21. September 2022
Die soziale Frage ist zurück. Und die Linkspartei liefert sich einen offenen Richtungsstreit. Ein Gespräch mit den Parteivorsitzenden Martin Schirdewan und Janine Wissler.
Martin Schirdewan und Janine Wissler auf dem Erfurter Parteitag, 25. Juni 2022.
Foto: Martin Heinlein, CC BY 2.0In den vergangenen Wochen hat sich durch die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise ein mächtiges Vakuum für sozialen Protest gegen die Entlastungspakete der Bundesregierung aufgetan. Die Partei DIE LINKE hat zu einem »heißen Herbst« aufgerufen, verstrickt sich aber selbst immer wieder in einen Richtungsstreit zwischen Partei, Fraktion und unterschiedlichen politisch-strategischen Ansätzen.
Im JACOBIN-Interview sprechen Alexander Brentler und Ines Schwerdtner mit den beiden im Juni gewählten Parteivorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan über die Widersprüche in der Außen- und Klimapolitik, die die ganze Partei durchziehen, und die Rolle der Partei bei den Sozialprotesten.
Die Frage nach dem Umgang mit Nord Stream II, aber auch mit Sahra Wagenknecht, spitzt sich offensichtlich zu. Wenn im nächsten Jahr die Europawahl ansteht, wird es dann noch eine Fraktion der LINKEN in dieser Form geben?
Martin Schirdewan: Dass es die LINKE noch geben wird, davon bin ich überzeugt. Auch dass es uns in guter und politisch schlagkräftiger Verfassung geben wird. Es gibt seit dem Parteitag insgesamt eine positive Entwicklung. Die Motivation und die Bereitschaft, Politik und Protest auf die Straße zu tragen, ist wieder da. Und wir haben jetzt eine gemeinsame Verantwortung.
Die Fragen des Krieges und der Preisentwicklung werden uns noch lange beschäftigen. Und ich finde, wir haben gute Konzepte, mit denen wir in diese politische Debatte gehen. Wir haben klare sozialpolitische Forderungen aufgestellt und sollten uns nicht in Geopolitik verheddern.
Aber wenn es zu einer Abspaltung kommt, würde sich der Prozess in der Fraktion über Monate, gar Jahre hinziehen. Das wäre eine massive Schwächung, bei der am Ende eine parlamentarische Gruppe übrig bleibt. Wie lässt sich das jetzt noch verhindern?
MS: Eine starke und gemeinsam agierende Fraktion ist zunächst Aufgabe der Fraktion selbst. Als Parteivorsitzender sehe ich nicht, dass sich DIE LINKE gerade in zwei Lager aufspaltet. Es gibt einzelne, die mit demokratischen Beschlüssen unseres Parteitages hadern, das bedauere ich.
»Wir wollen eine Krisenlösung, die auch die Eigentumsfrage stellt.«
Allerdings fahre ich gerade im Zuge der Protestaktionen zum »heißen Herbst« und im niedersächsischen Wahlkampf durch viele Kreis- und Ortsverbände und sehe eine große Motivation. Das sind die unersetzbaren Menschen in der Partei, sie sind das Herzstück. Und um die möchte ich kämpfen.
Die soziale Frage ist zurück, doch die LINKE stagniert bei 5 Prozent. Wie kann das sein?
MS: Die Ausgangslage war für weite Teile der Bevölkerung schon vor der Explosion der Lebenshaltungskosten dramatisch. Aber durch die Preissteigerung in vielen Bereichen, also bei Lebensmitteln, Energie, aber auch Mieten und so weiter, sehen wir einer Situation entgegen, in der politisch massiv gegengesteuert werden muss, damit breite Teile der Bevölkerung, insbesondere Menschen mit geringeren mittleren Einkommen, nicht verarmen.
Wir sind als Partei entschlossen, diesen politischen Druck aufzubauen. Und deswegen haben wir zu einem »heißen Herbst« aufgerufen, um den sozialen Protest auf die Straße zu bringen. Die ersten Veranstaltungen waren sehr ermutigend. Das ist kein Projekt zur Selbsthilfe für die LINKE, sondern eine gesellschaftliche Bewegung, die die Frage der sozialen Gerechtigkeit, des sozialen Zusammenhalts und die Beteiligung der wirtschaftlich Mächtigen an der Krisenbewältigung ins Zentrum der Debatte stellen will.
Aber wenn die LINKE davon profitiert, wird es Euch auch nicht stören. Es ist ja auch eine historische Chance, auch wenn die Bedingungen so dramatisch sind.
Janine Wissler: Ich sehe vor allem eine große Verantwortung für uns als LINKE. Die aktuelle Situation enthält viel sozialen Sprengstoff, viele Menschen drohen zu verarmen. Ich sehe es zum einen als unsere Aufgabe, jetzt für reale soziale Verbesserungen zu kämpfen und zum anderen die Energiewende voranzubringen. Wir wollen eine Krisenlösung, die auch die Eigentumsfrage stellt. Das gilt für den Energiebereich und auch andere Bereiche der Daseinsvorsorge, die in öffentliche Hand gehören. Und da haben wir eine große Verantwortung, weil wir die einzige Opposition links der Ampel sind.
Was kritisiert Ihr am Entlastungspaket und welche Forderungen müssten jetzt direkt umgesetzt werden?
JW: Die Regierung hat eine grobe Ungerechtigkeit beseitigt, nämlich, dass die Rentnerinnen und Rentner und Studierenden bisher leer ausgingen. Das zeigt, dass gesellschaftlicher Druck wirkt. Aber die Einmalzahlungen werden natürlich verpuffen. Damit kommen die Leute nicht über den Winter, wenn die Gaspreise sich verdreifachen. Hinzu kommt, dass das 9-Euro-Ticket nun ausgelaufen ist. Wenn dann die Lebensmittelpreise teilweise um 40 Prozent bis 50 Prozent steigen, sind diese einmaligen Hilfen nicht nachhaltig. Deswegen fordern wir monatliche Zahlungen, ein Inflationsgeld von 125 Euro pro Person plus 50 Euro für jede weitere Person im Haushalt für kleine und mittlere Einkommen.
»Den Gaspreis zu deckeln scheint für diese Bundesregierung ein absolutes Tabu zu sein.«
Das Wohngeld auszuweiten ist gut, aber besser und wirkungsvoller wäre ein bundesweiter Mietendeckel. Eine richtige Schweinerei ist, dass Grundsicherungsempfänger jetzt erst mal gar nichts bekommen, sondern die Regelsatzerhöhung von 50 Euro erst im nächsten Jahr kommt. Und diese Erhöhung reicht zudem überhaupt nicht aus.
MS: Den Gaspreis zu deckeln scheint für diese Bundesregierung ein absolutes Tabu zu sein. Dabei ist Gas gerade der Preistreiber Nummer eins. Stattdessen halten sie an der Gasumlage fest, die offensichtlich mit heißer Nadel und unter Anleitung der Energiekonzerne gestrickt worden ist.
Zudem fordern wir eine echte Übergewinnsteuer: Nach Zahlen des Netzwerks Steuergerechtigkeit haben die großen Mineralölkonzerne in Deutschland im Jahr 2022 60 Milliarden Euro Gewinn erwirtschaftet. Die werden von der geplanten Abschöpfung der Zufallsgewinne unberührt bleiben, weil sie erst zukünftig greifen soll. Die großen Gewinner dieser Krise werden nicht zur Verantwortung gezogen und an den Krisenkosten beteiligt.
Und diese Haltung zieht sich ja durch alle Politikfelder: Die Finanz- und Steuerpolitik dieser Bundesregierung bleibt in den alten Dogmen der Sparpolitik verhaftet. Die Schuldenbremse wird nicht ausgesetzt, sodass nicht nachhaltig investiert werden kann, um sich von der fossilen Abhängigkeit zu befreien.
Eine Eurer Forderungen ist, dass Lebensmittel bezahlbar bleiben sollen. Was stellt Ihr Euch das konkret vor? Soll es hier ebenfalls einen Preisdeckel geben?
MS: Wir diskutieren, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen. Die Bundestagsfraktion hat vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel zu senken. Es gibt aber auch Modelle, um die Preise auf Grundnahrungsmittel zu deckeln. Die schauen wir uns jetzt genauer an. Es geht aber auch darum, eine flächendeckende Versorgung in Kindergärten und Schulen mit kostenlosen Mahlzeiten zu gewährleisten.
Müsste zur Umsetzung dieser Maßnahmen die Schuldenbremse auch nächstes Jahr ausgesetzt werden oder sollen sie vollständig durch eine Übergewinnsteuer gegenfinanziert werden?
JW: Man könnte sehr viele dieser Maßnahmen tatsächlich durch die Übergewinnsteuer finanzieren. Wir sprechen hier von 30 bis 100 Milliarden Euro an möglichen Einnahmen. Was die Schuldenbremse angeht, ist mir wichtig, deutlich zu machen, dass wir dauerhafte, konsumtive Aufgaben grundsätzlich nicht durch Kredite finanzieren wollen, sondern durch höhere Einnahmen und eine gerechte Steuerpolitik. Anders verhält es sich bei Investitionen.
»Das Problem an den bisherigen Entlastungspaketen war nicht nur der Umfang, sondern die Verteilung.«
Deswegen sind wir natürlich unbedingt dafür, dass die Schuldenbremse nicht nur ausgesetzt bleibt, sondern abgeschafft wird. Das Hauptproblem ist, dass es für Investitionen keine Ausnahmen gibt, dabei sind die Herausforderungen ja riesig: sozialökologischer Umbau, Klimaschutz, Ausbau des ÖPNV, Investitionen in Krankenhäuser, marode Schulen und so weiter.
Darüber hinaus ist uns aber auch der Aspekt der Umverteilung wichtig. Durch eine Übergewinnsteuer könnten wir die unfassbar hohen Profite, die derzeit im Energiesektor erzielt werden, der Gesellschaft zurückgeben. Zudem ist die Wiedererhebung der Vermögenssteuer nötig.
Das Problem an den bisherigen Entlastungspaketen war aber nicht nur der Umfang, sondern die Verteilung. Durch Änderungen bei der kalten Progression profitieren auch Leute, die Hilfe nicht so dringend nötig haben, weil sie hohe Einkommen beziehen.
Noch mal zurück zu den Protesten. Martin hatte ja gesagt, dass man da breite Bündnisse eingeht. Wo sind beispielsweise die Gewerkschaften als Partner?
MS: Das unterscheidet sich regional sehr stark. Es gibt regionale Bündnisse, etwa in Thüringen, wo Gewerkschaften eine zentrale Rolle spielen. In Leipzig war es auch ganz wichtig, dass die antifaschistische Szene mitmobilisiert und den antifaschistischen Charakter der Proteste unterstrichen hat. Klar ist, dass die Krise auch mit der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu tun hat, weshalb die Klimabewegung nicht außen vor bleiben darf. Aber auch die Mieterinnenbewegung muss mit an Bord sein.
Überall dort läuft im Moment eine breite Mobilisierung, vor allem an der Basis. Ich bin optimistisch, dass es in der zweiten Hälfte des Herbstes auch zu breiten Bündnissen kommen wird.
Kann die Linkspartei solche Proteste anführen oder versteht Ihr Euch als Teil von Bündnissen?
JW: Wir sind ganz klar ein Teil davon, die Proteste müssen deutlich breiter sein. Als Partei haben wir gerade eine Kampagne vorgestellt mit der Überschrift »Menschen entlasten, Preise deckeln, Übergewinne besteuern«.
Ich muss in letzter Zeit oft an die Montagsdemonstrationen von 2004 denken. Damals gab es auch eine Debatte darum, dass anfangs auch Rechte dabei waren. Aber die linken Kräfte haben um die Proteste gekämpft und darum, dass die Nazis rausgedrängt wurden. Wenn sich damals die linken Kräfte zurückgezogen hätten und gesagt hätten, wir machen nicht mehr mit, weil hier auch vereinzelt Nazis mitlaufen wollen, dann wäre 2007 vielleicht »Die Rechte« gegründet worden und nicht DIE LINKE.
Im Herbst stehen ja auch Tarifrunden an, und wie ein Zusammenspiel zwischen Sozialprotesten und Arbeitskämpfen aussehen kann, sehen wir gerade in Großbritannien, wo sich mit »Enough is Enough« eine sehr interessante Bewegung formiert. Das finde ich sehr inspirierend.
Trotzdem ist es so, dass mittlerweile nur noch 6,6 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder DIE LINKE wählen. War es vielleicht zu spät, erst nach der Wahl zum Beispiel einen Gewerkschaftsrat zu gründen?
MS: Der Parteitag hat mit dem neuen Parteivorstand ein sehr klares Signal der Verbundenheit mit den Gewerkschaften gesetzt. Natürlich verstehen wir uns als eine Partei, die Politik für die arbeitende Klasse macht. Und dass wir in den Gewerkschaften Verbündete im sozialen und politischen Kampf sehen, das ist auch klar. Von daher braucht es da manchmal noch ein bisschen mehr Austausch, ein bisschen mehr Überzeugungskraft, ein bisschen mehr Initiative, um Distanz zu überwinden.
Reichen hier kleine Kurskorrekturen? 6,6 Prozent kann man nicht als Erfolg verbuchen.
JW: Das ist natürlich ein riesiges Problem. Wenn ich mich an die Gründung der Partei zurück erinnere, dann war eine der wichtigsten Entwicklungen, dass auch relevante Teile aus Gewerkschaften gesagt haben: »Wir starten jetzt ein neues politisches Projekt.« Es ist gut, dass wir vor kurzem einen Gewerkschaftsrat gegründet haben, aber das reicht natürlich nicht. Wichtig ist vor allem, dass wir bei Gewerkschaftskämpfen vor Ort präsent sind.
Für uns muss klar sein, dass Gewerkschaften ganz besondere, strategisch wichtige Bündnispartner sind. Unsere Pflegekampagne im Krankenhausbereich hat sehr geholfen, Verbindungen zu knüpfen. Natürlich haben diese Ergebnisse auch viel mit unserem eigenen Auftreten zu tun, aber auch damit, dass etwa durch den Mindestlohn eine Wiederannäherung zwischen SPD und Gewerkschaften stattgefunden hat. Das war zu Zeiten der Agenda 2010 völlig anders.
Bei der Klima- und Energiepolitik gab es in letzter Zeit immer wieder Unstimmigkeiten innerhalb der Partei, die auch in die Medien getragen wurden. Als Ralph Lenkert kürzlich seine Aufgaben als klima- und energiepolitischer Sprecher der Fraktion abgegeben hat, sagte er dazu: »Ich habe es nicht vermocht, Fraktionsvorstand und Teile der Fraktion mitzunehmen.« Gibt es noch einen internen Konsens bei Euch, wofür die Partei klima- und energiepolitisch eigentlich steht?
JW: Er schreibt in dieser Erklärung ja auch, dass er mit dem Parteivorstand sehr gut zusammengearbeitet hat. Wir haben klare Beschlüsse auf dem Parteitag getroffen. Wir haben einen Antrag zum sozial-ökologischen Umbau eingebracht, wo sehr viele Punkte drinstehen. Aber auch unser Bundestagswahlprogramm war klimapolitisch sehr stark und ich bedauere natürlich, dass Ralph seine Sprecherfunktion niedergelegt hat. Er hat eine großartige Arbeit gemacht.
Ihr verweist darauf, dass Euer Wahlprogramm als einziges mit den Zielen des Pariser Abkommens kompatibel war. Trotzdem muss man an dieser Stelle doch sagen: Wenn es fachlich so hervorragend ist und alle sozialen Konflikte bereits mitbedenkt, warum ist davon noch nicht mal die eigene Fraktion durchgängig überzeugt?
JW: Dass Energiekonzerne in die öffentliche Hand gehören, dass die Energiewende vorangebracht werden muss, dass der ÖPNV ausgebaut werden muss, da sind wir uns alle einig. Wenn man zehn Sekunden hat, der Tagesschau was in die Kamera zu sagen, dann kann man in den zehn Sekunden sagen: »Wir dürfen nicht grüner werden als die Grünen.« Ich fand diesen Spruch schon immer beknackt. Alternativ dazu könnte man auch sagen: »Für uns gehen Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit Hand in Hand.« Es geht darum zu erklären, was wir wollen und was wir fordern.
Die Klimafrage ist auch eine soziale Frage, eine Klassenfrage – auch im globalen Maßstab. Aber natürlich sind Klassenaspekte auch hierzulande entscheidend, es geht um Macht, um Einfluss, um die Interessen von Konzernen versus Gemeinwohl. Und dann gibt es mit Fridays for Future eine Bewegung mit der Forderung: »System Change not Climate Change«. Das ist doch super! Als antikapitalistische Partei sind wir der natürliche Bündnispartner für eine Bewegung, die einen Systemwechsel will, auch wenn man an der einen oder anderen Stelle mal verschiedene Positionen hat.
MS: Ich finde die Betonung des Klassenkonflikts in der Klimafrage wichtig. Nicht nur zwischen dem Norden und dem Globalen Süden, auch in unseren Gesellschaften hinterlassen die Reichen den viel größeren ökologischen Fußabdruck: Den obszönen Luxuskonsum der Oberschicht zu beenden, gehört auch zu einer nachhaltigen Klimaschutzpolitik.
Die Sorge sozialer Bewegungen, von Parteien vereinnahmt zu werden, ist das eine. Aber gibt es vielleicht auch gewisse Gefahren, die dadurch entstehen, wenn man sich als Partei zu eng an soziale Bewegungen kettet? Ist ein potenzielles Problem an dem Konzept »Bewegungspartei«, dass man nicht mehr in der Lage ist, inhaltlich zu integrieren und Konsens zu schaffen? Dass einem also inhaltliche Positionen zugeschrieben werden, die man gar nicht offiziell teilt? Muss man sich letztendlich entscheiden, ob man Aktivisten- oder Arbeiterpartei sein will?
JW: Diese Gefahr sehe ich nicht. Ich denke, ein reales Risiko besteht darin, dass sich Parteien von Wirtschaftsverbänden, Lobbyisten und Konzernen vereinnahmen lassen, aber sicher nicht von sozialen Bewegungen. Die Unterscheidung zwischen Arbeiterpartei und Aktivistenpartei ergibt für mich nicht so richtig Sinn. Es gibt so viele Beschäftigte, die sich für den Klimaschutz, gegen Rassismus und für soziale Gerechtigkeit engagieren, und viele Aktivistinnen, die Beschäftigte sind und einem Job nachgehen, die meisten sogar. Es wird doch viel spannender, wenn verschiedene Anliegen und Kämpfe zusammentreffen, etwa wenn Busfahrerinnen mit den Fridays-for-Future-Aktivisten gemeinsame Interessen finden.
»Solange die Gewerkschaftsspitzen eher an der Konzertierten Aktion arbeiten, als den berechtigten Protest auf die Straße zu tragen, bleibt unser Verhältnis zu ihnen zumindest ein widersprüchliches.«
MS: Ich denke auch, dass Bewegungen anderen Organisationsdynamiken und -logiken folgen als Parteien. Eine Partei wie die unsere, die zum Beispiel in Thüringen auch den Ministerpräsidenten stellt, hat einen anderen Anspruch an Politikgestaltung als eine Bewegung, die sich in der Regel um ein Thema dreht. Aber dass dieses Thema natürlich in unserer Politikgestaltung als Partei eine große Rolle spielen und auch zu einer zentralen Frage werden kann, wie zum Beispiel die Mietenfrage, der Klimaschutz oder die Bewahrung des Friedens, bleibt davon ja unbenommen. Daraus ergeben sich dann natürlich sowohl politische Zusammenarbeit als auch personelle Überschneidungen. Gleichzeitig ist aber mein Anspruch oder unser Anspruch als Partei, die viele Themenbereichen gerecht werden muss, ein anderer. Aber einer klugen gemeinsamen Politikentwicklung mit Bewegungen steht das nicht entgegen.
Man muss ja sagen, dass die Spaltungslinien bei Fragen der Klimapolitik und der Friedenspolitik nicht nur die Partei DIE LINKE durchziehen, sondern die ganze gesellschaftliche Linke und jetzt auch die Proteste. Ist es nicht eine Vorentscheidung für ein bestimmtes Milieu, sich derart auf die sozial-ökologische Frage zu konzentrieren?
MS: Ich will das noch einmal unterstreichen: Wir machen Politik für die arbeitende Klasse. Aber solange auch die Gewerkschaftsspitzen – und diese Kritik muss hier erlaubt sein – eher an der Konzertierten Aktion mit Olaf Scholz und Christian Lindner arbeiten, als den berechtigten Protest auf die Straße zu tragen und im Herbst zur sozialen Frage zu mobilisieren, bleibt unser Verhältnis zu ihnen zumindest ein widersprüchliches.
Gleichzeitig glaube ich, dass wir als Partei auch Raum schaffen müssen, uns für viele verschiedene Milieus zu öffnen. Und das passiert auch. Es ist eben so, dass Leute, deren politischer Schwerpunkt auf der Klimafrage liegt, bei uns Mitglied sind, ebenso wie gewerkschaftlich Organisierte. Und es ist auch gut, wenn man diese Menschen in einen konstruktiven Dialog bringt, um dann gemeinsam an sozialökologischen Konzepten zu arbeiten. Die Proteste können da auch Brücken schlagen.
Dass der Parteitag, also das höchste Gremium der Partei, mit klaren Mehrheiten strategische Entscheidungen vorgenommen hat, ist kein Geheimnis. Die Partei trifft gelegentlich Grundsatzentscheidungen darüber, in welche Richtung sie sich entwickeln möchte – politisch, aber auch organisatorisch. Die Widersprüche, die auf der Straße existieren, spiegeln sich gleichzeitig natürlich auch in unserer Partei.
Der Protest der Straße muss im »heißen Herbst« natürlich vielfältig und vielstimmig vorgetragen werden. Er muss aber eine eindeutige Abgrenzung nach rechts geben. Und ich finde auch, dass der Protest in der Abgrenzung gegen Putins Propaganda eindeutig sein muss. Man kann natürlich die Frage nach Sanktionen stellen, weil die Gesellschaft darüber diskutiert. Auch hier ist die Frage, wie man darüber diskutiert und welche Antworten man gibt. Aber ich finde nicht, dass man sich der Erpressung Putins einfach so unterwerfen darf. Trotzdem wird natürlich auch ein Teil der Proteste eine solche Färbung haben. In dieser Situation ist das dann für mich okay, wenn das alles im demokratischen Rahmen bleibt und man keine gemeinsame Sache mit Rechten macht. So etwas muss eine Protestbewegung aushalten, miteinander klären und solidarisch diskutieren. Vor dieser Aufgabe stehen wir permanent.
JW: Ich würde sehr davor warnen, dass wir als LINKE ein instrumentelles Verhältnis zu Bewegungen entwickeln. Wenn es eine Bewegung gibt, die für sinnvolle Dinge protestiert, sollte man nicht als erstes die Frage stellen: Wählen die uns auch? Was haben wir am Ende davon? Oder wählen die am Ende doch eher die Grünen?
Ich komme aus einem Landesverband, in Hessen, der sehr stark gewerkschaftlich orientiert ist. Viele Mitglieder sind in Gewerkschaften, wir sind da vergleichsweise gut verankert. Aber gleichzeitig haben wir auch eine Verbindung zu den Umweltbewegungen. Die Bewegung gegen die Startbahn West hat viele unserer Mitglieder der LINKEN damals in den 1980ern geprägt. Von ihnen, die Jahrzehnte in der Umweltbewegung aktiv waren, engagieren sich einige bei uns in der Partei.
Ich würde nach mehreren Jahren der Politik Eurer Vorgänger trotzdem sagen: Das Konzept der »Partei in Bewegung« ist gescheitert, weil man nicht mehr genau sagen kann, wofür die LINKE eigentlich steht.
JW: Die LINKE war von Beginn an Teil politischer Bewegung, wenn wir uns an die Proteste gegen Hartz IV erinnern. Daraus ist DIE LINKE entstanden. Ein konkretes aktuelles Beispiel ist die Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen, das war doch das Erfolgreichste, was die gesellschaftliche Linke in den letzten Jahren geschafft hat. DIE LINKE ist Bestandteil verschiedener Bewegungen gewesen, wie Dresden Nazifrei oder der Friedensbewegung oder vielen anderen lokalen Bewegungen.
Deutsche Wohnen & Co enteignen ist aber das perfekte Beispiel dafür, dass es eine Arbeitsteilung zwischen Partei und Bewegung geben muss. Natürlich wurden viele Unterschriften gesammelt, aber die Umsetzung hakt jetzt im Parlament. Und dafür brauchen wir eine starke sozialistische Partei.
JW: Ja, unbedingt. Die breite Mehrheit war ein Erfolg, aber jetzt muss der Entscheid natürlich von der Regierung umgesetzt werden.
In letzter Zeit gab es vor allem zwei Themen, zu denen man sehr verschiedene Dinge von Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitikern der LINKEN in den Medien gehört hat: Erstens die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine und zweitens die Sinnhaftigkeit der Sanktionen gegenüber Russland, woran sich die Frage nach der Öffnung von Nord Stream II anschließt. Warum ist es auch hier nicht gelungen, sich inhaltlich abzustimmen und eine gemeinsame Position zu finden?
MS: Es gibt, was Waffenlieferung und Nord Stream II betrifft, eine klare Mehrheitsmeinung. Wir haben uns das auch nicht leicht gemacht. Aber die Mehrheit der Partei ist der Ansicht, dass es ein Primat für friedliche Konfliktlösungsmittel geben muss und gleichzeitig wirtschaftlichen Druck gegen Putin. Das halte ich für richtig.
»Ich halte die Forderung nach der Öffnung von Nord Stream II angesichts des Angriffskrieges politisch für falsch.«
Putin trägt die Verantwortung für diesen Krieg, und er muss dementsprechend politisch, aber auch wirtschaftlich unter Druck gesetzt werden. Parallel sollte es dazu diplomatische Initiativen geben. Wir unterstützen die Ukraine zum Beispiel humanitär und auch durch unsere Forderung nach einem Schuldenschnitt. Aber in der Frage der Waffenlieferungen sind wir nach gründlicher politischer Diskussion, nicht nur auf dem Parteitag, sondern auch in den Gremien und in der gesamten Partei, zu der Entscheidung gekommen, dass wir bei unserer friedenspolitisch motivierten, ablehnenden Position bleiben. Es gibt einzelne, die eine andere Position vertreten. Auch für sie gibt es gute Gründe. Nach Abwägung des Für und Wider hat sich die Partei insgesamt aber klar entschieden.
Auch was die Sanktionen betrifft, haben wir intensiv diskutiert. Wir befürworten gezielte Sanktionen gegen Putin und seine Oligarchenclique, um seinen Machtapparat zu erschüttern und zu einem Einlenken beizutragen. Wir befürworten natürlich auch die Sanktionen gegen das russische Militär und den Export von Rüstungsgütern und Dual-Use-Technologien, also militärisch nutzbaren Gütern. Es ist zudem grundsätzlich richtig, sich von fossilen Energieträgern, nicht nur aus Russland, sondern insgesamt unabhängig zu machen. Die Öffnung von Nord Stream II hat der Parteitag eindeutig abgelehnt.
Ich halte die Forderung nach der Öffnung von Nord Stream II angesichts des Angriffskrieges auch politisch für falsch. Sowohl unter ökologischen Gesichtspunkten wie vor dem Hintergrund einer damit verbundenen Unterwerfungsgeste gegenüber Putin und seiner Erpressung. Man braucht die zusätzliche Infrastruktur nicht, um die Gasversorgung aus Russland sicherzustellen. Das Gas könnte einfach wieder fließen, aber Gazprom macht das nicht, auf Anweisung der russischen Regierung. Deshalb ist die Kontroverse zu Nord Stream II eine Scheindebatte.
Martin Schirdewan ist Ko-Vorsitzender der Fraktion THE LEFT im Europäischen Parlament und Ko-Vorsitzender der Partei DIE LINKE.