurde.
Nachdem israelische Panzer das Gebiet endlich geräumt hatten, wurden der von Einschusslöchern zerfressene Kia und, nur rund 50 Meter entfernt, der zerstörte Krankenwagen gefunden. Alle Insassen waren tot. Hinds Familie und die internationale Öffentlichkeit forderten weiterhin lautstark Rechenschaft. Die israelische Armee erklärte nach einer ersten internen Untersuchung ihre Truppen hätten sich nicht in der Nähe des Kias befunden und eine Anfrageerlaubnis für einen Krankenwagen sei in diesem Gebiet nicht erforderlich gewesen.
Die Washington Post konnte diese Behauptungen in Zusammenarbeit mit Experten für OSINT (Open Source Intelligence) widerlegen. Satellitenbilder beweisen zweifelsfrei die Anwesenheit israelischer Militärfahrzeuge zum Tatzeitpunkt in der Nähe des Kias und Nachforschungen ergaben, dass COGAT dem PCRS eine Rettungsgenehmigung per Krankenwagen erteilt hatte. Die zerstörten Fahrzeuge befanden sich außerdem auf einer von Israel als sicher deklarierten Route. Die in den Notrufen zu hörenden Gewehrsalven verweisen ebenso auf israelische Waffen wie die Spuren der Zerstörung des PRCS-Krankenwagens, die laut sechs Munitionsexperten denen gängiger israelischer Panzermunition ähnelten.
Doch der Bericht blieb folgenlos, Israels Verbündete zogen keine Konsequenzen daraus. Der Sprecher des US-Außenministeriums Matthew Miller bekräftigte immer wieder, dass die USA weiterhin auf eine interne israelische Untersuchung setzten. Während der Nachrichtenzyklus sich weiterdrehte, drohte die Aufklärung von Hinds Todesumständen in Vergessenheit zu geraten, bis sich Forensic Architecture dem Fall annahm.
Für die Recherche kooperierten sie mit Earshot, einer gemeinnützigen Organisation, die akustische Untersuchungen für den Menschenrechts- und Umweltschutz durchführt und den Journalisten von Al Jazeeras Investigativ-Einheit Fault Lines, die die Untersuchung in Auftrag gaben. Das Rechercheteam erweiterte die Untersuchung der Todesumstände von Hind Rajab, ihrer Verwandten und der Sanitäter Yusuf Zeino und Ahmed Al-Madhoun um verschiedene Aspekte. Die Untersuchung verschiedener Elemente des Tathergangs sollte dabei zur Identifizierung der Verantwortlichen beitragen: Wo waren israelische Militärfahrzeuge zur Tatzeit? Aus welchen Richtungen, Entfernungen und mit welcher Munition wurde Layan getötet und der Krankenwagen beschossen? Hätten die Schützen die Zivilisten im Kia erkennen können?
»Der Schütze im Panzer hätte die Autoinsassen angesichts der unmittelbaren Nähe als Zivilisten und Kinder erkennen können.«
Satellitenbilder ermöglichen die Lokalisierung des Kias und des benutzten Fluchtwegs der Familie. Eine Video-Rekonstruktion legt nahe, dass der Wagen von einem gepanzerten militärischen Caterpillar-Bulldozer der IDF überrollt und zur Seite geschoben wurde.
Ein weiteres 3D-Modell zeigt alle 335 auf Fotografien zu sehenden Einschusslöcher im Kia. Nahe beieinander liegende Löcher deuten auf abgefeuerte Salven hin, während die Größe und Form der Löcher eine Unterscheidung zwischen Einschuss- und Austrittlöchern und damit eine Identifizierung der wahrscheinlichsten Schussrichtung ermöglichen.
Aus Earshots Analyse von Layans Gespräch mit dem PCRS wird ersichtlich, dass die Geschwindigkeit der zu hörenden Schüsse die Kapazität der von der Hamas benutzten AK-47-Sturmgewehre übersteigt. Sie passt aber zu drei von der IDF benutzten Waffen, wie etwa dem M4-Sturmgewehr. Mit Hilfe von Audio- und Videoanalysen konnte außerdem errechnet werden, dass es sich bei dem Schützen vermutlich um einen israelischen Merkava-Panzer handelte. Er war maximal 23 Meter von Layans Telefon entfernt.
Sowohl Layan und Hind beschrieben mehrfach sich nähernde Panzer. Die Analyse von Forensic Architecture bestätigt diese Aussagen in ihrer Schlussfolgerung. Der Schütze im Panzer hätte die Autoinsassen angesichts der unmittelbaren Nähe als Zivilisten und Kinder erkennen können. Demnach wäre die IDF die wahrscheinlichste Verantwortliche für die Tötung der sieben Familienmitglieder.
Ebenso rekonstruiert Forensic Architecture die Position des PCRS-Krankenwagens zum Zeitpunkt des Treffers. Die Flugrichtung des tödlichen Projektils stimmt mit dem Standort israelischer Panzer auf der Basis von Satellitenbildern überein. Daher schlussfolgert das unabhängige Recherche-Kollektiv, dass der Krankenwagen vermutlich von einem israelischen Panzer angegriffen wurde. Auch dafür würde die IDF die Verantwortung tragen, hatte der PCRS doch seinen Einsatz mit COGAT koordiniert.
Wenngleich die Analyse nur wenig Zweifel an Israels Verantwortlichkeit lässt, kann sie offizielle, überstaatlich legitimierte und unabhängige Untersuchungen nicht ersetzen. OSINT-Untersuchungen gewinnen zunehmend an Relevanz; da OSINT aber kein geschützter Begriff ist, sollte nur anerkannten und genau recherchierenden Gruppen wie eben Forensic Architecture, Earshot oder Bellingcat sowie den Investigativ-Teams etablierter Medien wie Washington Post oder Spiegel Glauben geschenkt werden.
»Es braucht massiven internationalen Druck auf Israel und die Hamas, um eine internationale, unabhängige Untersuchungskommission für die von beiden Seiten begangenen Kriegsverbrechen vorzubereiten.«
Forensic Architecture ist dabei besonders relevant für Gruppen, deren Anliegen von staatlichen oder supra-staatlichen Akteuren aufgrund politischer Motivationen nicht, kaum, ungenügend, schleppend oder nicht unabhängig untersucht werden. Durch die Verbreitung ihrer Untersuchungsergebnisse werden diese einer weltweiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht, was den Druck auf die internationale juristische Aufarbeitung von (Kriegs-)Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen erhöht. Damit symbolisieren sie das Versprechen, Unrecht zu sühnen und Rechenschaft einzufordern – auch gegenüber einflussreichen staatlichen (oder staatlich unterstützten) Akteuren, die sich über international geltendes Recht hinwegsetzen.
Es braucht massiven internationalen Druck auf Israel und die Hamas, um einen langfristigen Waffenstillstand zu ermöglichen und eine internationale, unabhängige Untersuchungskommission für die von beiden Seiten begangenen Kriegsverbrechen vorzubereiten. Israel selbst weist Kritik an seiner Kriegsführung und Menschenrechtsbilanz immer wieder als unfair oder antisemitisch motiviert zurück. Damit stellt die israelische Regierung die Arbeit zahlreicher anerkannter, internationaler Organisationen infrage und versucht, sie daran zu hindern, sich einzumischen oder Rechenschaft einzufordern, wie zuletzt beim Roten Kreuz.
Zusätzlich werden interne Ermittlungen als Argument gegen unabhängige internationale Untersuchungen angeführt. Israels eigene Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und der Tötung von Zivilisten fällt jedoch wenig zufriedenstellend aus, wie nicht zuletzt der Fall Hind Rajab zeigt.
Die Untersuchung von Forensic Architecture legt so den Finger in die Wunde. Israels westliche Verbündete sollten sie zum Anlass nehmen, dringend eine unabhängige internationale Untersuchung aller Kriegsverbrechen beider Kriegsparteien seit dem 7. Oktober 2023 einzufordern. So würden sie deutlich machen, dass sie unabhängig von außenpolitischen Bündnissen für die Durchsetzung internationalen Rechts einstehen.
Deutsche Medien sollten die Untersuchung der Tötung Hind Rajabs durch Forensic Architecture nicht länger ignorieren, sondern anerkennen, dass ihre Redaktionen die öffentlichen Stellungnahmen beider Kriegsparteien im Gazakrieg kritischer hinterfragen müssen. Denn Hind Rajabs Tod ist kein isolierter Fall, er steht beispielhaft für die Gewalt, die tausende palästinensische Zivilisten im Gazastreifen seit dem 7. Oktober bis heute erfahren.
Jan Altaner promoviert an der University of Cambridge zur Geschichte Libanons und des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert. Zuvor studierte er Nahost-, Geschichts- und Islamwissenschaft in Beirut, Kairo und Freiburg. Außerdem schreibt er für Medien wie Zeit Online, Taz, dis:orient, Übermedien und Qantara.