ABO
Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

10. September 2025

Massenpolitik fürs Abozeitalter

Es gibt keinen Weg zurück zur Organisationskultur des 20. Jahrhunderts. Die Politik der Sozialen Netzwerke hat sich als Sackgasse erwiesen. Aber vielleicht ist da ein Mittelweg.

»Politik außerhalb von organisierten Parteien, Räten oder auch paramilitärischen Verbänden war unvorstellbar.«

»Politik außerhalb von organisierten Parteien, Räten oder auch paramilitärischen Verbänden war unvorstellbar.«

Illustration: Marie Schwab

Ist die Ära der Hyperpolitik vorbei? Anfang des Jahres behauptete der US-amerikanische Essayist Ross Barkan dies jedenfalls in einem Artikel für die New York Times. Seiner Meinung nach erleben wir im Jahr 2025 das Ende des politischen Aktivismus der 2010er Jahre, als kurzlebige Protestausbrüche nicht in dauerhafte Organisation oder Parteiarbeit mündeten. Für Barkan waren die Großdemonstrationen gegen Trump nach dessen erstem Wahlsieg typisch für Hyperpolitik: Zwar gingen Hunderttausende, wenn nicht Millionen auf die Straße, doch man schaffte es nicht, eine neue Art des zivilgesellschaftlichen Engagements oder eine neue Parteistruktur aufzubauen, die den Widerstand hätte aufrechterhalten können. »Leb wohl, Widerstand«, schrieb Barkan daher im Januar 2025 und fragte: »Wo ist all die Anti-Trump-Energie geblieben?«

Bei der Linken, so scheint es, hat sich diese Energie in eine konstruktivere Richtung gewendet: Ereignisse wie der Sieg von Zohran Mamdani bei den Primaries in New York oder der massive Mitgliederzuwachs bei der deutschen Linkspartei zeigen, dass Protest ohne politische Konsequenzen offenbar nicht mehr angesagt ist.

Wenn dies wirklich der Fall ist, wäre es eine bemerkenswerte Abkehr von früheren Trends. Schließlich sind die Mitgliederzahlen von politischen Parteien und Gewerkschaften in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich gesunken. Wo politische Parteien früher eine breite Basis in der Zivilgesellschaft und zahlreiche Mitglieder hatten, verloren Parteien links wie rechts massiv an Mitgliedern. Während das institutionalisierte Engagement in der Politik also einen Tiefpunkt erreichte, stieg der Aktivismus in anderer Hinsicht spektakulär an, nämlich bei der Teilnahme an Protesten.

Über das gesamte politische Spektrum hinweg erlebte Europa eine chaotische, unkontrollierbare Rückkehr von Protestbewegungen – allerdings in Formen, die mit den Modellen des vergangenen Jahrhunderts nur schwer zu vergleichen sind. Als Kontrast können die 1920er und 1930er Jahre dienen, in denen Kräfte der radikalen Rechten und Linken um die Gestaltung der Weimarer Republik rangen. Politisch aktiv zu sein bedeutete damals, in Institutionen engagiert zu sein: Politik außerhalb von organisierten Parteien, Räten oder auch paramilitärischen Verbänden war unvorstellbar.

Re-Politisierung ohne Re-Institutionalisierung

Wie der Journalist Vincent Bevins zusammenfasst, war das »Jahrzehnt der Proteste« der 2010er Jahre die längste und intensivste Phase von Protestaktionen in der Geschichte der Menschheit. Gleichzeitig wuchs die Zahl der Personen, die an Wahlen teilnahmen, stetig. Die Wahlbeteiligung bei den US-Präsidentschaftswahlen 2020 war zum Beispiel so hoch wie nie zuvor in der Geschichte der Vereinigten Staaten, und sogar bei den EU-Parlamentswahlen gab es einen Anstieg.

Die Gründe dafür sind leicht auszumachen: Einerseits die Finanzkrise von 2008, die die ökonomische Basis der postpolitischen Ära der 1990er Jahre ins Wanken brachte, aber andererseits auch die neuen Mobilisierungsmöglichkeiten des Internets, durch die die Kosten für politische Meinungsäußerung und Mobilisierung drastisch gesunken sind. Die jüngsten Bundestagswahlen in Deutschland haben diese Tendenz verdeutlicht. Die Parteien gaben Rekordsummen für Social Media aus und bauten digitale Basisstrukturen auf, wo sie früher noch lokale Wahlkämpfer und Parteizentralen unterhalten mussten. Heute sind die sozialen Medien für junge wie ältere Menschen Orte der Politisierung.

Das Logo von JACOBIN

Dieser Artikel ist nur mit Abo zugänglich. Logge Dich ein oder bestelle ein Abo.

Du hast ein Abo, aber hast dich noch nicht registriert oder dein Passwort vergessen?
Klicke hier!

Anton Jäger ist Ideenhistoriker und Autor des Buches »Hyperpolitik: Extreme Politisierung ohne politische Folgen« (Suhrkamp 2023).