13. Juni 2021
... aber der Kapitalismus hat ihn unter sich begraben.
Meine Mutter hat ein Faible dafür, mir alte Kinderfotos zu schicken. Und so starrte mich neulich mein sechsjähriges Ich mit Sonnenbrand-gerötetem Gesicht von meinem Handybildschirm an. Meine Füße stecken in matschverkrusteten Total90-Fußballschuhen, stolz trage ich ein Trikot der griechischen Nationalmannschaft. Meine Erinnerung an diesen Moment ist noch heute gestochen scharf. Denn dieser heiße Sommertag im Jahr 2002 war der Tag des WM-Finales zwischen Deutschland und Brasilien. Ich selbst stand damals noch am Anfang meiner großen Fußballkarriere, die beim ATSV Buntentor in Bremen beginnen – und siebzehn Jahre später am selben Ort enden sollte.
Ich liebte es, Fußball zu spielen und zu schauen. Ich liebte es, über den Sport zu sprechen und von ihm zu träumen. In der Schule kritzelte ich keine Hakenkreuze oder Penisse, sondern Wunschaufstellungen mit meinen Lieblingsspielern auf die Tische. Die Sachlage dürfte klar sein: Solange ich mich erinnern kann, bin ich Fußballfan. Und jetzt, zwanzig Jahre nach meinem ikonischen Fotoshooting im Griechenlandtrikot, sollte ich einen Artikel über diesen Sport schreiben. So viel sei verraten: Einfach war das nicht.
Dieser Text hat mehrere Anläufe gebraucht. Ich habe Toni Kroos beleidigt, den DFB verhöhnt und mich über die European Super League und Uli Hoeneß beschwert – aber jedes Mal schien mir das Ergebnis nur eine halbgare Kritik an einem Gegenüber zu sein, für das ich bereits jede Hoffnung verloren habe. Einen bösen Verriss über den Fußball zu schreiben, fiel mir nicht deshalb schwer, weil er nicht die nötige Angriffsfläche bieten würde oder meine Liebe für ihn noch immer zu groß wäre. Was mir Schwierigkeiten bereitete, war vielmehr, dass dieser Sport unter einem Haufen Scheiße begraben liegt, der solche Dimensionen angenommen hat, dass ich nicht mehr weiß, was er eigentlich noch unter sich verbirgt. Und was soll man Scheiße vorwerfen – dass sie stinkt?
Schon damals, als ich in meinen Total90-Nikes über die Bremer Aschebahn sprintete, war der Profifußball ein notdürftig als Mannschaftssport getarnter Spielplatz für den ungezügelten Kapitalismus. Real Madrid versammelte mit Zidane, Beckham, Raul, Ronaldo und Figo Weltstars, die nicht deshalb zusammen kickten, weil sie gute Freunde waren, sondern weil der Chef des Vereins sie mithilfe von Millionen aus der Franco-Diktatur, seinem Baugewerbe und korrupten Deals mit der Regierung in sein Team lockte. Dass sich dieser Trend in Zukunft geradezu überschlagen und mich irgendwann zu einem Gegner des Kapitalismus machen würde, hätte ich damals nicht vermutet. Doch von dem Sport, in den ich mich einst verliebte, ist heute nicht mehr viel zu erkennen.
Die Ticket- und Trikotpreise haben absurde Höhen erklommen, während die nationalen Wettbewerbe so uninteressant geworden sind, dass die europäischen Top-Vereine schon mit dem Gedanken einer eigenen Liga spielen. In der Bundesliga ist der FC Bayern München gerade zum neunten Mal in Folge Meister geworden – abgesehen vom Red-Bull-Franchise-Projekt RB Leipzig stellt auf absehbare Zeit kein Verein eine echte Konkurrenz dar. In England ist es ähnlich, nur dass sich die Großfinanz dort so viele Fußballklubs unter den Nagel gerissen hat, dass der Wettkampf des Geldes schon fast wieder spannend anzusehen ist.
Im kläglichen Versuch mitzuhalten, verkaufen mittelklassige Vereine ihr Tafelsilber. Das sind entweder die Lieblingsspieler der Fans oder die Namen der Stadien. So steht in Bremen, wenige hundert Meter von der Sportanlage meines alten Klubs entfernt, mittlerweile das Wohninvest Weserstadion. Ein durchschnittliches Ticket für den Stadionbesuch kostet mittlerweile 50 Euro, Tendenz steigend. Die TV-Angebote sind kaum günstiger. Da die Spiele auf verschiedene Bezahlsender verteilt wurden, muss sich der geneigte Fan mittlerweile mit bis zu drei Abos rumschlagen.
Für Pfleger, Putzkräfte, freie Journalistinnen oder andere arbeitende Menschen ist das Mitfiebern zur Luxusware geworden. Unterdessen versuchen große Fußballverbände wie der DFB ihre Hände in Unschuld zu waschen, indem sie Schriftzüge wie »Human Rights« auf ihre Trikots drucken – offenbar um uns weiszumachen, sie würden auf eine bessere Welt hinarbeiten. In England – dem Mutterland des Fußballs – wird der Sport traditionell »The People’s Game« genannt. Doch diesen Titel hat er sich verspielt. Ich habe genügend Spiele geschaut, Foren durchgelesen und Gespräche über den Sport geführt, um zu wissen, dass ich nicht der einzige Fan bin, den diese Zustände wütend machen. Im Gegenteil: praktisch jeder Fußballfan teilt meine Kritik. Wenn ich am Samstag um halb vier – pünktlich zum Anstoß – in eingefleischten Kneipenrunden sitze und der versammelten Belegschaft zuhöre, wie sie sich über die Entwicklungen im Fußballgeschäft beschwert, dann klingt es, als würde ein Haufen Sozialisten vor der Leinwand sitzen und den Kickern zuschauen.
Wir alle wünschen uns einen Fußball zurück, der etwas mehr so ist wie wir. Einen Fußball, den wir uns leisten können. Einen Fußball, der hart ist, aber fair. Einen Fußball, der nicht von Milliarden, sondern von Atmosphäre und sportlichem Wettkampf getragen wird. Von Arbeit auf dem Platz! Fast jeder Fan wird mir zustimmen, wenn ich sage, dass der Kapitalismus den Sport zerstört, den wir lieben. Aber kaum einer wird sich mir anschließen, wenn ich dazu aufrufe, die Geschäftsführungen unserer Vereine zu enteignen. Denn ein Satz hallt unter Fußballfans noch immer durch die Reihen: »Politik gehört nicht ins Stadion.«
Mein sechsjähriges Ich hat sich in den Fußball verliebt, ohne etwas von Politik zu verstehen. Zwanzig Jahre später tut diese Liebe weh, denn ich weiß jetzt: Politik ist nicht nur im Stadion – sie ist das Stadion. Die Mächtigen haben uns den Fußball genommen, um daran Milliarden zu verdienen. Und sie werden ihn uns nicht kampflos zurückgeben.