08. Februar 2022
Die Europäische Zentralbank kann gegen die derzeitige Inflation nichts ausrichten. Stattdessen muss die Regierung die Energiepreise in die Hand nehmen.
Christine Lagarde und die EZB sind machtlos gegen diese Inflation.
Die Europäische Zentralbank steht unter Druck. Immer lauter werden die Rufe nach höheren Zinsen, um die Inflation zu drosseln. Die US-amerikanische Zentralbank Federal Reserve (FED) kündigte genau das bereits an, die Bank of England hat schon damit begonnen. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis auch die EZB den Zins anhebt.
Im Englischen gibt es das Sprichwort »if all you have is a hammer, everything looks like a nail«. Das trifft die Sache auf den Kopf. Neoliberale und Konservative verlangen empört nach einem höheren Zins (ihr liebster Hammer) gegen die Inflation (ein vermeintlicher Nagel). Dabei ist der Zins das völlig falsche Werkzeug gegen eine Inflation, die von explodierenden Energiepreisen herkommt.
Für Januar wurde in Deutschland eine Inflationsrate von 4,9 Prozent gemeldet. Maßgeblicher Treiber sind die Energiepreise, die mehr als 20 Prozent teurer sind als vor einem Jahr. Ökonominnen und Ökonomen unterscheiden zwei Arten von Inflation: solche, die durch höhere Kosten bedingt ist, und solche, der eine Überhitzung der Wirtschaft zugrunde liegt.
Von Überhitzung spricht man, wenn die Wirtschaft lange boomt und nah an der Vollbeschäftigungsgrenze ist. Davon kann derzeit nicht die Rede sein. Corona hat die Wirtschaft gelähmt, noch immer sind rund 800.000 Beschäftigte in Deutschland in Kurzarbeit, noch immer agieren viele Wirtschaftsbereiche unter ihrer eigentlichen Kapazität. Für den Euroraum sieht es noch schlimmer aus: Die Arbeitslosenquote liegt bei über 7 Prozent, für Jugendliche gar bei rund 16 Prozent.
Trotzdem steigen die Kosten. Etwa, weil die Gasvorräte knapp sind, weil die Spannungen mit Russland zunehmen, weil das Öl-Kartell OPEC die Fördermenge reduziert hat, weil am Strommarkt spekuliert wird, weil Kraftstoffe neuerdings mit einer CO2-Abgabe von 30 Euro pro Tonne belegt werden, weil der Preis für CO2-Zertifikate im europäischen Emissionshandel durch die Decke gegangen ist oder weil die Pandemie die Lieferketten stört, wenn in China coronabedingt Häfen dichtgemacht werden. Die Inflation ist kostengetrieben, nicht nachfragegetrieben.
Die heutige Situation wird vielfach mit der Inflation und der Ölkrise der 1970er Jahre verglichen. Ja, auch damals waren die Preissteigerungen kostenbedingt, doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Damals lagen die Zuwächse bei den Tariflöhnen bei über 10 Prozent pro Jahr, letztes Jahr hingegen nur bei mageren 1,7 Prozent. Damals gab es eine Lohn-Preis-Spirale, heute nicht.
Wer die Inflation bekämpfen will, muss also an die Kosten ran und für sinkende Energiepreise sorgen.
Die EZB dagegen kann nur den Zins verändern oder weniger Anleihen kaufen. Letzteres hat sie schon angekündigt: Das große Anleihekaufprogramm PEPP soll im März auslaufen. Jetzt auch noch den Zins hochzuschrauben, würde in keiner Weise helfen. Denn ein höherer Zins bewirkt rein gar nichts gegen die Gasknappheit, die Macht des Öl-Kartells OPEC oder die Spekulation an der Strombörse.
Finanzminister Christian Lindner (FDP) könnte über Steuersenkungen für Entlastung sorgen, Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) könnte mit einer Investitionsoffensive in erneuerbare Energien die Abhängigkeit von teuren Energieimporten reduzieren, Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) könnte Bus und Bahn zu erstklassigen Alternativen gegen teures Autofahren machen. Der EZB-Präsidentin Christine Lagarde hingegen sind die Hände gebunden.
Wenn Lagarde weniger Anleihen kauft und den Zins anhebt, steigen allerdings die Renditen auf Staatsanleihen, sprich: Dann müssen Lindner und seine Kolleginnen und Kollegen in den europäischen Finanzministerien wieder höhere Zinsen zahlen. Unter den Bedingungen von Schuldenbremse und strengen europäischen Schuldenregeln wird das Leben der Finanzministerinnen und -minister dann schwerer, es bleibt weniger für Steuersenkungen und Investitionsoffensiven. Das würde sowohl kurzfristige und als langfristige nationalstaatliche Lösungen nur erschweren.
Neoliberale und Konservative ignorieren diese Argumente, weil sie nicht zu ihrer Weltanschauung passen – und weil sie schlechte Makroökonomen sind. Sie reden sich ein, die Energiekrise sei nicht Ursache, sondern Symptom – eine Folge von zu hohen Staatsschulden und expansiver Geldpolitik. Sie fühlen sich in ihrer jahrelang vorgetragenen Kritik bestätigt: Die EZB habe die Wirtschaft mit Geld geflutet, jetzt komme die Quittung in Form von Inflation.
Wenn die Analyse so aussieht, kann man natürlich nur zu dem Schluss kommen, dass die EZB gefragt ist. Immer wieder wird auf Paul Volcker verwiesen, den Zentralbank-Helden vieler Neoliberaler. Volcker wurde 1979 Vorsitzender der FED und sorgte sogleich für einen Zinsschock. Er hob den Zins schlagartig und in der Spitze auf mehr als 20 Prozent an, um die damalige Inflation infolge der Ölkrise und der Lohn-Preis-Spirale zu ersticken. Damit schickte er die Wirtschaft in die Krise. Die Arbeitslosigkeit stieg von 6 auf 11 Prozent – die Lohn-Preis-Spirale war damit beendet. Weil zugleich der Ölpreis fiel, sank auch die Inflation allmählich. Als Vorbild taugt eine solche Hau-Ruck-Politik aber wahrlich nicht.
Sie ist vor allem nicht im Sinne der arbeitenden Menschen. Wer seinen Job verliert, ist schlechter dran als vorher. Hohe Arbeitslosigkeit schwächt die Verhandlungsmacht von Arbeiterinnen und Arbeitern. Sie verlieren dann im Verteilungskampf zwischen Lohn und Profit. Obendrein erhalten Vermögende risikolose Einkommen. Wer ohnehin schon viel Geld hat, wird bei hohen Zinsen reicher, ohne etwas dafür tun zu müssen. Bei Nullzinsen – wie wir sie gerade erleben – müssen sie ihr Geld zumindest ins Risiko tragen, etwa auf den Aktien- oder Immobilienmarkt, um ihren Reichtum zu vergrößern.
Es wundert also wenig, dass eine solche Schocktherapie gerade von neoliberaler Seite gefordert wird. So schrieb zuletzt der ehemalige Chefredakteur der Wirtschaftswoche, Roland Tichy: »Die EZB sollte in dieser Situation die Geldmenge reduzieren und die Zinsen deutlich erhöhen. Das würde die Weltwirtschaft in eine Depression stürzen, aus der sie sich aber rasch erholen könnte, wenn die Märkte liberalisiert würden.« Das lässt tief blicken auf die ökonomische und politische Geisteshaltung. Von Seiten der EZB ist derzeit glücklicherweise keine Schocktherapie zu erwarten.
Zehn Jahre lang versuchte die EZB mit Nullzinsen und Anleihekäufen gegen die Wirtschaftsschwäche in der Eurozone anzukämpfen – vergebens. Ihr Inflationsziel von 2 Prozent hat sie verfehlt. Aus dem Versuch, der Wirtschaft Leben einzuhauchen, wird jetzt der Auftrag, die Inflation zu bremsen. Mit beidem ist sie überfordert. Deswegen ist die Diskussion um höhere Zinsen letztlich vergebene Mühe.
Die eigentliche Frage ist: Warum nicht der EZB das Inflationsmandat abnehmen und es den Regierungen übertragen? Denn die Finanz- und Wirtschaftsministerien verfügen über viel bessere Werkzeuge als die EZB. Die Zentralbanken sollten ihre Zinsen einfach bei null belassen und gewährleisten, dass die Staaten günstig an neues Geld kommen und die großen Banken verlässlich beaufsichtigt werden.
Finanzstabilität statt Preisstabilität sollte das neue Motto lauten. Damit würde der Debatte und der Politik ein großer Dienst erwiesen. Dann müssen wir uns nicht mehr fragen, ob Lagarde das Geld verteuern soll oder nicht, sondern können Lindner unter Druck setzen, damit er das Heizen und Tanken vergünstigt.
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Eine kürzere Version dieses Artikels erschien zuerst im »Geld für die Welt«-Newsletter. Maurice Höfgen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Bundestag und Autor des Buches »Mythos Geldknappheit«.
Maurice Höfgen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Bundestag und Autor des Buches »Mythos Geldknappheit«. Zudem betreibt er den YouTube-Kanal »Geld für die Welt«.