20. Juni 2022
Michel Houellebecq ist milde geworden, so das weitläufige Urteil über seinen letzten Roman »Vernichten«. Doch statt Humanismus durchzieht den Roman dieselbe soziale Kälte, die man von dem Chronisten der Generation X gewohnt ist.
Michel Houellebecq, Madrid, 26. September 2015.
In Michel Houellebecqs neuestem Roman Vernichten erklärt der Aktivist Brian, Mitglied des »Kommitees zur Bekämpfung von Mord in Krankenhäusern«, warum er und seine Gruppe Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner entführen: Er will sich gegen eine Gesellschaft wehren, die ein Problem mit dem Altwerden hat. »Wir [können] die Alten nicht mehr ertragen, wir wollen nicht einmal wissen, dass es sie überhaupt gibt, deshalb pferchen wir sie an speziellen Orten ein, wo die anderen Menschen sie nicht sehen.« Wie viele Houellebecq-Figuren glaubt auch Brian den Niedergang des Abendlandes an einem einzelnen Missstand festmachen zu können. Diesmal ist es also der mangelnde Respekt vor dem Alter: »In dem wir dem Leben eines Kindes einen höheren Wert beimessen – ohne zu wissen, was aus ihm wird […] –, leugnen wir den Wert unseres tatsächlichen Handelns […] so entziehen wir dem Leben jeden Ansporn und jeden Sinn.«
Die Tradition linker Kulturkritik hat dieses Problem ebenso erkannt, kommt jedoch zu einem anderen Schluss. Schon 1929 deutet Siegfried Kracauer die Überhöhung der Jugend und Entwertung des Alters als eine Verdrängung der sinkenden Löhne, verschlechterten Arbeitsbedingungen und konstant drohenden Arbeitslosigkeit. In seiner Reportage über Berliner Großbetriebe am Vorabend der Weltwirtschaftskrise, Die Angestellten, schildert er den Terror der rationalisierten Wirtschaft. Diese, so Kracauer, raubt der Arbeit der »Masse der Erwerbstätigen« ihren Sinn – »wenn aber die Menschen den Blick nicht auf ein bedeutsames Ende richten können, dann entgleitet ihnen auch das äußerste Ende, der Tod.« Für Kracauer ist es also die kapitalistische Wirtschaftsweise, die den Menschen das Problem mit dem Altwerden eingebrockt hat, für Houellebecqs Brian ist es der »moderne Nihilismus«.
Die Kulturkritik in Houellebecqs Romanen setzt seit seinen Anfängen in den 1990er Jahren ausdrücklich bei gesellschaftlichen Werten, nicht bei materiellen Problemen an. Seine Bücher, die oft entweder als reaktionär oder als Werk eines Provokateurs eingestuft werden, haben trotzdem die Sympathien vieler linker Systemkritikerinnen und -kritiker eingefahren. Das liegt vor allem daran, dass Houellebecq die Trostlosigkeit des Arbeits- und Soziallebens der Mittelschicht im neoliberalen Frankreich so ausdrücklich anklagt. In seinen frühen Romanen der 1990er Jahre, Ausweitung der Kampfzone und Elementarteilchen, stehen in der Kindheit vernachlässigte, beziehungsunfähige junge Männer für eine insgesamt depressiv-masochistische Generation X ein, die in einer kaum noch gezügelten Marktgesellschaft aufwuchsen. In seinem seiner eigenen Aussage nach letzten Roman wendet der Autor sich jetzt konsequenterweise der Frage zu, wie die gleiche Generation 25 Jahre später mit ihren Alten umgeht. Was das Schema Werteverfall dem handfesten gesellschaftlichen Problem einer Pflegekatastrophe globalen Ausmaßes entgegenhalten kann, ist allerdings fraglich.
Houellebecq äußerte sich während der ersten Covid-Welle im Frühjahr 2020 in einem Essay zum Sterben alter Menschen in der Pandemie: »[N]ie wurde mit einer solchen gelassenen Schamlosigkeit ausgesprochen, dass nicht jedes Leben gleich viel wert ist; dass es von einem gewissen Alter in etwa so ist, als wäre man schon tot.« Zu dieser Zeit deuteten Schreckensnachrichten aus aller Welt darauf hin, dass besonders in Pflegeheimen viele alte Menschen aus durchaus vermeidbaren Gründen starben – unter oft haarsträubenden Bedingungen. Etwa ein Drittel der weltweiten Todesfälle waren Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner, obwohl diese nur 1 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Berichte aus britischen Heimen zeigen, dass während der Pandemie nicht nur mehr Menschen starben als in vergleichbaren Zeiträumen, sondern dass die erhebliche »Übersterblichkeit« auch virusfreie Bewohnerinnen und Bewohner erfasste.
In vielen Ländern erhielten Infizierte in Pflegeheimen keine angemessene medizinische Behandlung, wodurch sie das Virus weiterverbreiteten. In Spanien fanden zu Hilfe gerufene Soldaten zurückgelassene Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner tot in ihren Betten auf. Amnesty International prangerte Menschenrechtsverstöße in Heimen in Großbritannien, Spanien, Italien und Belgien an; aber auch in vielen anderen westlichen Ländern waren Pflegeheime chronisch überfüllt, schlecht ausgestattet und personell unterbesetzt. Es ist eine Katastrophe, von der man sich hilflos abwendet. Auch in nicht-pandemischen Zeiten ist die Altenpflege ein Thema, dass man kaum anrühren kann, ohne das ganze Kartenhaus gegenwärtiger westlicher Gesellschaften ins Wanken zu bringen – sehr guter Stoff für einen Roman also.
Vernichten spielt in der nahen Zukunft; es geht um den Finanzinspektor Paul Raison, einen Franzosen mittleren Alters, dessen Vater Édouard im (pandemie-freien) Jahr 2026 nach einem Gehirnschlag im Pflegeheim landet – in einer Spezialeinheit für »Wachkoma mit minimalen Bewusstseinszuständen«. Die Familie ist zunächst zufrieden mit der Anstalt, doch im Zuge einer Umstrukturierung des Heimes wird der Lebensgefährtin von Édouard, Madeleine, der 24-Stunden-Zugang versagt, weil sie »ohne die entsprechende Ausbildung als Pflegehelferin« fungiert hatte. Gleichzeitig wird der bisher großzügige Personalschlüssel der Spezialeinheit an den niedrigeren nationalen Durchschnitt angepasst. Édouards Gesundheitszustand verschlechtert sich in Folge rapide – bis seine Familie ihn von Brians Aktivistengruppe entführen lässt, um ihn zuhause selbst zu pflegen.
Houellebecq muss einiges hinzudichten, um die Geschichte in diese Richtung zu lenken: Das Problem ergibt sich allein durch Édouards Wachkoma ohne Patientenverfügung – sonst hätte er ganz legal nach Hause gebracht werden können. Zum Zweck der Entführung erfindet Houellebecq besagte Aktivistengruppe, die sich von ihren politischen Motivationen gelöst hat, um jetzt »der Moral im Allgemeinen« zu dienen.
Nach der Entführung lebt der gelähmte Éduard allem Anschein nach »vollauf zufrieden« in seinem Haus auf dem Land mit Madeleine, die ihn liebevoll pflegt. Paul unterstellt den beiden gar ein Sexualleben: »Es war ein schwindelerregender Gedanke. Wenn sein Vater Erektionen haben konnte, wenn er lesen und die sich im Wind wiegenden Blätter betrachten konnte, dann, dachte Paul, fehlte es ihm im Leben an rein gar nichts.« Es geht hier ganz schlicht darum, die Altenpflege innerhalb der Familie als ungetrübtes, utopisches Ideal erstrahlen zu lassen, das durch einen kafkaesken Pflegesektor bedroht ist, der die Alten hinter seinen Mauern verschwinden lässt.
Houellebecqs Interesse für den Schauplatz Pflegeheim an sich ist allerdings überschaubar. Vernachlässigte Bewohnerinnen und Bewohner sowie überforderte Pflegekräfte werden zweimal kurz erwähnt, es gibt einen Seitenhieb auf Gewerkschaften, eine Anspielung auf nationale Sparmaßnahmen, einen Nebensatz über profitgierige private Betreiber und unerreichbare Managerinnen – das wars. Schade eigentlich. Denn überall auf der Welt lässt sich seit Jahren beobachten, dass der Pflegesektor immer weitreichender privatisiert wird und eine Handvoll Konzerne wie etwa das skandalumwitterte französische Unternehmen Orpea, immer mehr Pflegeheime betreiben und dabei oft sowohl staatliche Unterstützung als auch enorme Profite einstreichen. Klar ist auch, dass immer mehr alte Menschen Pflege benötigen, und immer weniger Angehörige – soweit vorhanden – es sich leisten können, sie selber zu pflegen, statt zu arbeiten.
In Alles ist Arbeit beschreiben mein Mitautor und ich wie neue Lebensbereiche von einem immer agileren Kapitalismus nach möglicher Wertschöpfung abgeklopft werden. Das große Geschäft der Altenpflege ist ein perfektes Beispiel dafür: Seit Jahrzehnten stagnieren die Einkommen. Dies zwingt mehr Haushaltsmitglieder zu längerer Lebensarbeit. Die Altenpflege, die von den Angehörigen in Folge nicht mehr zu stemmen ist, wird so zu einer weiteren Profitquelle. Auch Deutschland ist gegen diese Probleme nicht gefeit – inzwischen sind 43 Prozent deutscher Pflegeheime in privater Hand, internationale Großkonzerne wie Orpea sind darunter besonders oft vertreten. Letzterer ist übrigens mit 146 Heimen der viertgrößte Betreiber in Deutschland, und auch hierzulande schon durch Mängel in der Pflege sowie wiederholte Versuche, Betriebsräte zu feuern, negativ aufgefallen.
All dies war jedoch, wie gesagt, nie Houellebecqs Terrain. Sein berüchtigtes Beharren auf dem baldigen Untergang des Abendlandes ist bekanntermaßen der Horizont seiner Geschichten und Essays. So auch in Vernichten: »[F]ür Paul schien es klar, dass das ganze System in einem gewaltigen Kollaps zusammenbrechen würde […]. Er befand sich also in der merkwürdigen Situation, stetig […] am Erhalt eines Gesellschaftssystems zu arbeiten, von dem er wusste, dass es unweigerlich verloren war.«
Mit der wütenden Ohnmacht der depressiv-masochistischen Protagonisten seiner früheren Romane hielt der Autor immerhin die politische Stimmung einer ganzen Generation fest; in Vernichten werden nicht nur die Hauptfiguren, sondern die gesamte Erzählung von Ohnmacht erfasst. Die neue Hinwendung zu Familie und Paarbeziehung, zu Krankheit und Tod ändert daran nichts, ganz im Gegenteil. Die auch in vielen deutschen Rezensionen gefeierte neue Einfühlsamkeit und romantische Zartheit in Houellebecqs Roman ist auf den zweiten Blick von ausdrücklicher sozialer Kälte, denn über die engsten Bezugspersonen hinaus, steht sie für den absoluten Rückzug aus der Gemeinschaft. Die eingeschränkte Existenz des gelähmten Vaters Éduard wird dementsprechend ohne einen Hauch von Ironie zum Idealfall des Lebens stilisiert: Essen, Trinken, Naturbetrachtung, körperliche Nähe und die Pflege durch die eine, ergebene Frau. Houellebecq verpasst dann auch dem 50-jährigen Paul eine Mundkrebsdiagnose im letzten Stadium. Plötzlich nur noch Monate von seinem eigenen Lebensende entfernt, kann sich nun auch Paul aus seiner politischen Beratertätigkeit zurückziehen, um von seiner eigenen hingebungsvollen Ehefrau gepflegt zu werden.
Sogar der separate, politische Erzählstrang scheint hauptsächlich in Erscheinung zu treten, um die Lebens- und Zivilisationsmüdigkeit der Hauptfigur zu untermalen. Das internationale terroristische Netzwerk, dem Pauls Kontakte beim Inlandsgeheimdienst auf der Spur sind, will anscheinend ohne nennenswerte konkrete politische Ziele den besagten »gewaltigen Kollaps des ganzen Systems« befördern: Anschläge auf Containerschiffe gegen den Welthandel, auf militärische Biotechnik-Unternehmen und Silicon-Valley-Investoren gegen die neuen Technologien, auf Samenbänke und – in einem grausamen Finale – auf Migranten gegen die wachsende Weltbevölkerung. Zwar widmet die Erzählung der Aufklärung der Anschläge – dargestellt als das Werk ökofaschistischer Nihilisten, unterstützt von skrupellosen Börsianern – einigen Platz, und Paul ist angewidert von der zynischen Instrumentalisierung des Migrantenmordes durch Politik und Medien. Dennoch zielt all dies am Ende nur auf die Machtlosigkeit des Staates vor technologisierten Bedrohungen: »Die Angriffsmöglichkeiten entwickeln sich viel schneller als die Verteidigungsmöglichkeiten«, die »Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit« ist, wie lustvoll betont wird, auf lange Sicht hoffnungslos.
Vernichten ist also ein Roman über die künstliche Todesbeschleunigung eines Gen X-ers im besten Alter und der westlichen Gesellschaft im Allgemeinen. In einer letzten Ausschweifung narzisstisch androzentrischen Erzählens hat die sportliche Endvierzigerin Prudence ihrem sterbenden Mann Paul nun auch versprochen, bald nach ihm zu sterben. Beide gestehen sich ein lebenslanges Gefühl der Hilflosigkeit ein, wenn sie feststellen: »Ich glaube nicht, dass es in unserer Macht lag, die Dinge zu ändern«.
Von der Kritik als neuer Humanismus verkannt, zieht sich eine Untergangsverliebtheit durch den ganzen Roman, die keinen Hehl um ihre anti-solidarische Richtung macht. Das schreckliche Sterben in Pflegeheimen während der Pandemie erhält vom Chronisten der Generation X am Ende eine literarische Antwort, die in ihrer Selbstbezogenheit fast schon satirisch ist: Pflegeheime sind die Hölle auf Erden, ein Zeichen des kommenden Endes, also rette sich wer kann – und zwar in den Schoß der Liebsten.
Es kann sich aber nicht jeder selbst retten. Möglicherweise hat Kracauer Recht, und der Mangel an erstrebenswerten Zielen innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaft versperrt den Blick auf das Lebensende so sehr, dass die Vernachlässigung der Ältesten erleichtert wird. Umso wichtiger ist es, sich aus dem politischen Wachkoma zu befreien. Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell weist darauf hin, dass Norwegen und das Burgenland das Experiment mit gewinnorientierten Heimen beendet haben, um diese zurück in die öffentliche Verantwortung zu führen. Es geht also auch anders, Untergang des Abendlandes hin oder her.
Dr. Mareile Pfannebecker ist Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in Manchester. Sie schreibt zu sozialen Fragen in Literatur und Kultur von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Sie veröffentlichte zuletzt, mit James A. Smith, Alles ist Arbeit: Mühe und Lust am Ende des Kapitalismus bei Edition Nautilus.