09. März 2023
Die Lohn-Preis-Spirale hat im 20. Jahrhundert tatsächlich die Inflation angekurbelt. Eine derartige Teuerungspirale ist heute aber ausgeschlossen. Dafür sind die Gewerkschaften schlicht nicht stark genug.
Beschäftigte bei den Septemberstreiks in Bochum, 1969.
IMAGO / Klaus RoseDie Stärke oder Schwäche von Gewerkschaften hat einen beträchtlichen Einfluss auf das Inflationsgeschehen. Ökonomen wie John Maynard Keynes wurde diese Tatsache zum ersten Mal in den 1920er Jahren bewusst und noch bis in die 1980er Jahre war diese Einsicht auch im wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream weitestgehend unangefochten. Auch wenn es nicht ganz in Vergessenheit geraten ist, so hat das Verständnis für diese Zusammenhänge zum Zeitpunkt der Wiederkehr einer signifikanten Inflation unter Expertinnen und Experten als auch der Öffentlichkeit abgenommen.
Zwischen einem Arbeitsmarkt mit starker Tarifbindung und einem atomisierten Arbeitsmarkt bestehen hinsichtlich des Prozesses der Lohnfestsetzung beträchtliche Unterschiede – und zwar nicht nur quantitativ, weil Gewerkschaften die Verhandlungsmacht von Beschäftigten erhöhen und es ihnen erlauben, einen größeren Anteil der Wertschöpfung für sich in Anspruch zu nehmen, sondern auch qualitativ.
Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind, können auf individueller Ebene gegenüber ihren Chefs am besten durch eine explizite oder implizite Kündigungsandrohung Druck aufbauen. Wenn eine Beschäftigte kündigt, muss das Unternehmen die Kosten für die Neubesetzung ihrer Stelle tragen – also die Ausgaben für das Bewerbungsverfahren, die Ausbildung der Nachfolgerin und die Produktivitätsausfälle in der Zwischenzeit. Um das zu verhindern, kann es im rationalen Interesse der Firma sein, der Arbeiterin einen besseren Lohn zuzugestehen. Doch die Summe, die ein Unternehmen bereit ist, dafür aufzuwenden, wird die erwarteten Kosten für eine Neubesetzung grundsätzlich nicht übersteigen.
Die Belegschaft in einem gewerkschaftlich organisierten Betrieb kann auch über Streiks Druck ausüben. Wie bei Kündigungen gehen dem Unternehmen bei einem Streik Arbeitskräfte verloren, was Kosten nach sich zieht. Doch hier enden die Parallelen.
Erfolgreiche Arbeitsniederlegungen bürden dem Unternehmen Kosten auf, die der gesamten verpassten Wertschöpfung über die Dauer des Streiks entsprechen. In einem gewerkschaftlich dominierten Arbeitsmarkt entstehen für einen Betrieb, der »zu niedrige« Löhne zahlt, damit wesentlich größere Risiken als in einem atomisierten Arbeitsmarkt.
Tatsächlich sind die potenziellen Kosten im Vergleich zu den relativ geringen Ausgaben für die Neubesetzung von Stellen so hoch, dass es etwas mysteriös erscheint, warum Beschäftigte in einem stark gewerkschaftlich organisierten Arbeitsmarkt keinen viel größeren Anteil der Wertschöpfung für sich reklamieren können, auch im Vergleich zu Arbeitsmärkten mit geringem Organisationsgrad.
Dies liegt vor allem daran, dass für Beschäftigte bei einem Streik ebenfalls Kosten entstehen: Um den Arbeitskampf zu gewinnen, müssen sie die finanzielle Belastung durch Lohnausfälle länger aushalten, als das Unternehmen die entstehenden Umsatzverluste verkraften kann.
Diese Variable der »Widerständigkeit« der Beschäftigten hängt neben objektiven Umständen, wie dem Umfang der Streikkasse, auch von einer ganzen Reihe von subjektiven Faktoren politischer, soziologischer und psychologischer Art ab, die man unter Begriffen wie »Militanz« oder »Kampfgeist« zusammenfassen könnte. Natürlich spielen solche subjektiven Faktoren auch auf Unternehmerseite eine Rolle. Die meisten Firmen würden erzwungene Lohnerhöhungen als langfristig kostspieliger betrachten als freiwillige Zugeständnisse beim Lohnniveau, selbst wenn es kurzfristig um dieselben Beträge geht.
Anders als im Kontext eines atomisierten Arbeitsmarkts setzen Unternehmen und Gewerkschaften Löhne in diesem Fall also in einem strategischen Aushandlungsprozess fest. Wie in einem Krieg oder bei zwischenstaatlicher Konkurrenz stimmen die Kontrahenten ihr Verhalten darauf ab, welche Reaktion sie von der Gegenseite erwarten.
Man könnte zunächst annehmen, dass die möglichen Handlungsoptionen wenigstens dadurch eingeschränkt sind, dass ein einzelnes Unternehmen sich nur ein bestimmtes Lohnniveau leisten kann: Es gibt immer eine theoretische Lohnhöhe, bei der die Profite des Betriebs auf Null oder sogar darunter fallen würden oder der Umsatz wegen überhöhter Preise einbrechen würde. Von außerordentlichen Umständen abgesehen, wäre kein Unternehmen jemals bereit, Löhne zu zahlen, die sich einem derart niedrigen Wert zu sehr annähern würden.
Doch genau hierin liegt die Natur des Inflationsproblems des 20. Jahrhunderts: Egal welches Lohnniveau in einer bestimmten Branche festgesetzt wird, es wird sich auf die Tarifverhandlungen in allen anderen Sektoren auswirken. Sollten sich in einer bestimmten Branchengruppe Gewerkschaften und Unternehmen – aus welchen Gründen auch immer – auf ein besonders hohes Lohnniveau einigen, erhöht sich das Gesamteinkommen in der Wirtschaft, was anderen Firmen erlaubt, ihre Preise zu erhöhen, ohne Umsatzeinbußen in Kauf nehmen zu müssen.
Falls die höheren Löhne in der ersten Gruppe von Sektoren zu Preissteigerungen für die entsprechenden Produkte führen (was üblicherweise der Fall ist), steigen die Lebenshaltungskosten für alle Beschäftigten, was Arbeiterinnen und Arbeiter in anderen Branchen dazu anspornen wird, bei der nächsten Tarifrunde ähnlich hohe Lohnerhöhungen einzufordern.
Es ist leicht nachvollziehbar, dass – unter den entsprechenden Bedingungen – selbst relativ moderate Lohnerhöhungen über Branchen hinweg zu seiner Kettenreaktion führen könnten, bei der höhere Tarifabschlüsse und Preise in bestimmten Sektoren zu höheren Löhnen und Preisen in anderen führen, die sich wiederum auf die Lohndynamik innerhalb der ersten Branchengruppe auswirken.
Dieses Muster – das uns heute als »Lohn-Preis-Spirale« – bekannt ist, wurde um 1941 zum ersten Mal beschrieben, doch das zugrundeliegende Phänomen wurde bereits im Ersten Weltkrieg beobachtet, als es noch als »Teufelskreis« bezeichnet wurde. Dieser Begriff wurde, soweit ich das beurteilen kann, zum ersten mal in einem Editorial des Spectators von 1916 zur Beschreibung dieses Phänomens angewendet. Damals war ein Bahnstreik während des Kriegs, der zu beachtlichen Lohnerhöhungen geführt hatte, Anlass der Kritik.
Es gibt bei dieser Methode, mit diesem Problem umzugehen, aber noch ein weiteres, vielleicht noch grundsätzlicheres Dilemma. Sie setzt einen Kreislauf in Gang, der Schritt für Schritt dazu führt, dass es immer schwieriger wird, die ursprüngliche Situation zu beheben. Wenn die Löhne der Eisenbahner steigen, müssen die Bahngesellschaften die Preise für den Transport von Personen und Gütern erhöhen. Das bedeutet, dass sich Materialkosten ebenso wie die Ausgaben all derer, die berufliche Reise unternehmen müssen, erhöhen werden. Dasselbe gilt natürlich genauso für die Löhne von Hafenarbeitern oder Fuhrmännern, Landarbeitern oder Milchmännern.
Eine echte Lohn-Preise-Spirale ist ein inhärent explosiver Prozess. Wenn sie nicht durch externe Faktoren gestoppt wird – üblicherweise eine restriktive Geldpolitik durch die Zentralbank –, werden die Preise weiter kontinuierlich und immer schneller steigen.
Die Ökonomin Joan Robinson stellte dies in ihrem Essay über die Vollbeschäftigung von 1937 eindrücklich dar, in dem sie die Theorie des Arbeitsmarkts aus der General Theory von Keynes zusammenfasste und, mit Zustimmung des Autors, einige der wackligeren Argumente des Buches korrigierte. Robinson geht hier soweit, zu behaupten, dass in Abwesenheit einer geldpolitischen Intervention »der Zustand der Vollbeschäftigung alles andere als ein stabiles Equilibrium, sondern ein Abgrund zu sein scheint, und der Geldwert, wenn er erst einmal dessen Rand überschritten hat, ins Bodenlose fällt«.
In ihrem Essay geht Robinson von einem gewerkschaftlich organisierten Arbeitsmarkt aus. Diese Annahme wird im Text niemals infrage gestellt. Robinson setzt voraus – genau wie Keynes in den meisten seiner Schriften aus dieser Zeit –, dass das Angebot von Arbeitskraft schlicht ein Resultat von »gewerkschaftlichem Verhalten« oder »gewerkschaftlicher Psychologie« sei.
Die weit verbreitete Gepflogenheit, das Phänomen der Inflation zu untersuchen, ohne explizit festzuhalten oder auch nur zu beachten, unter welchen institutionellen Umständen eine bestimmte Analyse zutreffen könnte, ist leider im gegenwärtigen ökonomischen Diskurs der Normalfall. Das hat nachvollziehbare Gründe: Viele Institutionen verändern sich sehr langsam, auf der Zeitskala von Dekaden statt von Jahren, während wir üblicherweise mit Problemen der unmittelbaren Gegenwart befasst sind. Doch das kann zu Verwirrung führen.
In den seltenen Momenten, in denen sich Institutionen schnell verändern, ist es am wahrscheinlichsten, dass diese Phänomene offen angesprochen werden. 1944, als sich in der kapitalistischen Welt gerade der Konsens etablierte, dass die Vollbeschäftigung auch nach dem Krieg aufrechterhalten werden sollte, schrieb ein nachdenklicher Keynes einem Kollegen, dass »die Begrenzung des Lohnwachstums zu einem ernsthaften Problem werden wird, wenn wir von einer Kombination aus Tarifbindung und Vollbeschäftigung ausgehen«.
Ein häufiger Vorwurf an Keynes, der ganz bestimmt nicht zutrifft, lautet, dass er blind gegenüber dem Risiko einer inflationären Dynamik gewesen wäre. In Wahrheit war er sich der Gefahr, dass die Nachkriegswirtschaft von permanent steigenden Preisen betroffen sein könnte, stärker bewusst als viele andere.
Seth Ackerman ist Redakteur der US-Ausgabe von JACOBIN.