08. Dezember 2022
Hotspot Gera
Wie ein beschauliches Städtchen in Thüringen zum Zentrum der rechten Proteste in Deutschland werden konnte.

Nur wenige Stunden nach den vierzehn Linken laufen Tausende bei dem Protest der Rechten mit.
Foto: Ines SchwerdtnerVon Ines Schwerdtner
Es ist die 953. Montagsdemo. Peter Lückmann lädt den Lautsprecher zurück ins Auto. Auch das rote Stoffbanner wird eingerollt und im Kombi verladen. Peter veranstaltet die Demo mit anderen seit dem Beginn der Hartz-Reformen. Sie begannen damals im August, das war vor achtzehn Jahren. Mittlerweile haben sie dafür den Verein Initiative für Soziale Gerechtigkeit gegründet.
An diesem Tag kamen erst zehn, dann doch vierzehn Menschen auf den kleinen Platz vor dem Geraer Kongresszentrum. Sie verteilen Flyer für die kommende Woche, zwischen den Wortbeiträgen läuft traurige oder satirische Musik. Die meisten Passanten eilen über die Straße in Richtung Geraer Arcaden. Es wird dunkel und alle wollen nach Hause.
Diese Kundgebung, das betont Peter Lückmann direkt zu Beginn, ist das »Original«. Doch das Original wurde erfolgreich kopiert. Oder besser gesagt: überholt. Nur wenige Stunden nach den Linken laufen jeden Montag Tausende bei dem Protest der Rechten mit, der sich weniger auf die Hartz-Montagsdemos als vielmehr auf die Wendezeit zurückbesinnt. Gera, die beschauliche Stadt in Ostthüringen, wurde praktisch unbemerkt von der bundesdeutschen Öffentlichkeit zur Hochburg dieser rechten Aufmärsche. »Erfurt, das ist heute die abgehobene politische Klasse. Gera, das ist heute politischer Klartext, das ist ehrliche Vaterlandsliebe«, verkündete Björn Höcke vom völkischen Flügel der AfD vor 10.000 Demonstrierenden am 3. Oktober 2022. »Gera ist der Beginn von etwas ganz Neuem«, sagte er dort.
Seit ein paar Wochen habe sich etwas verändert, meint Lückmann. Unter den rechten Demonstrierenden sei die Stimmung gekippt. Jeder, der jetzt noch bis zum Schluss mitläuft, wisse, worauf er sich einlässt. Sein Genosse Thomas Elstner, Gewerkschafter bei Verdi und Mitorganisator der linken Montagsdemo, widerspricht ihm. Das sei kein Kipppunkt gewesen, sagt er, sondern die logische Folge der Entwicklungen der letzten Jahre. Die AfD habe die Proteststimmung besser zu nutzen gewusst und sich gleichzeitig in den Machtzentren festgesetzt. »Das gesellschaftliche Klima ist fast entschieden«, meint Peter Lückmann. Ordnungsamt, Polizei, Apparate – überall ist die AfD längst drin. Mit seinem Vokuhila, seinem Schnauzer und seiner silbernen Kette, an der ein Anhänger in Form eines Hanfblatts baumelt, könnte er als Rocker durchgehen. Aber seine Augen sind traurig und müde. »Die Leute werden nackich gemacht, die werden gedemütigt«, meint er. »Die sagen sich: ›Ich halt’s daheem ne’ mehr aus‹, die Wut muss raus.«
Als sie 2004 anfingen, waren sie auf einen Schlag hundert Leute, beim zweiten Mal ein paar Hundert, beim dritten Mal 6.500 Menschen. Dann, am 19. Dezember 2004 um 23:17 Uhr, berichtet Peter protokollarisch, wird in Berlin das »Verelendungsgesetz« verabschiedet. Im folgenden Januar gingen nur noch 800 Demonstrierende in Gera auf die Straße. Die Hoffnung, man könne Hartz IV in die Knie zwingen wie das Regime der DDR, war mit einem Mal verflogen.
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