14. Dezember 2020
In den 1980er Jahren blühte in der DDR trotz staatlicher Repressionen eine Bewegung von Schwulen, Lesben und Transmenschen auf. Mit der DDR wurde auch die Erinnerung an sie abgeräumt - um den Preis einer bis heute andauernden Entfremdung.
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»Deutschland, einig Hetenland!?« So lautete der Titel einer Podiumsdiskussion anlässlich des Christopher Street Day 1990 in Berlin. Er macht deutlich, dass die Wiedervereinigung für viele Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transmenschen aus dem Osten kein Grund zum Feiern war. Nicht nur Friedensbewegte, Gewerkschafterinnen und Bürgerrechtler mussten sich im Oktober 1990 angesichts der Übermacht der Regierung Kohl geschlagen geben. Ähnlich erging es auch einer bunten Mischung schwul-lesbischer Aktiver, deren Utopien, Reformvorstellungen und politischen Vorhaben in der »Wiedervereinigung« keinen Platz fanden. Zugleich gerieten mit dem Untergang der DDR ihre vorangegangenen Kämpfe in Vergessenheit: Die späten 80er Jahre waren eine Zeit des Wandels gewesen – der »Wende« ging eine »Homo-Wende« voraus.
Nach jahrzehntelangem Schweigen hatte das Thema Homosexualität in der DDR eine ganz neue Öffentlichkeit gefunden. Radiosendungen, ein Aufklärungsfilm des Dresdner Hygienemuseums und Debatten in Zeitschriften wie Deine Gesundheit verhandelten das Thema zunehmend unverklemmt. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung war Coming Out, der erste DEFA-Film mit einer schwulen Hauptfigur. Der Film feierte ausgerechnet am Tag der Maueröffnung Premiere – wenn sie wollten, konnten die Zuschauerinnen und Zuschauer direkt vom Kino International zu den Grenzübergängen weiterziehen.
So wie Coming Out erging es auch vielen Errungenschaften der homosexuellen Emanzipationsbewegung: Die Welle der Ereignisse von 89/90 spülte sie einfach hinweg. Denn selbst in der politisch brisanteren Frage der homosexuellen Selbstorganisation hatte es zum Ende der DDR hin ein staatliches Umdenken gegeben.
Der erste Versuch emanzipatorischer Selbstorganisation von Homosexuellen in der DDR, die Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin (HIB), nahm im Jahr 1973 in Ost-Berlin seinen Anfang, gab jedoch bereits nach einigen Jahren desillusioniert wieder auf. Ihre unzähligen Eingaben an verschiedene staatliche Stellen, ihre Bemühungen um eigene Räume und die Anerkennung als Interessenvertretung homosexueller Menschen in der DDR scheiterten an der homophoben Haltung der Funktionäre und ihrem Vorwand, dass Sexualität Privatsache und damit kein legitimer Versammlungsgrund sei.
War die HIB noch von der Überzeugung getragen gewesen, dass der Sozialismus die Gleichheit aller bedeute und die DDR deshalb die Integration der Homosexuellen in die sozialistische Gesellschaft eigentlich befürworten müsse, vertraten viele ihrer Nachfolger systemkritischere Ansätze. Sie formierten sich, was zunächst überraschen mag, vor allem unter dem Dach der Kirche. In der DDR bot die evangelische Kirche auch vollkommen areligiösen Menschen eine Zuflucht vor direkter staatlicher Kontrolle. Der Vermerk »Nur für den innerkirchlichen Gebrauch«, der auf vielen Dokumenten zu finden war, stand für einen gewissen Freiraum innerhalb des politischen Systems und wurde von zahlreichen oppositionellen Gruppen genutzt.
Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg im Januar 1982 unter dem Titel »Kann man darüber sprechen? Homosexualität als Frage an Theologie und Gemeinde« kamen zahlreiche Aktive zusammen, die noch im selben Jahr in Leipzig und Ost-Berlin, später auch in einer Reihe anderer Städte in der DDR Gesprächs- oder Arbeitskreise in evangelischen Gemeinden gründeten.
Diese Gruppen organisierten in der Regel alle 14 Tage Vorträge zum Beispiel zur marxistischen Ethik der Homosexualität, zur expressionistischen Dichterin Else Lasker-Schüler oder Safer Sex. Mindestens ebenso wichtig wie die inhaltliche Arbeit war das Soziale: Die Kreise boten Gelegenheit zum Kennenlernen; Alltagsprobleme und Einsamkeit konnten bei einer Tasse Tee bewältigt oder zumindest geteilt werden.
Ein Fokus der Kirchengruppen in Ost-Berlin lag auf der Erinnerung an die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus – ein heikler Punkt, da die Erzählung des staatlich verordneten Antifaschismus diese aussparte. Bemühungen der Kirchengruppen in Sachsenhausen und Ravensbrück, schwulen und lesbischen Häftlingen zu gedenken, wurden seitens des Staates zu verhindern versucht und endeten im Fall der Berliner Lesbengruppe 1985 sogar mit Polizeigewahrsam und Verhören.
Die kirchlichen Gruppen blieben der Staatsführung bis zum Schluss ein Dorn im Auge. Sie wurden als staatsfeindliche oppositionelle Kräfte eingestuft und dementsprechend von der Staatssicherheit beobachtet, unterwandert und »zersetzt«. Viele ihrer Mitglieder wanderten aufgrund der Repressionen aus. Bei aller staatlichen Übermacht übte die Existenz der Kirchengruppen jedoch auch Druck auf den Staat aus. Ab den späten 1980er Jahren setzte sich allmählich die Einsicht durch, dass es auch jenseits der Kirche Räume für Schwule und Lesben geben müsse, um den kirchlichen Gruppen nicht das Feld zu überlassen. Einfach wurde es trotzdem niemandem gemacht.
Uschi Sillge, ehemals Mitglied der HIB, startete Mitte der 1980er Jahre einen erneuten Versuch, Strukturen außerhalb der Kirche aufzubauen. Sie tat das aus dem Grund, dass eine Angliederung an die Kirche für viele potenziell Aktive nicht in Frage kam – zu groß war das Risiko, mit dem Staat in Konflikt zu geraten. Ihre Strategie, mit den staatlichen Strukturen zusammenzuarbeiten und sich nicht per se als oppositionell zu definieren, bewahrte die Gruppe jedoch keinesfalls davor, ebenfalls von der Staatssicherheit unterwandert und beobachtet zu werden. Auch eigene Räumlichkeiten wurden ihnen bis zum Ende der DDR verweigert. Stattdessen gab es Veranstaltungen in staatlichen Jugendclubs oder Kreiskulturhäusern, anfangs vor allem am unbeliebten Sonntag – so entsteht der Name Sonntags-Club. Der Sonntags-Club vereinte bald ganz unterschiedliche Formate, wie einen Gesprächskreis zu Bisexualität, Lesungen homosexueller Literatur oder eine »Interessengemeinschaft Motoristik«. 1990 standen dem Sonntags-Club plötzlich ganz neue Möglichkeiten zur Verfügung, in der Rhinowerstraße 8 im Prenzlauer Berg wurde ein Beratungs-und Informationszentrum eröffnet, ein Info-Laden um die Ecke kam kurz darauf hinzu.
Im Zuge des gesellschaftlichen Wandels 89 /90 erschien vieles möglich, das lange Zeit undenkbar war. Eine regelrechte Welle von Vereins- und Verbandsgründungen setzte ein. Auch viele Angehörige der kirchlichen Arbeitskreise engagieren sich in den neuen politischen Kontexten. Der Unabhängige Frauenverband, der noch im Dezember 1989 gegründet wurde, war für viele lesbische Aktivistinnen ein neues Handlungsfeld. Der im Leipziger Arbeitskreis aktive Eduard Stapel begründete im Februar 1990 den Schwulenverband in der DDR mit, der kurz darauf bundesweit aktiv wurde.
Diesen neuen Möglichkeiten des Aktivismus und Engagements standen Ernüchterungen angesichts der einseitig vollzogenen »Wiedervereinigung« gegenüber. In mancherlei Hinsicht bedeutete diese einen Rückschritt. So war seit 1988 die strafrechtliche Verfolgung von Schwulen und Lesben in der DDR endgültig Geschichte. In der DDR wurde der männliche Homosexualität ahndende Paragraf 175 zwar 1968 abgeschafft, jedoch wurde er durch einen neuen Paragrafen 151 ersetzt, der nach wie vor von einem abweichenden Schutzalter von 18 statt 14 Jahren für Homosexuelle ausging. Dieser Diskriminierung waren nun erstmals in Deutschland nicht nur Männer, sondern auch Frauen ausgesetzt. Mit der Abschaffung des Paragrafen 151 Ende 1989 war Homosexualität in der DDR erstmals straffrei – eine Errungenschaft, um die vor allem Schwule kurz darauf wieder bangen mussten. Denn in der Bundesrepublik galt das abweichende Schutzalter nach wie vor. Im Wiedervereinigungsvertrag wurde ein absurder Kompromiss gefunden. Bis zu seiner Abschaffung 1994 blieb die Regelung in den westlichen Bundesländern in Kraft, nicht aber im Osten. Es galt also das sogenannte Tatortprinzip: Eine sexuelle Handlung zwischen einem 17-Jährigen und einem 21-Jährigen war in Frankfurt am Main strafbar, nicht aber in Frankfurt an der Oder.
Auch Bemühungen um einen verfassungsrechtlichen Schutz von Homosexuellen gingen im Zuge der Übernahme des bundesdeutschen Grundgesetzes unter. Der letztendlich ignorierte Verfassungsentwurf des Runden Tisches hatte festgeschrieben, dass niemand wegen seiner sexuellen Orientierung benachteiligt werden dürfe.
Hinzu kam, dass Schwule, Lesben und Transmenschen im allgemeinen Nationaltaumel 89 /90 gewaltvoll zu spüren bekamen, dass sie nicht Teil dieses wiederentdeckten »Volks« waren. Nach 1990 kam es in Berlin vermehrt zu neonazistischen Angriffen auf schwul-lesbische Orte. So wurde beispielsweise ein Frühlingsfest im Gründerzeitmuseum in Mahlsdorf bei der Gastgeberin und Grande Dame der Szene, Charlotte von Mahlsdorf, im Mai 1991 von Neonazis überfallen. Es breitete sich ein Gefühl der Bedrohung aus, an das es sich dreißig Jahre später aus gegebenem Anlass zu erinnern gilt.
In der offiziellen bundesrepublikanischen Geschichtsaufarbeitung kommen homosexuelle Menschen nicht vor. Und auch die LGBT*-Szene scheint kaum Interesse an der DDR-Geschichte zu haben. Auch hier gilt die Devise, dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird: Viele Organisationen und Gruppen der schwul-lesbischen Emanzipation in der DDR überlebten den Systemwechsel nicht. So hat ein Großteil der heute bestehenden Institutionen einen Westhintergrund und erzählt lieber die eigene Geschichte.
Lesben in der Kirche, Gesprächskreis Bisexualität im Volkskunstklub Prenzlauer Berg, Veranstaltungen zur Travestie und Transsexualität im Veranstaltungshaus der Freie Deutsche Jugend (FDJ) – alle diese Ausprägungen des real existierenden Sozialismus jenseits der staatlich geförderten heterosexuellen Kleinfamilie sind heute nahezu vergessen. Doch für nicht wenige waren diese Kreise wichtige Orte der Sozialisation. Ihre Praxis der Selbstverständigung, ihre Auffassung von Politik und Sexualität bleiben bis heute prägend. Viele ehemals Aktive fühlen sich etwa von einer neueren queeren Szene- und Bewegungskultur entfremdet, die entschieden westlichen Ursprungs ist.
So gilt es nicht nur eine abgeräumte Geschichte mitsamt ihrer Kämpfe und Lebensläufe nachträglich zu würdigen. Es geht auch darum, heutigen Selbstverständnissen und Differenzen nachzuspüren, deren Wurzeln in den Erfahrungen, der Kultur und dem politischen Gedächtnis eines allzu leicht vergessenen Kapitels deutscher Geschichte jenseits des »einig Hetenland« liegen.