02. Oktober 2024
Identitäre Linke und ihre rechten Kritiker tragen ihre Kämpfe auf dem Rücken des Liberalismus aus. Dieser könnte seine neue politische Heimat im sozialistischen Lager finden.
»Jetzt bin ich definitiv ein Nazi, lol.« Ohne Kontext könnte man die Aussage der britischen Philosophin und Anti-Transgender-Feministin Nina Power (Die eindimensionale Frau) leicht für einen missglückten Scherz halten. Mit Kontext ist diese Annahme leider nur schwer aufrechtzuerhalten. Vor kurzem gelangten im Zuge eines Gerichtsprozesses in Großbritannien die Chatprotokolle und der sonstige Austausch auf Social Media zwischen Power und dem rechten Aktivisten und Künstler Daniel »DC« Miller an die Öffentlichkeit. Power war bis zu den Enthüllungen Redakteurin bei der US-Zeitschrift Compact, wo regelmäßig »anti-woke« Linke schreiben. Als solche hatte sich Power bis dato auch in der Öffentlichkeit dargestellt.
Bemerkenswert am Dialog zwischen Power und Miller sowie anderen Rechtsradikalen ist, wie sich die durchaus scharfsinnige Denkerin in eine paranoide Assoziationskette hineinsteigert. Mit dem glühenden Eifer einer Konvertitin saugt sie jede noch so absurde Verschwörungstheorie begierig auf. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Power an einer Art politischem Verfolgungswahn leidet. Alles ist mit allem verbunden. Jahrhundertealte antisemitische Denkmuster treffen auf wilde Improvisation: Auf die geplante Pandemie folgt die planvolle massenhafte Geschlechtsumwandlung der Gesellschaft, zugleich aber auch die Islamisierung des Abendlandes. Und vielleicht haben die Juden ja doch eine Menge Einfluss – mehr, als man gemeinhin denkt.
Dem linksliberalen Konsens, gegen den sie anwütet, schreibt Power dabei eine Allmacht und Omnipräsenz zu, die sich in der Realität nicht wiederfinden lässt. In Powers Heimat Großbritannien sind sowohl die oppositionellen Tories als auch Kier Starmers Labour dafür, Hormonbehandlungen von Minderjährigen zu verbieten. Was auch immer Power um den Verstand gebracht hat, die absolute Marginalität ihrer politischen Positionen kann es nicht gewesen sein.
In ihrer privaten Korrespondenz situiert Power den »woken« Zeitgeist auch nicht im historischen Kontext. Er tritt nicht als klar identifizierbares ideengeschichtliches Phänomen in Erscheinung, sondern als eine Art obskure gedankliche Versuchung des Kollektivs – ein politischer Dämon. Power ist hier keine Ausnahme. Die Rechte hatte schon immer die Tendenz, den politischen Gegner als Verschwörung und Perversion der natürlichen Ordnung darzustellen.
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Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.