15. September 2020
Hans-Jürgen Urban ist Sozialwissenschaftler und geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, der größten Einzelgewerkschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund und vielleicht mächtigsten Gewerkschaft der Welt. Er plädiert dafür, Klimabewegung und Klassenkampf nicht gegeneinander auszuspielen.
Am Anfang der Corona-Krise haben viele Linke gesagt, dass es »kein Zurück zur alten Normalität« geben kann. Heute ist die Kanzlerin so populär wie lange nicht mehr und die meisten wünschen sich eine Rückkehr zum Alltag. Haben wir die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus mal wieder unterschätzt?
Ich habe relativ früh vor dieser Sehnsucht nach den alten Verhältnissen gewarnt. Seit Krisenbeginn war die Botschaft der Ökonominnen und politischen Entscheider: »Wir versuchen, möglichst schnell zur alten, heilen Welt zurückzukehren.« Das war von Beginn an falsch, und es bleibt Aufgabe der Linken, sich dieser Ambition entgegenzustellen.
Dafür gibt es gute Gründe: Erstens dürfen wir nicht vergessen, dass die Pandemie auf einen instabilen Kapitalismus traf, der kurz vor einer Rezession stand. Zugleich bedeutet ein Zurück zu den alten Zuständen ein Zurück zu sozialer Polarisierung, einem wachsenden Niedriglohnsektor, anschwellendem Rechtspopulismus und ökologischen Destruktivkräften, die unsere Lebensgrundlagen zerstören. Doch ich befürchte, dass Mahnungen dieser Art ungehört verhallen.
Wie schätzt Du in dieser Konstellation die Chancen der Gewerkschaftsbewegung ein, Angriffe von der Arbeitgeberseite abzuwehren?
In der Tat sind die Kräfteverhältnisse für solidarische Politik nicht günstig. Kapital und Staat wirkten in der Akutphase der Krise wie paralysiert. Sie waren zu Maßnahmen gezwungen, die völlig quer zu ihren Dogmen und Ideologien stehen. Der Staat war vor allem als »ideeller Gesamtkapitalist« gefordert. Er musste die kapitalistische Ökonomie in ein künstliches Koma versetzen und zugleich vor dem Zusammenbruch retten. Die Folge war ein historisch wohl einzigartiger Not-Pragmatismus, der eine umfassende Ausweitung von Staatsaktivitäten, eine gigantische Neuverschuldung und selbst Eingriffe in die kapitalistische Eigentumsordnung vorsah. Alles Maßnahmen, die überhaupt nicht zu den Erzählungen passen, die man uns in den letzten 20–30 Jahren vorgesetzt hat.
Doch diesem Not-Pragmatismus folgt offenbar eine klassenbewusste Positionierung – gerade auf Seiten des Kapitals. Auch die Großkonzerne und ihre Verbände wollen nicht zurück zur »alten Normalität« eines – zwar beschädigten, aber dann doch noch vorhandenen – Wohlfahrtsstaates. Sie wollen offenbar die Notsituation der Krise nutzen, um eine neue Normalität zu schaffen, nämlich einen deregulierten und deformierten Wirtschaftsstaat. Der Winston Churchill zugeschriebene Appell »Never let a good crisis go to waste« kommt zu neuen Ehren: Corona markiert die Krise, und die Gelegenheit scheint günstig, langgehegte Klassenwünsche zu realisieren.
Das einfache Räsonieren, was wir so alles aus den Krisenerfahrungen lernen könnten, welche Gedanken und Erlebnisse für ein neues Gesellschaftsmodell konserviert werden müssten und so weiter – das reicht als linke Politik nicht. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es ohne einen durchsetzungsfähigen linken Akteur keine progressiven Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse geben wird. Aber gerade hier hapert es. Es fehlt an strategischen Reflexionen, wie die Lücke zwischen den positiven Utopien und den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen geschlossen werden kann. Natürlich brauchen wir positive Bilder mit utopischem Überschuss, wenn wir nicht in den Strukturen des Kapitalismus stecken bleiben wollen. Vor allem aber brauchen wir politische Allianzen, die Strategien und Utopien in einen durchgreifenden Reformismus transformieren.
Ich denke dabei an Lenins Formulierung in Was tun? – nämlich die vom gewerkschaftlichen und sozialistischen Bewusstsein. Wie können wir die unmittelbaren Interessen der Arbeitsplatzsicherung mit der objektiven Notwendigkeit versöhnen?
Nun ja, nicht nur die Arbeiterklasse lässt revolutionären Elan vermissen, auch bei den Intellektuellen und den Mittelschichten ist wenig davon zu finden. In einer Situation, in der Millionen Beschäftigte mit einer akuten Gefährdung ihrer Arbeitsplätze konfrontiert sind, in der beinharte Verteilungskämpfe auf uns warten und in der die Zukunft des industriellen Sektors generell infrage steht, wächst erst einmal das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und der Verteidigung von Arbeitsplätzen, Einkommen und sozialen Zukunftsperspektiven.
Linke Strategien, die subjektive Bedeutung und objektive Notwendigkeit solcher Abwehrkämpfe unterschätzen, machen einen großen Fehler. Es geht vielmehr darum – in den Worten des Soziologen Robert Castel –, das »soziale Eigentum« der abhängig Beschäftigten zu verteidigen, diese Verteidigung aber zugleich in eine Strategie der sozial-ökologischen Transformation einzubetten. Denn der Übergang zu einer sozialen – vor allem aber ökologisch nachhaltigen – Ökonomie ist nicht weniger wichtig.
»Das soziale Eigentum der Beschäftigten verteidigen« – was meinst Du damit?
Nehmen wir den industriellen Sektor des deutschen Kapitalismus, in dem Gewerkschaften wie die IG Metall nach wie vor ihre stärkste Verankerung haben. Hier geht es darum, die Wertschöpfungsstrukturen so zu verändern, dass sie in ein neues ökonomisches, sozial und ökologisch nachhaltiges Wachstums- und Entwicklungsmodell eingepasst werden können. Der motorisierte Individualverkehr wird, ja er muss eine Zukunft haben: in Form batteriebetriebener E-Mobilität oder anderer nicht-fossilistischer Antriebsstränge. Aber auf gesellschaftliche Akzeptanz kann die Transformation der Automobilindustrie nur hoffen, wenn sie in ein breiteres Mobilitätskonzept eingebettet wird. In diesem wird die Dominanz des Automobils sicherlich nicht mehr in der heutigen Form überleben, aber eine relevante Bedeutung kann die automobile Mobilität behalten.
Die Aufgabe heißt: Das eine tun, ohne das andere zu lassen! Die Arbeitsplätze verteidigen, aber gleichzeitig Produkte und Produktionsverfahren so verändern, dass der transformierte Sektor mit Recht seinen Platz in einem ökologisch verträglichen Mobilitätskonzept einfordern kann.
Im Corona-Hilfspaket sind genau diese Spannungen zutage getreten. Die SPD-Spitze lehnte eine Abwrackprämie für Verbrennungsmotoren ab und löste damit einen offenen Konflikt mit der IG Metall aus. Seitdem werden in der Klimabewegung Stimmen laut, dass die Gewerkschaften keine verlässlichen Partner sind.
Der Konflikt zeigt: Man sollte sich eine gesellschaftliche Reform-Allianz, die aus unterschiedlichen Akteuren zusammengesetzt ist, nicht zu harmonisch vorstellen. Sie wird immer wieder von internen Spannungen bedroht sein, die bewältigt werden müssen, wenn sie nicht auseinanderfliegen will.
Die Risiken eines ökologischen Umbaus verteilen sich sehr unterschiedlich, und das hat Folgen. Bei Personen, die nicht direkt von der Krise betroffen sind, geschieht es schneller, dass sie die sozialen Folgerisiken ökologiepolitischer Interventionen vernachlässigen. Und dass Menschen, deren Arbeitsplätze unmittelbar gefährdet sind, die kurzfristige Arbeitsplatzsicherung mitunter näher ist als der mittelfristige Umweltschutz,mag angesichts der zeitlichen Nähe der Klimakatastrophe zwar unsachgemäß sein, aber sozialökologische Transformationsstrategien sollten auf diese Ängste reagieren – nicht mit moralischer Überheblichkeit, sondern mit politischen Lösungen.
Im besagten Fall ist es der IG Metall offenbar nicht gelungen, in der öffentlichen Debatte deutlich zu machen, was die eigentliche Forderung war. Es ging nicht um die alte Abwrackprämie, sondern um eine sozial-ökologische Brückenforderung. Die Verteidigung von Arbeitsplätzen sollte mit einem Schritt in Richtung ökologischer Transformation verbunden werden. Die geforderte Umweltprämie sollte nur fließen, wenn mit den subventionierten Produkten eine deutliche Reduzierung von Emissionen verbunden war. Zugleich sollten Beschäftigungssicherung und ein deutlicher Finanzbeitrag der Konzerne Bedingungen sein. Das war wohl eine zu komplizierte Konstruktion, die medial nicht zu vermitteln war. Zukünftig müssen Forderungen wohl ökologie-, beschäftigungs- und verteilungspolitisch schärfer konturiert werden, um den Eindruck eines klassenvergessenen Korporatismus mit den Konzernen von Beginn an zu vermeiden. Aber auch die Ökologie-Bewegung oder zumindest diejenigen, die die Forderungen der IG Metall sehr schnell und sehr pauschal kritisiert haben, sollten sich die Sache nicht zu einfach machen. Auch ihnen ist eine gewisse Einseitigkeit nicht gänzlich fremd. Mitunter dominieren die ökologischen Komponenten der Transformation – und die sozialen fallen hinten runter. Wer aber die sozial-ökologische Transformation ernst nimmt, muss beide Komponenten zu ihrem Recht kommen lassen.
Hast Du den Eindruck, dass ökologische Themen wirklich Teil des gewerkschaftlichen Bewusstseins werden?
Ja, die deutschen Gewerkschaften haben in den letzten Jahren mit Blick auf die ökologische Herausforderung große Fortschritte gemacht. Auch meine Kolleginnen und Kollegen in der Automobilindustrie wissen, dass ihre Branche ohne eine große Transformation nicht überleben wird. Die Schwierigkeit besteht darin, vorhandene Ängste und Risiken ernst zu nehmen, und zugleich Strategien zu entwickeln, die realistische Transformationswege ohne Arbeitslosigkeit, Einkommensverluste und soziale Prekarisierung aufzeigen.
Das ist nicht immer konsensfähig. Teile der Ökologiebewegung – auch solche, mit denen wir eng zusammenarbeiten wollen – kommen aus dem sogenannten »Degrowth«-Spektrum. Die dortigen Debatten sind bunt und vielgestaltig, aber es gibt einen Strang, der sich auf eine strikte und pauschale Ablehnung jeglichen Wachstums festgelegt hat. Sein Verdienst ist es, immer wieder und zu Recht darauf hinzuweisen, dass ein unbegrenztes, quantitatives Wachstum nicht mit den Naturerfordernissen kompatibel ist. Aber es gibt auch eklatante analytische Schwächen. Vielfach wird übersehen, dass die heutigen Gesellschaften sowohl Überfluss- als auch Defizit-Gesellschaften sind. Und da wir auf Wachstum nicht pauschal verzichten können, wollen wir diese Defizite korrigieren. Nicht Wachstum an sich, sondern der profitgetriebene Wachstumszwang ist das Problem. Doch noch problematischer ist, dass es nicht einmal ansatzweise Vorstellungen davon gibt, wie eine Ökonomie funktionieren soll, die schrumpft und zugleich gerecht, nachhaltig und mit den anderen Regionen der Welt solidarisch ist. Von Übergangsstrategien dorthin ganz zu schweigen.
Wenn Akteure aus dieser Debatte mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern zusammentreffen, die aus einer ganz anderen Tradition kommen, wäre es ja ein Wunder, wenn dabei sofort eine vollendet harmonische Kooperation herauskäme. Hier sind diskursive Toleranz und wechselseitiges Verständnis für die Kulturen und Interessen der anderen unverzichtbar. Natürlich dürfen Toleranz und Verständnis das Reformprojekt nicht gefährden. Aber die Idee der »Mosaik-Linken«, die ich vor einiger Zeit in die Debatte eingebracht habe, war ja gerade, dass eine solche reflexive Bündnis-Toleranz eine Schlüsselressource für eine progressive kapitalismuskritische Bewegung ist.
Die heutigen Klima-Mobilisierungen beschränken sich überwiegend darauf, Forderungen an die politische Elite zu stellen. Haben Gewerkschaften in dieser Mosaik-Linken nicht eine besondere Verantwortung – aber auch eine besondere gesellschaftliche Machtposition – um den notwendigen Druck auf die herrschende Klasse auszuüben und die Wirtschaft radikal umzugestalten?
Ohne eine Wirtschaft, die sich von Grund auf demokratisiert und dekarbonisiert hat, ist eine progressive, alternative Gesellschaftsordnung kaum möglich. Eine sozialistische schon gar nicht. Für den Übergang zu einer solchen – sagen wir öko-sozialistischen – Ökonomie dürfte eine offensive und durchsetzungsstarke Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung unverzichtbar sein. Aus dieser Bedeutung ökonomischer Fragen und der Unverzichtbarkeit der Gewerkschaften lässt sich aber kein bündnispolitischer AvantgardeAnspruch ableiten. Mitunter so gedacht zu haben, war ein historischer Fehler. Dass die Klasse der abhängig Arbeitenden »unverzichtbar« ist, bedeutet ja nicht, dass sie auf alle Fragen Antworten wüsste oder alle Probleme alleine lösen könnte. Die kapitalistische Eigentums- und Herrschaftsordnung stellt meines Erachtens den Kern der Gegenwartsgesellschaften dar. Aber Ausbeutung und Abwertung etwa in Form von Rassismus und Sexismus wurzeln nicht ausschließlich in der Ökonomie. Hier geht es um komplexe Beziehungen von sozialer Lage, Macht und Kultur – und hier braucht es das Zusammenwirken unterschiedlicher Bewegungen mit ihren Kompetenzen.
Also: Nicht jeder Akteur in einer Bewegung ist für alle Fragen gleich kompetent und muss für alle Probleme umfassende Lösungen präsentieren. Wenn junge Menschen von Fridays for Future aufbrechen und den eklatanten Widerspruch zwischen unserer Produktions- und Lebensweise und den ökologischen Überlebensbedingungen thematisieren, dann ist das von hohem Wert. Wenn sie dann nicht gleich ausgereifte Alternativkonzepte, realistische Übergangsstrategien oder die Bedeutung klassenpolitischer Kräfteverhältnisse mitdenken, sollte das nicht die historische Bedeutung dieser Bewegung überschatten. Die Aufgabe besteht darin, Kompetenzen, Kulturen und natürlich Machtressourcen so zu bündeln, dass möglichst viel Kraft für die Realisierung eines gemeinsamen Projektes herauskommt. Alle bringen ein, was sie können. Aber nicht jede und jeder Einzelne muss alles können.
Hans-Jürgen Urban ist Akademiker, kommt jedoch »aus der Arbeiterklasse« und engagierte sich schon früh in der Gewerkschaftsbewegung. Für den beruflichen Einstieg in die IG Metall entschied er sich unter anderem durch den Kampf um die 35-Stunden-Woche. Seine wissenschaftlichen Beiträge zum sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft bereichern seit Jahren die Gewerkschaftslinke.