24. August 2022
Heute wäre Howard Zinn 100 Jahre alt geworden. Der Historiker ist berühmt für seine »Geschichte des amerikanischen Volkes«. Was viele nicht wissen: Als Antikriegsaktivist unternahm er selbst Initiativen, Frieden zu stiften.
Howard Zinn und Daniel Berrigan im Februar 1968 in Hanoi.
Ein »seltener Akt im großen Wahnsinn dieses Krieges«, so beschrieb der 45-jährige Historiker Howard Zinn die Entscheidung Nordvietnams, während der sogenannten Tet-Offensive drei amerikanische Piloten freizulassen. Vor einem Raum voller amerikanischer Reporter las Zinn neben dem Jesuitenpater, Dichter und Kriegsgegner Daniel Berrigan aus einem seiner Notizbücher vor und erklärte ihre jüngste Reise nach Hanoi zum Erfolg. Die beiden Kriegsgegner trafen sich im Februar 1968 mit der nordvietnamesischen Regierung und halfen beim Transport der drei Gefangenen zurück in die Vereinigten Staaten.
Der Austausch war weitgehend symbolisch, und dennoch Ausdruck von Zinns radikalem Internationalismus und seiner Opposition zu Kriegen im Ausland. Die erneute Betrachtung seiner provokanten Reisen hinter die feindlichen Linien während des Vietnamkriegs – am heutigen Tag, an dem er hundert Jahre alt geworden wäre – erinnert uns daran, dass Zinn sowohl ein unglaublich produktiver progressiver Historiker als auch ein beharrlicher Kritiker des amerikanischen Imperiums war.
Zinn war einer der wenigen linken Historiker, der bis in die amerikanische Popkultur eindrang. Dennoch ist er vor allem dafür bekannt, Mythen über den europäischen Kolonialismus und die Gründung der Nation aufgedeckt zu haben.
Nachdem er mehr als zwei Millionen Exemplare von A People's History of the United States (dt. Eine Geschichte des amerikanischen Volkes) verkauft hatte, tauchte sein Werk in Film- und Fernsehen auf, wie etwa in Good Will Hunting und den Sopranos. In der Serie hielt der Teenager A.J. Soprano ein Exemplar des Buches in der Hand, während er seinen Eltern erzählte, dass Christoph Kolumbus ein Sklavenhändler war. In jüngerer Zeit liest etwa Timothée Chalamets Figur in Lady Bird Zinn, während er eine Zigarette raucht.
In den letzten Jahrzehnten ist Zinns Werk zu einem Symbol für die Rebellion von Teenagern geworden, zu einer Quelle für junge Menschen, die beginnen, die gängige Geschichtsschreibung zu hinterfragen.
Im Jahr 2020 bezeichnete Donald Trump Zinn und das 1619 Project der New York Times, [Anm. d. Red.: Eine Reihe von Veröffentlichungen, die die Geschichte der Sklaverei in den USA journalistisch aufarbeiten sollte], als »ideologisches Gift«, als er die Einrichtung einer revisionistischen »1776-Kommission« ankündigte. Ob durch Hollywood oder einen republikanischen Präsidenten: Zinns Werk wird vor allem mit den Ursprüngen Amerikas in Verbindung gebracht. Sein Widerstand gegen die US-Außenpolitik, insbesondere während des Vietnamkriegs, ist jedoch weitgehend unbekannt und verdient mehr Aufmerksamkeit.
Die Notizen, die Zinn während seiner ersten Reise nach Hanoi machte, sind jetzt als Teil seines Archivs in der Tamiment Library an der New York University einsehbar. Die Sammlung enthält mehrere andere Notizbücher von ähnlichen Reisen, einschließlich seines zweiten Besuchs in Hanoi im Jahr 1972, während der letzten Monate des amerikanischen Kriegs in Vietnam. Zinn dokumentiert darin seine langen Gespräche mit nordvietnamesischen politischen Führungspersonen und amerikanischen Kriegsgefangenen, wird aber auch Zeuge der Zerstörungen, die die amerikanischen Bombenangriffe angerichtet haben. Die handschriftlichen Notizen zeugen von Zinns radikalem Internationalismus.
Bereits 1968 hatte Zinn sich einen Ruf innerhalb der amerikanischen Linken erworben, weil er das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) [als Teil der der Bürgerrechtsbewegung] unterstützte und 1967 sein Buch über den Vietnamkrieg, Vietnam: The Logic of Withdrawal erschienen war. Während eines Seminars an der Boston University wurde Zinn unterbrochen, als ihm mitgeteilt wurde, dass ein dringender Anruf von David Dellinger, einem der Gründer der Zeitschrift Liberation und Anführer der National Mobilization to End the War in Vietnam [Nationale Kampagne gegen den Krieg in Vietnam] für ihn eingegangen sei.
Dellinger war 1966 nach Hanoi gereist und hatte gerade eine Nachricht von der nordvietnamesischen Regierung erhalten, dass sie beschlossen habe, drei amerikanische Piloten zum [vietnamesischen Neujahrsfest] Tet freizulassen. In dem Telegramm wurde Dellinger gebeten, »einen verantwortlichen Vertreter« nach Hanoi zu schicken, um die drei Gefangenen in die Vereinigten Staaten zurückzubringen. Zinn scherzte später: »Haben Berrigan und ich, beide halb verantwortlich, zusammengenommen das gewünschte Ziel erreicht?«
Berrigan und Zinn trafen sich in New York mit Dellinger und dem SDS-Anführer [Students for a Democratic Society, Anm. d. Red.] Tom Hayden, einem weiteren bekannten Friedensaktivisten, der im Herbst zuvor die Freilassung dreier amerikanischer Piloten mit erwirkt hatte. Der Historiker und der Priester begannen ihre 28-stündige Reise vom Flughafen John F. Kennedy nach Nordvietnam. Die beiden lehnten mehrere Angebote des Außenministeriums ab, ihre Pässe abzustempeln und ihren Besuch damit zu legalisieren.
»Wir wollten keine offizielle Genehmigung für unsere Reise von der Regierung, die wir wegen ihrer Taten in Vietnam vehement ablehnten«, berichtet Zinn in seinen Memoiren.
Während sie in Thailand warteten, fragte ein Reporter Berrigan, ob sie vorhätten, die Nordvietnamesen zur Freilassung weiterer amerikanischer Gefangener zu drängen. »Nein, wir fahren dorthin, um eine Geste der Barmherzigkeit gegen den Krieg zu zeigen, eine symbolische Geste für alle, die auf beiden Seiten leiden, nicht nur für die Amerikaner«, lautete die Antwort.
Nach einer einwöchigen Verzögerung aufgrund der laufenden Tet-Offensive flogen Zinn und Berrigan am 9. Februar 1968 von Vientiane, Laos, nach Hanoi. In seinen Notizbüchern hält Zinn die logistischen Herausforderungen der Reise fest und macht sich Notizen zu ihren Gesprächen mit nordvietnamesischen politischen Anführern, darunter der Premierminister der Demokratischen Republik Vietnam (DRV), Pham Van Dong, und Oberst Ha Van Lau. Der Premierminister ermutigte Zinn, die Behandlung der Gefangenen in Südvietnam mit der Behandlung der amerikanischen Piloten zu vergleichen, und meinte gegenüber den beiden Friedensaktivisten: »Wir denken ähnlich: Patrioten, Demokraten, Revolutionäre«.
Zinn beschrieb ihn als einen Mann von »ozeanischer Ruhe« und notierte, dass der Premierminister ihnen sagte: »Ihr seid amerikanischer als irgendjemand sonst. Wir sind vietnamesischer als irgendjemand sonst«.
Auf einer anderen Seite des Notizbuches ist ein Teil ihrer Diskussion mit Oberst Lau festgehalten: »Die Ehrlichkeit« – Zinn unterstrich das Wort – »der DRV liegt in ihrer Entschlossenheit, die amerikanischen Aggressoren zu bekämpfen!« Nach einigen Tagen relativer Ruhe wurden Zinn und Berrigan in einen Luftschutzkeller gebracht, während US-Bomben auf Hanoi fielen. Zinn, der im Zweiten Weltkrieg Pilot der Luftwaffe war, befand sich nun auf der anderen Seite eines amerikanischen Angriffs.
Berrigan und Zinn trafen schließlich die drei Piloten Major Norris Overly, Captain John Black und Lieutenant Junior Grade David Methany in einer französischen Kolonialvilla, die von den Nordvietnamesen zum Gefängnis umfunktioniert worden war. Die fünf Männer unterhielten sich angeregt und besprachen die Einzelheiten ihres Plans, ohne die Hilfe des US-Militärs nach Hause zurückzukehren. Die Piloten wurden freigelassen, aber die USA fingen sie in Laos ab und steckten sie in ein Militärflugzeug, das sie zurück in die Vereinigten Staaten brachte.
Während er seine Reise mit amerikanischen Reportern besprach, verurteilte Zinn das Vorgehen der US-Regierung: »An dieser Stelle müssen wir leider berichten, dass der ungeschickte und kaltblütige Umgang mit der Freilassung durch die US-Regierung gefährliche Auswirkungen haben wird.« Die Bemühungen der Bewegung um radikale Diplomatie standen im Widerspruch zum Feindbild der Johnson-Regierung. Der Historiker machte später die Unsicherheit der Regierung über ihre PR-Strategie aus: »Es war die Angst vor etwas so Kleinem wie drei aufrechten amerikanischen Fliegern, die etwas sagen, das Washington ein wenig peinlich ist.«
Zinn war überrascht, aber nicht schockiert, als er erfuhr, dass Major Overly berichtete, die Nordvietnamesen hätten ihn gefoltert. Overly erwähnte den Antikriegsaktivisten gegenüber die Folter nie, aber Zinn zweifelte nie an seinen Erzählungen. Andere in der Antikriegsbewegung warnten Zinn vor einer idealisierenden Sichtweise auf die nordvietnamesischen Republik. Der Historiker Martin Duberman schrieb in seiner Biografie Howard Zinn: A Life on the Left, dass »Freunde, sogar einige der Radikalen unter ihnen, ihn vor Sentimentalität warnten und darauf bestanden, dass die Nordvietnamesen ein politisches Motiv für die Freilassung gehabt haben mussten«.
Dennoch trug der Besuch von Zinn und Berrigan in Hanoi dazu bei, die Beziehungen zwischen den amerikanischen Antikriegsaktivisten, Nordvietnam und einer umfassenderen politischen Bewegung zu stärken, die die Johnson-Regierung unter Druck setzte, den Krieg zu beenden.
»LBJ [Lyndon B. Johnson] hat von Hanoi einen substanziellen Beitrag verlangt, um Bereitschaft zu Friedensverhandlungen zu zeigen«, schrieb Zinn in einem seiner Notizbücher. »Hier habt ihr ihn. Worauf in aller Welt wartet er noch?«
Zinn kehrte im Herbst 1972 als Teil einer Delegation von Kriegsgegnern nach Hanoi zurück, die sich mit elf amerikanischen Kriegsgefangenen traf, um später von den Bedingungen ihres Arrests zu berichten und Briefe an ihre Familien zu überbringen. Die von der People's Coalition for Peace and Justice [Koalition für Frieden und Gerechtigkeit] organisierte Gruppe traf am 4. November in Hanoi ein, drei Tage vor den Wahlen 1972. Die Reise fand zu einem Zeitpunkt statt, als die Friedensverhandlungen von Präsident Richard Nixon mit Nordvietnam ins Stocken geraten waren.
Die Reise führte nicht zur Freilassung weiterer Gefangener, aber die Delegation berichtete über die jüngsten amerikanischen Bombardierungen vor Ort. Zinn und der Rest der Gruppe besuchten die ländliche Gemeinde Thuanh Thanh, dreißig Meilen nördlich von Hanoi. Ein amerikanischer Bombenangriff hatte den größten Teil des Dorfes zerstört und 22 Menschen, darunter zwölf Kinder, getötet.
»Wir besuchten das evakuierte Krankenhaus. Viele Verletzte bei Bombenangriff – einige starben – einige überlebten«, schrieb Zinn. »Mehr nächtliche Angriffe in letzter Zeit.«
Weniger als drei Monate später war der amerikanische Krieg in Vietnam offiziell vorbei. Der von Sektierertum geschwächten Antikriegsbewegung war es als Teil einer breiten Koalition dennoch gelungen, im amerikanischen Kongress darauf hinzuwirken, dass die Mittel für die südvietnamesische Regierung 1974 gekürzt wurden. Am 30. April 1975 fiel Saigon an die nordvietnamesische Armee, womit der Krieg beendet war.
Zinns Notizbücher erinnern uns daran, dass die Antikriegsaktivisten Teil einer internationalen Bewegung waren. Sie waren entschlossen, Berichte aus dem Krieg zu verbreiten, um die Regierungen Johnson und Nixon unter Druck zu setzen, diesen zu beenden. Als Zeuge der durch amerikanische Bomben verursachten Zerstörungen und als Teilnehmer an den Gesprächen der Antikriegsbewegung mit der nordvietnamesischen Seite bietet Zinn den Leserinnen und Lesern eine eindrucksvolle Momentaufnahme einer radikalen Diplomatie inmitten eines ungerechten Krieges.
Michael Koncewicz ist Historiker und arbeitet an der New York University.
Michael Koncewicz ist Historiker und arbeitet an der New York University.