08. Januar 2021
Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz prekarisiert die Forschenden und verschlechtert den akademischen Betrieb. Kritische Wissenschaft braucht Dauerstellen.
Kettenbefristungen, Bewährungsdruck, Personalverschleiß – die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft sind wenig attraktiv.
Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) ist gegenwärtig eines der verhasstesten Gesetze. Schließlich sorgt das im WissZeitVG geregelte Sonderbefristungsrecht dafür, dass für Forschende – anders als für alle anderen befristet angestellten Beschäftigten – nicht das Teilzeit- und Befristungsgesetz gilt. Stattdessen greift ein Befristungsrecht, das für die Betroffenen erheblich schlechtere Arbeitsbedingungen erzeugt. Es führt im Regelfall zu Kettenbefristungen und zu einem faktischen »Berufsverbot«, wenn man es nicht innerhalb der Höchstbefristungsdauer von zwölf Jahren auf eine der raren Professuren oder noch selteneren unbefristeten Stellen im Mittelbau schafft.
So weit, so schlecht. Dennoch lobpreiste das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) das Gesetz im vergangenen Dezember mit folgenden Worten: »The German Academic Fixed-Term Contract Act (WissZeitVG) gives higher education & research institutions a certain degree of flexibility with regard to fixed-term contracts.« Der zynische Euphemismus des Ministeriums brachte schnell den weitverbreiteten höhnischen Hashtag #acertaindegreeofflexibility hervor. An wen sich der Tweet auf Englisch richten soll, bleibt unklar. Als Anwerbemaßnahme für Forschende aus aller Welt taugt das Gesetz sicherlich nicht – führt es doch schon jetzt zu einem Brain Drain sagenhaften Ausmaßes aus dem deutschen Wissenschaftssystem, weil die Arbeitsbedingungen in Deutschland gerade aufgrund des WissZeitVG denkbar unattraktiv sind.
Dass die Stimmung unter den befristet angestellten Forschenden längst über den Kipppunkt hinaus ist, hätte dem BMBF spätestens seit dem Reformationstag klar sein müssen. Am 31. Oktober 2020 hatten Betroffene auf Social Media deutlich und zahlreich die Missstände angeprangert. Unter dem Hashtag #95vsWissZeitVG (kurz für »95 Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz«) kamen unter loser Anspielung auf Luthers Thesen tagelang mehrere Tausend Tweets zu den negativen Folgen des Gesetzes zusammen – für Wissenschaft und Gesellschaft, aber auch für betroffene Forschende und Studierende. Wir haben daraus 95 Thesen destilliert. Sie vermitteln einen überwältigenden Eindruck davon, wie viele Argumente sich tatsächlich gegen das für die Wissenschaft geltende Sonderbefristungsrecht und seine verheerenden Konsequenzen vorbringen lassen.
Das WissZeitVG räumt dem staatlichen Arbeitgeber die Möglichkeit ein, wissenschaftliches Personal weit länger befristet zu beschäftigen, als dies nach dem sonst einschlägigen Teilzeit- und Befristungsgesetz möglich wäre. Dadurch ist der befristete Arbeitsvertrag – von der im Regelfall verbeamteten Professur einmal abgesehen – längst Normalität geworden. Der Staat nimmt sich hier also größere Freiheiten zu Lasten seiner Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heraus als er der Privatwirtschaft zumutet.
Das in Deutschland sonst geltende Arbeitsrecht wird durch das WissZeitVG in mehrfacher Hinsicht ausgehebelt: Da die maximale Befristungszeit auf beliebig viele Verträge mit unterschiedlichen Laufzeiten von zum Teil nur wenigen Monaten gestückelt werden kann, führt das WissZeitVG in der Praxis zu extremer beruflicher und finanzieller Unsicherheit. Da Hochschulen nach Belieben und ohne Sanktionen auf einen Anschlussvertrag verzichten können, laufen die anderswo wirksamen Regelungen zum Kündigungsschutz selbst bei Kranken, Schwerbehinderten oder Schwangeren ins Leere, da ihre Verträge einfach auslaufen, aber kein Anspruch auf Verlängerung besteht. Eine wissenschaftliche Karriere birgt so das ständige Risiko, nach Ablauf der jeweiligen Vertragslaufzeit vor dem Nichts zu stehen.
Auch ist es keinesfalls so, dass Menschen nach Ablauf der zwölf Jahre verlässlich ein unbefristetes Anstellungsverhältnis erwartet – im Gegenteil. Um die wenigen Lebenszeitprofessuren herrscht eine starke Konkurrenz, sodass im Durchschnitt drei von vier Personen, die die höchste Qualifikationsstufe erreicht haben, die Wissenschaft am Ende dennoch verlassen müssen. Dies geschieht keinesfalls, weil sie weniger hochwertige Arbeit leisten würden als die, die eine Professur bekommen, oder weil sie in der Wissenschaft in dieser Zahl nicht mehr gebraucht würden. Es liegt schlicht an dem durch die Gesetzeslage begünstigten Mangel an unbefristeten Stellen für wissenschaftliches Personal. Das hochqualifizierte Personal, das mit Mitte 40 – nach jahrzehntelanger Ausbildung – zu einem in diesem Alter wenig aussichtsreichen Berufswechsel gezwungen ist, wird durch die jüngeren, wissenschaftlichen Absolventinnen und Absolventen ersetzt, die sich noch nach WissZeitVG befristen lassen. Auf diese Weise entsteht eine Personalrotation, die in der Öffentlichkeit gerne mit dem Bedarf an frischen Ideen verteidigt wird, de facto aber nur dazu dient, unbefristete Arbeitsverträge so weit wie möglich zu vermeiden.
Tatsächlich ist die Befristungsquote in der Wissenschaft deutlich höher als in anderen Branchen: Während 2019 knapp 12 Prozent der in Deutschland abhängig Beschäftigten in befristeten Arbeitsverhältnissen waren, geht die Wissenschaft einen Sonderweg mit derzeit 78 Prozent befristetem Personal. Die Verwaltungen arbeiten in der Praxis entsprechend mit Bedacht darauf hin, Entfristungen zu vermeiden. Es wird genau ausgerechnet, wie viele Jahre eine Person noch befristet beschäftigt werden kann. Im Zweifelsfall macht man die Verträge kürzer als nötig, um zu vermeiden, dass Menschen sich auf eine unbefristete Stelle einklagen könnten, auf die sie ein Anrecht hätten, wenn die maximale Befristungsdauer laut WissZeitVG auch nur um einen Tag überschritten würde. Das wissenschaftliche Personal ist in diesem Durchlauferhitzersystem vor allem Verschleißmaterial.
Aufgrund des ständigen Personalaustausches wird (durch die daraus resultierenden zahllosen Bewerbungsverfahren und Vertragsausstellungen) nicht nur ein enorm hoher bürokratischer Aufwand erzeugt. Auch die wissenschaftliche Arbeit leidet: Anstatt sich der eigenen Forschung zu widmen, werden Bewerbungen geschrieben. Kreativität wird durch Existenzsorgen beeinträchtigt. Auch erzeugt das fortlaufende Bemühen um eine Vertragsverlängerung einen Bewährungsdruck, der eine Anpassung an den Mainstream bewirkt. Statt riskante innovative Forschungsansätze zu verfolgen, ist es für die eigene Karriere dienlicher, Kontakte zu knüpfen und sich den Erwartungen der Vorgesetzten anzupassen.
Das derzeitige System belastet nicht zuletzt die Sozialkassen, weil Forschende zur Überbrückung zwischen zwei Verträgen immer wieder auf Arbeitslosengeld I oder II angewiesen sind. Derartige Unterbrechungen in Kombination mit Teilzeitarbeit, die vor der Promotion die Regel ist, führen zu geringeren Einzahlungen in die Rentenkasse und erhöhen folglich das Risiko für Altersarmut. Die Betreuung der eigenen Kinder oder andere Care-Aufgaben sind mit einer wissenschaftlichen Karriere häufig unvereinbar: Nicht nur wird voller Einsatz und unbezahlte Mehrarbeit vorausgesetzt. Wissenschaftliche Beschäftigte unterliegen zudem nicht der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung und nach Wunsch der Politik soll das auch so bleiben – man darf annehmen, damit nicht auffällt, dass sie dauerhaft mindestens 10 Stunden pro Woche (also eine Woche pro Monat) mehr arbeiten als vertraglich vorgesehen.
Forschende haben dadurch lange keinen festen Lebensmittelpunkt oder pendeln mehrere hundert Kilometer zwischen Wohn- und Arbeitsort. Durch das Pendeln und die hohen Mieten in Universitätsstädten ist das eigentlich solide Gehalt im öffentlichen Dienst – besonders auf Teilzeitstellen – rasch aufgebraucht. Vor allem in den MINT-Bereichen ist der Wissenschaftsbetrieb dadurch bereits so unattraktiv geworden, dass er gegenüber dem privaten Sektor nicht mehr konkurrenzfähig ist. Folglich werden sich benachteiligte und in der Wissenschaft ohnehin zu wenig vertretene Gruppen auch weiterhin kaum auf eine wissenschaftliche Karriere einlassen, da sie sich diese ohne eigene finanzielle Rücklagen oder familiäre Unterstützung schlicht nicht leisten können.
Dass die wissenschaftliche Karriere ein wilder »Hazard« ist, hat Max Weber schon 1917/1919 in »Wissenschaft als Beruf« so formuliert. Das gilt auch heute noch, wobei das WissZeitVG diesen Umstand zusätzlich verschärft. Die damit einhergehende Steuer- und Ressourcenverschwendung ist skandalös. Doch die zu Recht grassierende Kritik am WissZeitVG reicht über die Mängel des gesetzlichen Status Quo hinaus – zeigt sie doch auf, dass sich eine diverse, kreative und offene Wissenschaft im aktuellen deutschen Wissenschaftssystem schlicht nicht betreiben lässt. Wenn sich doch Ansätze für eine derartige Wissenschaft zeigen, dann trotz und nicht wegen der gesetzlichen Rahmenbedingungen, mit denen die »Bildungsrepublik« Deutschland ihre wissenschaftlichen Angestellten abspeist.
Amrei Bahr ist promovierte Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und forscht zur Kopierethik und der Ethik der Abfallentsorgung.
Kristin Eichhorn ist habilitierte und promovierte Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Paderborn.
Sebastian Kubon ist promovierter Mediävist und beschäftigt sich vorwiegend mit Public History. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg und gerade in Elternzeit.
Amrei Bahr ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und forscht zur Kopierethik und zur Ethik der Abfallentsorgung.
Kristin Eichhorn ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Paderborn.
Sebastian Kubon ist promovierter Mediävist und beschäftigt sich vorwiegend mit Public History. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg und gerade in Elternzeit.