21. Juni 2023
Bei der Wahl im Mai verlor Syriza ein Drittel ihrer Wählerschaft. Ohne eine Alternative zur Sparpolitik wenden sich die Menschen in Griechenland nach rechts. Die Neuwahl am 25. Juni soll den Konservativen die absolute Mehrheit im Parlament sichern.
Nach der Wahlschlappe für Syriza ist auch der Posten des langjährigen Vorsitzenden Alexis Tsipras nicht mehr sicher.
IMAGO / ANE EditionSchon im Vorfeld der Parlamentswahlen in Griechenland hatten Meinungsumfragen der konservativen Nea Dimokratia einen deutlichen Vorsprung vor ihrer Hauptkonkurrenz Syriza bescheinigt. Dennoch war der Erfolg der Nea Dimokratia am 21. Mai für viele ein politischer Schock. Mit Ausnahme der Wahlen im November 1974, die nur vier Monate nach dem Sturz der Diktatur stattfanden, war der Abstand zwischen der Siegerin und der größten Oppositionspartei noch nie so groß gewesen.
Die Nea Dimokratia sicherte sich einen Vorsprung von 20 Prozent gegenüber Syriza; die Partei von Alexis Tsipras verlor mehr als ein Drittel ihrer Wählerschaft aus dem letzten Wahljahr 2019. Es gibt noch einen weiteren auffälligen Unterschied: Seit 1974 hatte die Gesamtzahl der konservativen und rechten bis rechtsextremen Wählerstimmen 50 Prozent nicht überschritten. Auch wenn sie sich auf mehrere Listen verteilte, lag die extreme Rechte nun aber bei insgesamt über 10 Prozent – ein historischer Rekord.
Der deutliche Vorsprung war für die Nea Dimokratia allerdings nicht ausreichend, um die alleinige Mehrheit im Parlament zu sichern. Daher wurde bereits kurz nach der Wahl im Mai angekündigt, Neuwahlen am 25. Juni abzuhalten. Diese zweite Abstimmung wird nach einem geänderten Wahlsystem stattfinden, da die scheidende Regierung das sogenannte »verstärkte« Verhältniswahlrecht wieder eingeführt hat. Dieses System soll die Bildung von Parlamentsmehrheiten erleichtern, indem es der stärksten Partei einen Bonus von mehreren Dutzend Sitzen einräumt. Daher gilt es als so gut wie sicher, dass die Nea Dimokratia Ende Juni die absolute Mehrheit im griechischen Parlament stellen wird.
Die Wahl vom 21. Mai offenbart einen Rechtsruck, der allerdings diverse Formen annimmt. Mit dem Durchbrechen der symbolträchtigen 40-Prozent-Marke hat die Nea Dimokratia ihre Stärke im »Zweiparteiensystem« von vor 2010 zurückerobert, in dem sie sich stets einen Großteil der Stimmen mit der sozialdemokratischen Pasok geteilt hatte. Gleichzeitig hat die radikale Rechte einen nie dagewesenen Aufschwung erlebt, der sich nur aufgrund ihrer Zersplitterung nicht allzu sehr im Parlament manifestiert. Nach dem Abgang der Goldenen Morgenröte von der politischen Bühne hat die extreme Rechte eine tiefgreifende ideologische und politische Umstrukturierung erfahren. Ihre dominierenden Strömungen beziehen sich nicht mehr auf die (neo-)faschistischen oder neonazistischen Traditionen. Die Partei Griechische Lösung und ihr neuer Rivale Niki (»Sieg«) stehen eher der modernen Alt-Right-Bewegung nahe.
In einer Art griechischem Trumpismus kombinieren sie religiöse Bezugspunkte, xenophoben Nationalismus und eine Neigung zu Verschwörungstheorien. Der Erfolg der Griechischen Lösung ist vor allem ihrem charismatischen Anführer Kyriakos Velopoulos zu verdanken, dem viel Medienaufmerksamkeit zuteil wird. Er ist in Griechenland unter anderem für seine »Wundersalbe« gegen COVID-19 bekannt sowie für die Behauptung, er sei im Besitz handgeschriebener Briefe von Jesus Christus. Niki, eine Gruppierung die vor der Wahlnacht weitgehend unbeachtet blieb, stützt sich derweil auf gut strukturierte Netzwerke, die vor allem mit fundamentalistischen Teilen der orthodoxen Kirche verbandelt sind.
»Der Anführer der Griechischen Lösung, Kyriakos Velopoulos, ist für seine ›Wundersalbe‹ gegen COVID-19 bekannt sowie für die Behauptung, er sei im Besitz handgeschriebener Briefe von Jesus Christus.«
Beide Parteien gerieren sich als Verteidigerinnen religiös-traditionalistischer Werte, Kämpferinnen im »Kulturkrieg« sowie als Vertreterinnen nationalistischer und xenophober Diskurse, die sich gegen die Anerkennung der Republik Nordmazedonien (nach dem Prespa-Abkommen) wenden und eine aggressive Rhetorik gegenüber der Türkei sowie der in Griechenland lebenden türkischen Minderheit pflegen. Sie attackieren die politischen Eliten des Landes und die EU und machen diese für die Katastrophe verantwortlich, die durch die von mehreren griechischen Regierungen umgesetzten Memoranden verursacht wurde. Andererseits will die extreme Rechte jedoch keinen vollständigen Bruch mit der EU (oder einen Austritt aus dem Euro). Stattdessen verliert sie sich in Nostalgie, trauert der vergangenen Größe des Landes nach und propagiert ein »Greece First«.
Ebenso ist die Kritik an der »illegalen Einwanderung« ein fester Bestandteil des Diskurses der neuen radikalen Rechten, doch anders als bei der Goldenen Morgenröte steht dieses Thema nicht im Mittelpunkt und wird auch nicht von Aktionen auf der Straße begleitet – diese neue Rechte ist eine reine Wahlkampf-Maschinerie. Tatsächlich unterscheidet sich ihr Diskurs beim Thema Migration kaum von der aggressiven migrationsfeindlichen Rhetorik der Nea-Dimokratia-Regierung von Kyriakos Mitsotakis (und der damit verbundenen Politik, inklusive der systematischen Anwendung illegaler Pushbacks).
Da sich Rassismus und Xenophobie ohnehin ausbreiten, macht sich die neue radikale Rechte vor allem die Gefühle von Demütigung und Erniedrigung in einer verrohten und verarmten griechischen Gesellschaft zunutze. Ihre Hochburgen liegen in der griechischen Region Mazedonien. Die Region ist angesichts der Anerkennung des gleichnamigen Nachbarstaates stark polarisiert. In den dortigen Wahlkreisen erreichten die beiden rechtsextremen Parteien zusammen über 10 Prozent. In acht Bezirken, darunter im Großraum Thessaloniki, lag ihr Ergebnis sogar zwischen 12 und 15 Prozent. Es sind einige der wenigen Wahlkreise, in denen die Nea Dimokratia an Boden verlor (um 2–3 Prozent, im Bezirk Pieria um knapp 6 Prozent).
Der Sieg der Konservativen ist das Ergebnis einer Kombination mehrerer Faktoren. Dabei dürften drei eine Schlüsselrolle spielen: die regelrechte Kapitulation von Syriza, die wirtschaftliche Lage des Landes sowie deren Auswirkungen auf die Erwartungen der Wählerschaft.
Nach vier Jahren an der Macht erntet die Nea Dimokratia die Früchte der Resignation der Griechinnen und Griechen. Es scheint schlichtweg keine Alternative zu geben. Diese Resignation war nicht unvermeidlich, sondern wurde von Syriza nach ihrer Kapitulation vor der Troika im Sommer 2015 systematisch herbeigeführt. Die Wählerinnen und Wähler ziehen aktuell eine Regierung vor, die die Austeritätspolitik offen verfolgt – und nicht die Regierung, die sagte: »Tut uns leid, wir würden gerne, aber wir können nicht anders«, während sie seit Juli 2015 unerbittlich eine harte neoliberale Politik umsetzte.
Anders ausgedrückt: Da die Hoffnung, die einst mit der turbulenten Zeit von 2010 bis 2015 verbunden war, nun verschwunden ist, bleiben im kollektiven Bewusstsein nur noch die erschütternden Eindrücke einer brutalen Verschlechterung der Lebensbedingungen, von Straßen voller leerstehender Geschäfte und eines stigmatisierten und ruinierten Landes zurück. Aus einer solchen nationalen Katastrophe erwächst der Wunsch, ein neues Kapitel aufzuschlagen, die schmerzhafte Vergangenheit hinter sich zu lassen und zu versuchen, so »normal« wie möglich zu leben. Der jahrelang aufgestaute Groll richtet sich jetzt – nicht zu Unrecht – gegen diejenigen, die die Hauptverantwortung für diese Katastrophe tragen, obwohl sie versprochen hatten, Armut und Austerität zu bekämpfen und zu überwinden.
Nicht übergangen werden sollte dabei, dass die Nea Dimokratia sicherlich auch von ihren überaus engen Verbindungen in die griechische Medienlandschaft profitiert hat. Letztere wird komplett von einer Handvoll Oligarchen kontrolliert, die den Konservativen und dem Staatssystem sehr nahe stehen. Wir sprechen hier von einem System, das auch stark von staatlichen Geldern profitiert. Seine Fähigkeit, den »öffentlichen Diskurs« zu formen und unliebsame Stimmen zu delegitimieren oder zum Schweigen zu bringen, sollte nicht unterschätzt werden. Der wesentliche Grund für den Erfolg der Konservativen liegt aber woanders, nämlich in der relativen Verbesserung der Wirtschaftslage 2021–22 und der vorübergehenden Lockerung der Haushaltsdisziplin innerhalb der EU aufgrund der Pandemie.
Dank der Quantitative-Easing-Politik der Europäischen Zentralbank war die Geldschöpfung in der Eurozone explodiert; die Realzinsen waren über einen längeren Zeitraum hinweg negativ. Die öffentlichen Ausgaben stiegen, vor allem zur Unterstützung der Unternehmen. Doch auch die Erwerbstätigen und andere Gruppen profitierten davon (wenn auch weniger stark). Hinzu kommt nun die Auferstehung der griechischen Tourismusbranche, die ihr Umsatzniveau von vor der Pandemie wieder erreicht hat. Dies trug dazu bei, dass sich die griechischen Wachstumsraten von ihrem Tiefpunkt im Jahr 2020 (minus 9 Prozent) erholten und 2021 bei 8,4 Prozent sowie 2022 bei 5,9 Prozent lagen – eine der stärksten Wachstumsquoten in der Eurozone.
Zugegebenermaßen machte die darauf folgende Inflation (fast 10 Prozent im Jahr 2022, dabei mehr als 20 Prozent für die meisten Lebensmittel und Benzin sowie über 140 Prozent für Strom) die Wirkung dieser Maßnahmen zunichte. Sie führte zu rapide steigenden Zinsen, Kaufkraftverlusten und der Ankündigung einer schrittweisen Rückkehr zur Austeritätspolitik. Dennoch ist die Arbeitslosigkeit weiter gesunken, auch wenn sie nach wie vor doppelt so hoch ist wie im europäischen Durchschnitt (18 Prozent im Jahr 2019 und 12,5 Prozent im Jahr 2022 gegenüber einem EU-Durchschnitt von 6,2 Prozent), und die Regierung hat eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Haushaltseinkommen durch einmalige Sozialleistungen und »Konsumgutscheine« zu stützen und so die Wirtschaft anzukurbeln.
Für kleine und mittelständische Unternehmen, die in Griechenland viel zahlreicher sind als im europäischen Durchschnitt, hat sich die Inflation sogar positiv ausgewirkt, da es einen Anstieg der Nachfrage gab. Auch für die Landwirte (11,7 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung im Jahr 2021, verglichen mit beispielsweise 1,5 Prozent in Frankreich) haben die höheren Preise für landwirtschaftliche Produkte das Bruttoeinkommen erhöht.
»Da die Hoffnung nun verschwunden ist, bleiben im kollektiven Bewusstsein nur noch die erschütternden Eindrücke einer brutalen Verschlechterung der Lebensbedingungen, von Straßen voller leerstehender Geschäfte und eines stigmatisierten und ruinierten Landes zurück.«
Wie der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Costas Lapavitsas zusammenfasst: »In den Augen vieler scheint die Regierung Mitsotakis die wirtschaftliche Lage stabilisiert zu haben, während im internationalen Umfeld große Unruhe herrschte.« Freilich haben nicht alle gleichermaßen davon profitiert: Laut einem Bericht der griechischen Nationalbank stiegen die Unternehmensgewinne im Jahr 2002 um satte 38 Prozent und erreichten damit ein Allzeithoch. Bei den 17 profitabelsten börsennotierten Unternehmen lag der Anstieg sogar bei durchschnittlich 72 Prozent.
Die Löhne hingegen stagnierten (plus 0,3 Prozent) und bleiben die fünftniedrigsten in der EU. Mit 780 Euro im Monat liegt der Mindestlohn 11 Prozent unter dem Niveau von 2012 – dies ist ein einzigartiger Fall in Europa. Das »Armuts- und Ausgrenzungsrisiko« betrifft trotz leichten Rückgangs noch 28 Prozent der Bevölkerung (Stand 2022). Das ist der dritthöchste Wert in der EU, nur in Rumänien und Bulgarien ist die Lage noch schlechter.
All das hat eindeutig Auswirkungen auf die Erwartungen von großen Teilen der Wählerschaft gehabt. Eine Meinungsumfrage im März ergab, dass 60 Prozent der Befragten mit ihrer wirtschaftlichen Situation »eher« (27 Prozent) oder »sehr« (33 Prozent) unzufrieden waren, während nur zwölf Prozent »zufrieden« und 3,5 Prozent »sehr zufrieden« waren (24,5 Prozent »weder noch«). Unter denjenigen, die die Nea Dimokratia wählen würden, waren jedoch nur 27 Prozent unzufrieden, während 37 Prozent »eher« oder »sehr zufrieden« waren (36 Prozent »weder noch«).
Was die Zukunft angeht, erwarten rund 40 Prozent, dass sich ihre wirtschaftliche Lage verschlechtern wird, während 20 Prozent mit einer Verbesserung und 38 Prozent mit einer gleichbleibenden Situation rechnen. In der Nea Dimokratia-Anhängerschaft sind fast 40 Prozent »optimistisch« und 47 Prozent erwarten zumindest Stabilität. Im Vergleich dazu liegen diese Zahlen bei den Anhängerinnen und Anhängern von Syriza bei 10 Prozent (Verbesserung) beziehungsweise 30 Prozent (gleichbleibend); 57 Prozent erwarten, dass sich ihre finanzielle Lage verschlechtern wird.
Die Nea Dimokratia profitierte also sowohl von der verbesserten Situation der ohnehin schon Wohlhabenden als auch von einem eher diffusen Gefühl der wirtschaftlichen Stabilisierung. So konnte sie ihre Wählerbasis in der Mittelschicht und in wohlhabenden Wahlkreisen (beispielsweise 46 Prozent in Athen-Nord) und in traditionell konservativen Regionen festigen (außer in Nordgriechenland, wo sie Boden an die extreme Rechte verlor). Gleichzeitig konnte sie aber auch in klassischen Arbeiterbezirken deutliche Zugewinne verzeichnen. In den Wahlkreisen in Athen-West stieg die Zustimmung um fast 5 Prozent, und im symbolträchtigen »Arbeitergürtel« von Piräus sprang die Partei von 30,2 auf 37,4 Prozent.
Um das Wahlergebnis wirklich zu verstehen, muss man aber den Zusammenbruch von Syriza betrachten. Deren Wählerbasis hatte sich 2019 noch relativ gut gehalten. Angesichts der Rückkehr der Konservativen an die Macht gelang es der Partei, die eigene Wählerschaft mit der Aussicht auf eine »starke Oppositionsstimme« zu mobilisieren. Doch in den Händen von Tsipras und seiner Partei ereilte diesen neuen demokratischen Auftrag, eine effektive Opposition gegen die Regierung Mitsotakis aufzubauen, ein ähnliches Schicksal wie das »Nein« des griechischen Volkes beim Troika-Referendum im Juli 2015.
In den vier Jahren nach der Wahlniederlage 2019 führte Syriza eine handzahme Opposition an und klammerte sich weiterhin an die Politik, die sie selbst als Regierung verfolgt hatte. Sie stimmte für 45 Prozent der von der Mitsotakis-Regierung vorgeschlagenen Gesetze, darunter auch einige der besonders emblematischen Vorlagen – wie zum Beispiel jene, die den Verkauf des Grundstücks des ehemaligen Flughafens Ellinikon an den Oligarchen Yiannis Latsis zu einem symbolischen Preis erlaubte. Latsis will mit Unterstützung von katarischem Kapital eine »Athener Riviera« in Form von Wolkenkratzern mit Luxuswohnungen, Kasinos und Einkaufszentren bauen. Syriza unterstützte außerdem umfangreiche Rüstungsverträge im Wert von bisher fast 15 Milliarden Euro, was zu einer Verdoppelung des Militärhaushalts zwischen 2020 und 2022 führte. Griechenland liegt bei den Verteidigungsausgaben im Verhältnis zum BIP inzwischen an erster Stelle in der NATO und hat sogar die USA überholt (3,9 gegenüber 3,5 Prozent des BIP).
Schon der Wahlkampf von Syriza deutete an, dass man sich ungeachtet der eigenen Rhetorik in eine weitgehend kollaborierende Opposition entwickeln würde. So wurde vor der Wahl eine blasse Imitation der alten Pasok-Kampagnen der 1980er Jahre präsentiert. Man versprach einen »Wandel«, bei dem im Bereich Soziales allerdings »Realismus« und »Gerechtigkeit« Hand in Hand gehen sollten. Einzelne Vorschläge erwiesen sich schnell als inkonsistent, wie zum Beispiel das Versprechen, Wohnraum zu »schützen«, der aufgrund von Schwierigkeiten bei der Rückzahlung von Hypotheken von der Zwangsenteignung bedroht ist. In Griechenland ist dies ein wichtiges Thema, denn rund 300.000 Häuser sind potenziell von dem wohl größten Eigentumstransfer in der Geschichte der EU betroffen, bei der kleine Immobilienbesitztümer auf Investmentfonds übertragen werden sollen.
Bei Letzteren handelt es sich um sogenannte Vulture Funds, die ihren Sitz im Ausland haben und offiziell in Steuerparadiesen ansässig sind. Syrizas Vorschlag würde vor allem die Rentabilität solcher Aufkäufe unrentabler Hypotheken sichern, und zwar bis zu 50 Prozent des Nennwerts eines Schuldtitels, der allerdings zu durchschnittlich nur 3 Prozent seines ursprünglichen Wertes von den Fonds erworben wurde. Diese Liebe zu Investmentfonds ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass es die Syriza-Regierung war, die Versteigerungen und Enteignungen erleichterte, indem sie die Beilegung von Streitigkeiten vom Gerichtssaal (wo Richterurteile und militante Aktionen in der Regel zumindest einen Aufschub von Zwangsräumungen ermöglichten) auf eine digitale Plattform verlagerte und Mobilisierungen zum Schutz bedrohter Häuser mit harter Hand bekämpfte.
Während der angekündigte »Wandel« sich verlief, versuchte Syriza, die »Wählerschaft der Mitte« zu erreichen, die sonst für die Pasok oder gar die Nea Dimokratia stimmen würde. Tsipras trat als Fürsprecher der »Mittelschicht« auf, die er in seiner Zeit als Premier »bedauerlicher- und ungerechterweise überbesteuert« habe. Sein Wahlkampf stand auf mehreren, teils nicht zu vereinbarenden Säulen.
So schlug Tsipras einerseits eine »progressive Regierung« vor, also eine Koalition mit der Pasok, ohne dass die beiden Parteien auch nur andeutungsweise eine gemeinsame programmatische Basis hätten. Die Pasok lehnte den Vorschlag dann auch umgehend und kategorisch ab. Andererseits trat Tsipras als Verteidiger der »Rechtsstaatlichkeit« auf, indem er durchgehend den Telefonabhörskandal thematisierte, dessen Ziel und Opfer vor allem Pasok-Chef Nikos Androulakis war.
»Als ultimative Absage an den letzten Rest linker Politik erklärte Tsipras während des Wahlkampfs, dass er die Erhaltung des Sicherheitszauns entlang der griechisch-türkischen Grenze unterstützt.«
Obwohl diese Kritik durchaus begründet ist, hat sie Mitsotakis kaum geschadet. Dieser räumte lediglich ein, »einen Fehler gemacht« zu haben. Noch weniger aber hat die Kritik die Wählerschaft beeindruckt, die sich offenbar wenig Illusionen darüber macht, dass solche Methoden inzwischen gang und gäbe sind. Wenn sie überhaupt etwas bewirkt haben, dann, dass die Position der Pasok als sozialdemokratisch angehauchtes Korrektiv im Block der Mitte-Parteien wieder verbessert wurde.
Als ultimative Absage an den letzten Rest linker Politik erklärte Tsipras während des Wahlkampfs, dass er die Erhaltung des Sicherheitszauns (eine regelrechte Anti-Migrations-Mauer) am Fluss Evros entlang der griechisch-türkischen Grenze unterstützt. Dieses System ermöglicht es den griechischen Behörden, in Selbstjustiz massenhaft illegale Abschiebungen und Pushbacks von Migrantinnen und Migranten durchzuführen. Zu allem Überfluss hat Syriza, die bereits einen großen Teil der ehemaligen Pasok-Nomenklatura übernommen hat, beschlossen, Leute wie den griechisch-amerikanischen Reeder und ehemaligen Goldman-Sachs-Banker Stefanos Kasselakis sowie den ehemaligen Minister und Sprecher diverser konservativer Regierungen Evangelos Antonaros in ihren Kandidatenkreis aufzunehmen.
Mit dieser »Strategie« hat die Syriza rund ein Drittel ihrer Wählerinnen und Wähler aus dem Jahr 2019 verprellt. Diese wanderten in alle erdenklichen Richtungen ab: Laut Umfragen nach der Wahl im Mai stimmten 11 Prozent der Ex-Syriza-Anhänger für die Nea Dimokratia, 10 Prozent wechselten zur Pasok und 8 Prozent zu linken Gruppen wie die Kommunistische Partei (KKE) und MeRA25. Die stärksten Verluste gab es in den Arbeiterbezirken der Großstädte, wo sich die Ergebnisse von Syriza fast halbierten (minus 17,5 Prozentpunkte im Arbeitergürtel von Piräus, minus 16 in Athen-West, minus 18 in Attika-West). In diesen ehemals sozialdemokratischen Hochburgen kehrte ein großer Teil der Wählerschaft zu ihrer ursprünglichen »Heimatpartei« Pasok zurück, vor allem auf Kreta, wo Syriza Verluste zwischen 17 und 21 Punkten hinnehmen musste. Diese kamen auch der Nea Dimokratia zugute, die auf der Insel in allen Wahlbezirken vorne lag.
Bei den jungen Wählerinnen und Wählern (17–24 Jahre) schneidet Syriza aktuell noch besser ab als im Landesdurchschnitt, verliert aber dennoch satte 14 Punkte gegenüber 2019 (von 38 Prozent auf 24 Prozent). Davon profitieren vor allem die radikalere Linke (KKE und MeRA25 kommen in dieser Altersgruppe auf insgesamt 12,4 Prozent) und die neue Partei von Zoi Konstantopoulou (rund 6 Prozent). Zum ersten Mal in der griechischen Geschichte hatte Nea Dimokratia jedoch auch bei den jungen Wählerinnen und Wählern einen klaren Vorsprung (33 Prozent, also 9 Punkte vor Syriza).
Syriza kann nicht mehr behaupten, eine »handlungsfähige Regierungspartei« zu sein, die die Hauptsäule einer zukünftigen Regierungsmehrheit bilden könnte. Die Partei befindet sich in einer existenziellen Krise. Es gibt ein weiteres bezeichnendes Symptom für die Panik (und den Realitätsverlust?), die die Parteispitze erfasst zu haben scheint: Noch fassungslos vom Wahldebakel betraute Tsipras Nikos Marantzidis mit der Leitung des Kommunikationsteams von Syriza. Dieser gilt als führender Vertreter der griechischen »revisionistischen« Historikerschule und als Vorreiter einer antikommunistischen Neuschreibung der Geschichte des Widerstands und des Bürgerkriegs. Er selbst hatte die Linke und insbesondere Syriza in der Zeit von 2010 bis 2015 heftig kritisiert.
Ihrer ursprünglichen Identität beraubt und unfähig, eine neue zu erfinden, schwach in der Zivilgesellschaft verwurzelt (Syriza regiert keine größeren Gemeinden und ist nur marginal in den Gewerkschaften und in der Studentenbewegung vertreten) und ganz auf die inzwischen diskreditierte Person ihres Vorsitzenden fixiert – es wäre untertrieben, zu sagen, dass Syriza auf eine schwierige Zeit zusteuert. Einige in der Partei haben bereits angedeutet, selbst die Frage nach einer baldigen Ablösung von Tsipras sei kein Tabuthema mehr.
Zu den Gewinnerinnen der Wahl am 21. Mai zählt indes die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE). Mit 7,2 Prozent hat sie im Vergleich zu 2019 immerhin 1,9 Punkte hinzugewonnen und konnte den Großteil des 2012 verlorenen Bodens wieder gutmachen. Damals verlor die Partei nach der Ablehnung des Einigungsvorschlages von Syriza fast die Hälfte ihrer Wählerschaft (von 8,5 Prozent bei den Wahlen im Mai 2012 auf 4,5 Prozent im Juni 2012). Die KKE ist die einzige linke Partei, die sich eine kämpferische und populäre Basis bewahrt hat. Ihre Gewerkschaftsorganisation, die Militante Arbeiterfront (PAME), ist eine wichtige Kraft, wenn auch eine klare Minderheit in der Arbeiterbewegung. Ebenso ist die kommunistische Jugendorganisation an den Universitäten stark vertreten und hat bei den jüngsten Hochschulwahlen Erfolge eingefahren.
Bei den kommenden Wahlen könnte die KKE daher als »sichere Stimme« für eine traditionelle Linke gelten – eine Kraft, die klar einzuordnen sowie an der Basis aktiv ist. In ihrem Wahlkampf versprach sie nichts anderes, als eine »starke Opposition« gegen jede mögliche Regierung zu bilden. Das ist eine Strategie, die dem gegenwärtigen Zustand der griechischen Politik angemessen erscheint: weitgehende Resignation angesichts des Mangels an Alternativen.
Aufbauend auf einer begrenzten, aber loyalen und gut strukturierten Wählerbasis konnte die KKE bei jungen Wählerinnen und Wählern (7,3 Prozent bei den 17- bis 24-Jährigen, ein Plus von 3,3 Prozentpunkten im Vergleich zu 2019; sowie 8,1 Prozent bei den 24- bis 35-Jährigen, ein Plus von 2,1 Punkten) und insbesondere bei Studierenden, wo sie ihr bisheriges Ergebnis verdoppelte (von rund 4 auf 8,2 Prozent), weiter zulegen. In den Arbeitervierteln der großen Städte (11 Prozent im Arbeitergürtel von Piräus, 11,5 Prozent in Athen-West) und auch in den traditionellen »roten« Hochburgen (13 Prozent auf Lesbos, 35 Prozent auf Ikaria, rund 11 Prozent auf einigen Ionischen Inseln) liegen die Ergebnisse über 10 Prozent. Dieser Aufschwung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Absturz von Syriza vor allem den rechten Kräften zugutekommt: die KKE konnte nur magere 5 Prozent dieser Wechselwähler für sich gewinnen. Selbst in den Arbeitervierteln von Athen und Piräus ist ihr Zuwachs nur ein Drittel beziehungsweise ein Viertel so groß wie der von der Nea Dimokratia.
Trotz dieser Zahlen könnte man den Stimmenzuwachs der KKE als Hoffnungsschimmer ansehen – wenn die Partei nicht so sehr dem Sektierertum verfallen wäre. Bisher hat sie sich jeder Form von gemeinsamer Aktion mit anderen linken Kräften (die unermüdlich als »Stützen des Systems« angeprangert werden) verweigert. Auch in den großen Mobilisierungen der vergangenen Jahre war sie bewusst nicht involviert. So lehnte die KKE beispielsweise jegliche Beteiligung an der Protestbewegung am Syntagma-Platz 2011 ab und kritisierte diese als »kleinbürgerlich«, »unpolitisch« und als »bloßes Ventil«.
Sie weigerte sich auch, beim Referendum im Juli 2015 dazu aufzurufen, mit »Nein« zu stimmen. Stattdessen warb sie für die Abgabe ungültiger Stimmen mit Wahlzetteln, auf denen Parteislogans abgedruckt waren und die von KKE-Aktivistinnen und -Aktivisten verteilt wurden. Diese sektiererische Haltung geht einher mit der konsequent gepflegten Nostalgie für die Sowjetunion und sogar für Josef Stalin. Dessen schriftliches Gesamtwerk wurde kürzlich in 16 ledergebundenen Bänden vom parteieigenen Verlag neu aufgelegt und nun zum Super-Sonderpreis von 208 Euro zum Verkauf angeboten.
»Stalins schriftliches Gesamtwerk wurde kürzlich in 16 ledergebundenen Bänden vom parteieigenen Verlag der KKE neu aufgelegt und nun zum Super-Sonderpreis von 208 Euro zum Verkauf angeboten.«
Auf strategischer Ebene hat die KKE jegliche Bemühungen um eine sozialdemokratisch-linke »Volksfront« zurückgewiesen. Dafür erntete sie Beifall aus gewissen linksradikalen Kreisen, näherte sich inhaltlich aber dem Sechsten Kongress der Komintern an, auf dem die Sozialdemokratie als »Sozialfaschismus« bezeichnet und das baldige Ende des Kapitalismus vorhergesagt wurde. Ebenso lehnt die KKE reformerische Ansätze für einen »sozialen Wandel« abgelehnt. Schließlich sei die Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter die einzige, grundlegende Bedingung zur Lösung jedweder Probleme. Nach der Zugkatastrophe von Tempi weigerte die KKE sich dementsprechend, die Verstaatlichung der Eisenbahn zu fordern. Das Argument: Ob in privater oder öffentlicher Hand, ein Bahnunternehmen würde so oder so dem kapitalistischen System dienen.
Trotz der in vielen Fällen effektiven Gewerkschaftsarbeit (vor allem im Privatsektor) dient die radikale Rhetorik der KKE hauptsächlich dazu, ihre Praxis der politischen Passivität zu verschleiern. Ihre Aktivitäten konzentrieren sich ausschließlich auf den »Aufbau und die Stärkung« der Partei und ihrer verschiedenen Organisationen (Gewerkschaft, Jugend, Kultur und so weiter).
Wie das hochtrabende Ton des jüngsten Kommuniqués des KKE-Zentralkomitees nahelegt, dürfte der (relative) Wahlerfolg die sektiererische Linie und den nostalgischen Neostalinismus der Partei nur weiter bestärken. Das gilt umso mehr, falls die KKE bald die einzige im Parlament vertretene Kraft links von Syriza sein sollte. Dies wäre der Fall, wenn die »Allianz für den Bruch« von MeRA25 bei der Wahl am 25. Juni ähnlich schlecht abschneidet wie im Mai.
Das bringt uns zu MeRA25. Die Ursachen für das Scheitern ihrer Allianz bei der Wahl sind vielfältig. Um sie zu analysieren, müssen wir uns einige Etappen des Prozesses in Erinnerung rufen, der zur Bildung dieser Allianz geführt hat. Ihr Hauptbestandteil ist MeRA25, eine Partei, die 2018 von Yanis Varoufakis als griechische Sektion der transnationalen europäischen Bewegung DiEM25 gegründet wurde. Bei der Wahl 2019 schaffte sie es, die 3-Prozent-Hürde zu nehmen und ins griechische Parlament einzuziehen.
Die Truppe um den prominenten ehemaligen Finanzminister begann als lose strukturierte Bewegung mit einer Mischung aus gesellschaftlichen Forderungen (insbesondere zu Minderheitenrechten), linkem Europäismus und dem Spirit des Anti-Troika-Kampfes der Jahre 2010–15. Ihre Wählerschaft von 2019 war sehr heterogen, mit einer starken Präsenz von jüngeren Menschen und einigen Erfolgen in den Arbeitervorstädten von Athen und Piräus.
In den folgenden vier Jahren begann MeRA25, sich stärker zu strukturieren und vor allem ihre Linie in eine radikalere Richtung zu lenken. Im Dezember vergangenen Jahres rief Varoufakis zu einer breiten Zusammenführung der linksradikalen Kräfte auf Grundlage eines Programmes auf. Dieses spiegelt die Linkswende seiner Bewegung wider: Es beinhaltet die Einsicht, dass die EU nicht reformiert werden könne, die Loslösung von der NATO und die Entscheidung zur Blockfreiheit, der Ausstieg aus dem Euro (wenn nötig) und die klare Betonung eines »Bruchs mit dem Bestehenden«.
Von der organisierten radikalen Linken reagierte nur die sogenannte Volkseinheit positiv auf diesen Aufruf. Der Gruppe schlossen sich außerdem diverse Intellektuelle und Aktivistinnen aus sozialen Bewegungen an. So wurde eine Koalition mit dem Namen »MeRA25-Allianz für den Bruch« gebildet. Im Wahlkampfslogan wurde erneut dieser »erstmalige Bruch mit dem Bestehenden« gefordert. Mit einem ausgefeilten Programm, das in Anspruch und Inhalt dem Programm L'Avenir en commun von La France Insoumise ähnelte, wollte die Allianz zeigen, dass »alles anders sein kann«.
»Wenn der Ruf nach einem Bruch von einer starken Bewegung wie France Insoumise ausgeht, ist er glaubwürdiger – für eine Partei wie MeRA25, die um ihr Überleben kämpft, ist ein solcher Vorschlag aber offenbar eine Nummer zu groß.«
Der einzige dieser Vorschläge, der in den Medien Beachtung fand, war die Schaffung eines elektronischen Zahlungssystems auf Grundlage der digitalen Plattform der Steuerbehörden. Dies würde es ermöglichen, das Bankensystem zu umgehen und dem Staat ein Zahlungsmittel zur Verfügung zu stellen, ohne zwangsläufig auf eine nationale Währung zurückgreifen zu müssen. Durch die Eröffnung eines Kontos in diesem System namens Demeter könnten Einzelpersonen und kleine Unternehmen die exorbitanten Gebühren vermeiden, die griechische Banken selbst für kleinste Transaktionen erheben, und von einer Steuerrückerstattung profitieren, die wiederum als Mittel zur Bezahlung ihres Demeter-Kontos dienen würde.
Eine solche Regelung – auch das war Teil des Vorschlags – könnte aber auch den Wechsel zurück zu einer nationalen Währung erleichtern, sollte die Europäische Zentralbank Griechenland erneut erpressen, wie es 2015 mit der Liquiditätsversorgung geschah. Der Vorschlag reichte aus, um eine Welle der Panikmache seitens Nea Dimokratia und den großen Medien auszulösen, die immer wieder auf die Katastrophe von 2015 verwiesen und auf das Chaos, für das ein Euro-Austritt angeblich sorgen würde. Varoufakis wurde dabei als der Mann stigmatisiert, der Griechenland schon damals in den Bankrott treiben wollte. Auch die Syriza schloss sich dieser Panikpropaganda schnell an. Die übrigen Vorschläge des MeRA-Programms blieben in der öffentlichen Debatte völlig unbeachtet.
Während diese Vorgänge zweifellos dazu beigetragen haben, den gemäßigteren Teil der Wählerschaft abzuschrecken, liegt der Hauptgrund für das Scheitern der MeRA25-Allianz woanders: nämlich im Fehlen einer einigermaßen stabilen Wählerbasis und in der schwindelerregenden Wählerfluktuation zwischen 2019 und 2023. Die Allianz konnte im Mai nur 18 Prozent ihrer eigenen Wählerschaft von 2019 erneut für sich gewinnen. 42 Prozent wandten sich der Nea Dimokratia zu, 27 Prozent linksradikalen Gruppen (der KKE und linken Kleinparteien) sowie 13 Prozent der Partei der Ex-Parlamentspräsidentin von Syriza, Zoi Konstantopoulou (siehe unten). Die Zugewinne kamen hauptsächlich von vormaligen Wählerinnen und Wählern von Syriza und anderen linksradikalen Gruppierungen und sogar von der Nea Dimokratia.
Trotz ihrer auf Geschlossenheit ausgerichteten Strategie erwies sich die von Varoufakis geführte Koalition im Kampf auf dem Terrain der radikalen Linken, wo sie sich eindeutig positionieren will, als nicht wettbewerbsfähig. Der parteiinterne Linksruck wurde darüber hinaus zu spät angekündigt, um noch überzeugen zu können. Die Partei ist nicht ausreichend in der militanten Praxis verwurzelt – nur die Allianzpartner von der Volkseinheit bieten eine (kleine) organisatorische Basis. Somit wirkte der Preis für eine Beteiligung an der Allianz höher als ihr Nutzen. Wenn der Ruf nach einem echten Bruch von einer bereits starken Bewegung wie France Insoumise ausgeht, ist er glaubwürdiger – für eine Partei, die um ihr parlamentarisches Überleben kämpft, ist ein solch ambitionierter Vorschlag aber offenbar eine Nummer zu groß.
Vor diesem Hintergrund scheint die KKE als radikale Oppositionskraft für viele potenzielle Linkswählende die beste Option zu sein, zumal Varoufakis‘ Diskurs einigen Bevölkerungsschichten als zu technokratisch und abstrakt erscheint. Tatsächlich hat MeRA25 im Vergleich zu 2019 landesweit 0,8 Prozent eingebüßt, musste die stärksten Verluste aber in den Arbeiterbezirken hinnehmen (minus 1,5 Prozent in Piräus, minus 1,3 Prozent und minus 1,8 Prozent in Peristeri und in Aspropyrgos, zwei traditionellen Arbeitergemeinden im Großraum Athen). Bei den jungen Menschen konnte die Allianz sich hingegen besser behaupten (dort fiel sie von 6 auf 5,1 Prozent), insbesondere bei den Studierenden (da steht sie stabil bei 6 Prozent). Doch auch in dieser Wählergruppe blieb sie hinter der KKE zurück.
MeRA25 (und die radikale Linke insgesamt) leiden unter Aufstieg der Partei Plefsi Eleftherias (Kurs der Freiheit) von Zoi Konstantopoulou. Diese ist eine bekannte Anwältin und war während der ersten Syriza-Regierung im Jahr 2015 kurzzeitig Parlamentspräsidentin. Ihre 2016 gegründete Partei stützt sich ganz auf das Charisma ihrer Vorsitzenden. Ihre Politik wurde zumindest ursprünglich als »linkspopulistisch« bezeichnet.
Ihr wichtigstes Vorbild ist wohl die Wahlkampfkampagne des französischen Linken Jean-Luc Mélenchon in den Jahren 2016 und 2017 – und dabei insbesondere deren patriotische Untertöne. Im Jahr 2018, als der griechische Nationalismus in Bezug auf die Mazedonien-Frage zunahm, beschloss Konstantopoulou, sich den Protestkundgebungen gegen das von der Syriza-Regierung ausgehandelte Prespa-Abkommen anzuschließen. Man werde die Bezeichnung »Republik Nordmazedonien« für den Nachbarstaat nicht anerkennen.
Diese Kundgebungen waren vor allem in Nordgriechenland sehr groß, wurden aber eindeutig von der radikalen Rechten dominiert. Die Demonstrierenden, darunter eben auch Kurs der Freiheit, machten deutlich, sie würden keinen Staat anerkennen, der in irgendeiner Form den Namen Mazedonien trägt. Dieser sei eine genuin und ausschließlich Griechenland zuzuordnende Bezeichnung. Die nationalistische Wende führte zu einem Bruch der ohnehin schon angespannten Beziehungen zwischen Konstantopoulou und der radikalen Linken.
Bei der Wahl 2019 hatte Kurs der Freiheit 1,5 Prozent erreicht und war nicht ins Parlament eingezogen. Es gelang der Partei dennoch, sich als zentraler Bezugspunkt für eine entstehende Konstellation kleiner »souveränistischer« Grüppchen zu positionieren, die Nationalismus, Ablehnung der traditionellen Links-Rechts-Spaltung sowie Anti-Troika- und Anti-System-Rhetorik miteinander verweben. Bei der Wahl am 21. Mai verbesserte sich das Ergebnis der Partei. Diese hat offenbar noch weiteres Wachstumspotenzial.
Konstantopoulous einfache, schnörkellose Sprache, die sie sich in jahrelanger Gerichtspraxis angeeignet hat, ermöglichte es ihr, erfolgreich Anti-System-Themen aus dem Repertoire sowohl der »Rechten« als auch der »Linken« zu verwenden: nationalistische Slogans (zu Mazedonien oder den Beziehungen zur Türkei), gemischt mit Verweisen auf die sozialen Kämpfe der Jahre 2010-15 (insbesondere zur Schuldenfrage); eine Verteidigung der »Identität der griechischen Nation«, aber auch der immer wiederkehrende Verweise auf Konstantopoulous’ Position als einzige weibliche Vorsitzende einer griechischen Partei sowie Kritik an Sexismus, sexualisierter Gewalt und Angriffen auf die LGBTQ-Community; Sympathie und Verständnis für Impfgegner, aber auch Verteidigung der öffentlichen Rechte und Freiheiten oder Kritik an Polizeirepressionen und staatlicher Gewalt gegen Geflüchtete; die Kombination einer Rhetorik, die das komplette »Polit-Establishment« vehement ablehnt, mit einem starken Rechtsbewusstsein und der permanenten Erinnerung an ihre ehemalige Rolle als Parlamentspräsidentin.
»Es gelang der Partei von Konstantopoulou, sich als zentraler Bezugspunkt kleiner »souveränistischer« Grüppchen zu positionieren, die Nationalismus, Ablehnung der traditionellen Links-Rechts-Spaltung sowie Anti-Troika- und Anti-System-Rhetorik miteinander verweben.«
Die Wahlergebnisse und Umfragen zeigen, dass die Zusammensetzung der Wählerschaft der Partei ähnlich diffus ist wie die Rhetorik der Vorsitzenden. So gibt es (potenzielle) Interessenten von rechts und ganz rechts. Tatsächlich konnte der Kurs der Freiheit fast 9 Prozent der Wählerinnen und Wähler für sich gewinnen, die nach dem Verbot der Goldenen Morgenröte für eine Nachfolgepartei stimmen wollten. Gleichzeitig gelang es ihr aber auch, 13 Prozent der Wählerschaft von MeRA25 aus dem Wahljahr 2019 für sich zu gewinnen.
Das Gesamtprofil der Partei kann nach wie vor wohl als strukturell »links« eingeordnet werden. Das zeigt sich ebenfalls im Wahlverhalten: Kurs der Freiheit erzielte die besten Ergebnisse in den Arbeitervierteln von Athen und Piräus (4 Prozent in Athen-West, 4,3 Prozent im Piräus-Gürtel, mit Spitzenwerten von 5 Prozent in den am stärksten von der Arbeiterklasse geprägten Bezirken). In den Vierteln der oberen Mittelschicht lagen die Werte dagegen deutlich unter dem nationalen Durchschnitt (1,3 Prozent in Filothei, knapp 1 Prozent in Ekali). Die Gruppe konnte außerdem bei der jungen Wählerschaft zulegen und überholte die MeRA25-Allianz bei den 17- bis 24-Jährigen (5,9 Prozent gegenüber 5,1 Prozent).
Mit ihrem »souveränistischen« Profil war die Partei also offenbar in der Lage, einen beträchtlichen Teil der systemkritischen Wählerschaft für sich zu gewinnen. Damit tritt sie in Konkurrenz mit der KKE und der MeRA25-Allianz, wenn es darum geht, Syriza abzustrafen und sich gleichzeitig als Opposition gegen die anderen etablierten Parteien zu positionieren. Die ersten Umfragen nach den Wahlen vom Mai deuten darauf hin, dass Konstantopoulous’ Erfolg sich bei den Wahlen am 25. Juni noch vergrößern dürfte und sie ins Parlament einziehen könnte.
Wie der Politikwissenschaftler Yannis Mavris betont, war die Wahl vom Mai eine Absage an die Vorstellung, dass sich in Griechenland nach 2019 ein neues »Zweiparteiensystem« wie 1981–2009 etablieren würde, wobei die Syriza die vorherige Position der Pasok einnehmen würde. Die ersten, die sich dieser falschen Annahme hingaben, waren sicherlich Tsipras und die Syriza-Führung selbst. Sie glaubten, die linke und junge Wählerschaft sei definitiv für Syriza gewonnen und man könne sich nun getrost auf einen »Wettlauf zur Mitte« einlassen, um die »gemäßigte« Wählerschaft aus der Mittel- und Oberschicht ebenfalls für sich zu begeistern.
In Wirklichkeit ist das Zweiparteiensystem weiter auf dem Rückzug (die Summe der Ergebnisse von Syriza und Nea Dimokratia fiel von 71 Prozent im Jahr 2019 auf nun 61 Prozent). Darüber hinaus geht dies ausschließlich zu Lasten des Mitte-Links-Lagers, was einem scharfen Rechtsruck in der gesamten politischen Landschaft den Weg ebnet. Tatsächlich scheinen derzeit nur die rechtsextremen Kräfte in der Lage, der Nea Dimokratia Verluste beizubringen. Die Griechische Lösung und höchstwahrscheinlich auch Niki dürften nach dem 25. Juni im Parlament vertreten sein. Damit hätte die radikale Rechte ein noch nie dagewesenes Stimmgewicht.
Man kann die jüngsten Wahlergebnisse auch als Rückkehr zur »alten Ordnung« jener politischen Kräfte interpretieren, die durch den Aufstand von 2010–15 und die historischen Wahlen vom Mai und Juni 2012 hinweggefegt wurden. Schließlich erreicht die Nea Dimokratia wieder die Zustimmungswerte ihrer Blütezeit, während die Pasok wieder von den Toten auferstanden ist. Auch die KKE hat fast wieder ihre alte Stärke erreicht und kann zum ersten Mal seit dem Fall der Diktatur (mit Ausnahme einer kurzen Periode zwischen 1993 und 1996) sogar für sich in Anspruch nehmen, das Monopol auf die parlamentarische Repräsentanz der radikalen Linken zu haben. Der Durchbruch einer Partei wie Kurs für die Freiheit sollte derweil als Warnung genommen werden. Es kann gut sein, dass derartige (anti-)politische Verwirrspiele die Lücke füllen, die das Scheitern beim Aufbau eines einheitlichen und glaubwürdigen Machtpols der radikalen Linken hinterlässt.
Einmal mehr können wir also beobachten, dass das Scheitern und der Vertrauensbruch der Linken den Weg für eine reaktionäre Restauration und eine Dynamik der Radikalisierung der Rechten freimachen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Abstimmung vom 25. Juni diese Trends bestätigen oder vielleicht doch noch umkehren wird. In jedem Fall hat sich der Boden, auf dem das politische System Griechenlands ruht, als weniger tragfähig erwiesen als erwartet.
Stathis Kouvelakis lehrt Politische Theorie am King’s College in London. Er war früher Mitglied des Zentralkomittees von Syriza.