28. Mai 2025
Der Historiker Ilan Pappe widmet sich in seinem neuen Buch den »vergessenen« Palästinensern in Israel. Wie sich die staatliche Politik ihnen gegenüber seit 1948 verändert hat und warum sie eine Schlüsselrolle für eine gerechtere Zukunft spielen, erklärt er im Gespräch.
»Es gibt eine große Anstrengung von oben, die sicherstellt, dass sich kein Zusammenleben entwickeln kann«, sagt Historiker Ilan Pappe.
Palästinenser in Israel haben eine komplexe Beziehung zu dem Staat, in dem sie leben. Seit mehr als sechzig Jahren sind sie zwar Staatsbürger des Landes – aber keine vollwertigen Bürgerinnen und Bürger, wie der israelische Historiker Ilan Pappe in seinem Buch Die vergessenen Palästinenser nachzeichnet. Sie navigieren eine prekäre Position zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern in den besetzten Gebieten. Ihre Erfahrungen stehen jedoch selten im Mittelpunkt.
Im Interview mit Jacobin spricht Pappe über diese besondere Rolle. Er diskutiert palästinensische Geschichte und Diskriminierung innerhalb des israelischen Staatsgebiets, was sich seit der Erstveröffentlichung des Buches 2011 verändert hat – und warum gerade Palästinenser in Israel eine zentrale Rolle bei Friedensbestrebungen einnehmen könnten.
Zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer existieren im Prinzip drei unterschiedliche Gruppen von Palästinenserinnen und Palästinensern: Jene, die im Westjordanland und Gaza unter Besatzung leben; jene in Ost-Jerusalem und jene, die Staatsbürger Israels sind. Kannst Du erklären, wo sich die Situation der palästinensischen Staatsbürger Israels am deutlichsten von den anderen abhebt? Und warum sie »vergessen« werden, wie es im Titel Deines Buches heißt?
Die Palästinenser innerhalb Israels sind jene Palästinenser, die nicht während der Nakba, der Katastrophe von 1948, vertrieben wurden. Sie haben eine ganz andere Geschichte als andere palästinensische Gruppen, denn sie waren von Anfang an Teil des jüdischen Staates. Die anderen Palästinenser waren entweder Flüchtlinge innerhalb oder außerhalb des historischen Palästinas; sie kamen 1967 unter ägyptische Herrschaft im Gazastreifen oder unter jordanische Herrschaft im Westjordanland. Genau in dieser Zeit – zwischen 1948 und 1967 – wurden die Palästinenser in Israel unter Militärherrschaft gestellt.
Kann man sich die Militärherrschaft von damals in etwa so vorstellen wie die Besatzung des Westjordanlands heute?
Ja, Militärherrschaft ist den meisten Leuten heute ein Begriff, wenn wir vom Westjordanland und dem Gazastreifen reden. Es ist dieselbe Herrschaft, die auf den gleichen britischen Kolonialvorschriften ruht. Sie lässt der Armee vollkommen freie Hand bei der Regelung des Lebens der besetzten Bevölkerung. Die Armee kann Leute ohne Verhandlung ins Gefängnis stecken, sie kann Häuser zerstören und Menschen – in einigen Fällen – auch einfach erschießen. Das war die Realität der Palästinenser in Israel bis 1966.
Während die Palästinenser in Gaza und dem Westjordanland erst 1967 unter israelische Herrschaft kamen, wurde die Situation für Palästinenser in Israel ab diesem Zeitpunkt besser – sie wurden Staatsbürger. Ich würde nicht sagen, dass sie vollwertige Bürger des Landes wurden, aber zumindest lebten sie nicht mehr unter Militärbesatzung.
Aber sie waren trotzdem etwas subtileren Formen von Segregation und Diskriminierung ausgesetzt. Der Großteil dieser Diskriminierung war aber noch nicht gesetzlich verankert. Vor den 2000er Jahren haben die meisten israelischen Politiker versucht – zumindest theoretisch – keine Gesetzesvorhaben zu forcieren, die Menschen diskriminierten, weil sie Araber und keine Juden waren.
In den letzten 25 Jahren hat sich das politische System Israels stark nach rechts verschoben. Ich schätze, dass das das Leben von Palästinensern innerhalb Israels stark verändert hat.
Genau. Im Jahr 2000 begannen israelische Politiker damit, Gesetze gegen Palästinenser in Israel zu erlassen. Praktiken, die vorher inoffiziell waren, wurden plötzlich gesetzlich verankert. Palästinenser hatten beispielsweise immer einen sehr beschränkten Zugang zu Land, sie konnten ihre Gebiete nicht vergrößern – und plötzlich wurde es illegal für sie, das zu machen. Es war ihnen auch nicht mehr erlaubt, über die Nakba zu sprechen.
Das ist alles im Nationalstaatsgesetz von 2018 kumuliert, wo offiziell festgelegt wurde, dass Palästinenser zwar individuelle Staatsbürger Israels sein können, aber sie dürfen nicht Teil einer nationalen Gemeinschaft sein. Das bezieht sich nicht nur auf das Gebiet von 1948 – zwischen dem Fluss und dem Meer, so sagt es das Gesetz, gibt es nur eine Nation und das ist die jüdische Nation.
»Das ist nicht diese Form von Apartheid, wo Toiletten, Bänke oder Busse getrennt werden. Die Segregation ist viel versteckter.«
Die Diskriminierung von Palästinensern innerhalb Israels ist nicht so dramatisch wie im Westjordanland, von Gaza ganz zu schweigen. Aber wenn man sie mit jüdischen Staatsbürgern vergleicht, sind sie Bürger zweiter, wenn nicht sogar dritter Klasse. Sie haben schon vor den gesetzlichen Änderungen der 2000er Jahre lebten sie in einem Apartheid-ähnlichen Zustand. Manche sagen auch, es sei schon damals ein vollständiger Apartheidstaat gewesen. Palästinenser wurden die ganze Zeit diskriminiert – nicht wegen dem, was sie taten, sondern weil sie Palästinenser sind.
Du beschreibst in Deinem Buch auch, wie wenig genuine Interaktion es zwischen Palästinensern und Israelis gibt. An einer Stelle sprichst Du davon, dass es so wenige Ehen zwischen den beiden Gruppen gibt, dass man dieses Phänomen nicht einmal wissenschaftlich untersuchen kann.
Ja, wir machen darüber immer Witze. Ein Soziologe aus Haifa sagte einmal, es brauche keine Stichprobe, weil er alle davon persönlich kenne. Der Zionismus ist eine kolonialistische Bewegung, die Palästina in den letzten 120 Jahren kolonisiert hat. Aber er ist eine der wenigen kolonialen Bewegungen, wo die Sprache der Kolonisierten nie gelernt wurde und sich keine romantischen Beziehungen entwickelt haben.
Es gab sogar in Apartheid-Südafrika mehr Beziehungen zwischen Weißen und Afrikanern als in Palästina. Aber das ist die Natur des Zionismus, er ist eine jüdische Überlegenheits- und Exklusivitätsideologie. Darum ist der Druck auf mixed Paaren sehr groß. Die meisten von ihnen gehen irgendwann ins Ausland.
Aber wie gehen Israelis und Palästinenser im täglichen Leben miteinander um? Welche Form des Kontaktes gibt es hier?
Es gibt eine sehr starke Segregation, besonders im Bildungsbereich. Aber die Universitäten und die Geschäftswelt sind durchmischt. Auch der öffentliche Verkehr ist nicht segregiert. Ein Wissenschaftler argumentierte einmal: Das ist nicht diese Form von Apartheid, wo Toiletten, Bänke oder Busse getrennt werden. Die Segregation ist viel versteckter.
Darum gibt es natürlich Begegnungsorte, aber ich gebe Dir ein Beispiel, um meinen Punkt zu erklären: Israel hat im Norden des Landes mehrere Städte geschaffen. Die Idee war, dass diese ausschließlich jüdisch sein sollten, um ihre Zahl in Galiläa zu erhöhen – weil Israel befürchtete, dass es zu viele Araber in der Region gibt. Dieses Projekt nannte sich »Judaisierung Galiläas«.
»In der Kommunistischen Partei arbeiteten Palästinenser und Juden Seite an Seite, auf Augenhöhe, mit gegenseitigem Respekt. Wahrscheinlich bot die Partei das beste Modell dafür, wie ein gemeinsames Leben hätte aussehen können.«
In den palästinensischen Dörfern im Umkreis dieser Städte gab es aber kaum wirtschaftliche Möglichkeiten. Darum sind jene Palästinenser aus der Gegend, die etwas mehr finanzielle Mittel hatten, bereit gewesen, die doppelte oder dreifache Miete zu zahlen, um in die neu geschaffenen Städte zu ziehen. Diese vermeintlich jüdischen Städte sind heute also viel durchmischter als früher – manchmal ist das Leben einfach stärker als staatliche Ideologie. Es gibt also ständig Interaktionen zwischen den beiden Gruppen. Besonders in Haifa, wo ich aufgewachsen bin.
Das Problem ist aber, dass das politische System, Kultur und Bildung – sie alle versuchen diese Interaktion und genuine Koexistenz zu zerstören. Es gibt eine große Anstrengung von oben, die sicherstellt, dass sich kein Zusammenleben entwickeln kann. Würde man es den Leuten selbst überlassen, glaube ich schon, dass sich das entwickeln würde. Aber wenn es sich entwickelt, würde das die Idee des exklusiv jüdischen Staats zerstören. Und das wollen die Mitglieder der israelischen politischen Elite natürlich nicht.
Im Westen ist ein Argument gegen Apartheid auf israelischem Staatsgebiet oft, dass einige Palästinenserinnen und Palästinenser große Erfolge erzielt haben. Man findet sie als Ärzte, Staatsbeamte und sogar als Profisportler. Einige wurden in die Knesset gewählt oder zu Richtern am Obersten Gerichtshof ernannt. Stellt dieses Hervorheben von Einzelerfolgen das größere Gesamtbild infrage, wenn es um die Vorwürfe der Apartheid geht?
Das ist, als würde man sagen, dass die Situation von Frauen in Indien vollkommen in Ordnung ist, nur weil Indien einmal eine Premierministerin hatte. Solche symbolischen Erfolge sind natürlich wichtig, aber sie spiegeln die tatsächliche Realität vor Ort nicht wider.
Die meisten Menschen, die in Israel unter der Armutsgrenze leben, sind Palästinenser. Sie werden konstant diskriminiert – durch die Polizei, die Justiz, überall. Wenn sie ihre palästinensische Identität individuell oder kollektiv ausdrücken, laufen sie Gefahr, in ihrer eigenen Heimat inhaftiert zu werden.
Nehmen wir zum Beispiel das Gesundheitssystem: Viele israelische Ärzte sind ausgewandert, und ein Teil dieser Stellen wurde von Palästinensern aus Israel übernommen. Normalerweise ist es sehr schwierig, in israelische Gesundheitseinrichtungen zu gelangen, da es dort Quoten gibt. Zu der Zeit, als die Kommunistische Partei in Israel relativ stark war, konnten Palästinenser ihr Medizinstudium im Ostblock absolvieren. Heute tun sie das in Italien und Rumänien. Es ist dasselbe wie in den gemischten Städten: Manchmal ist die Realität stärker als die Ideologie. Aber sobald ein palästinensischer Arzt heute Mitgefühl mit den Kindern in Gaza zeigt – sei es durch einen menschlichen Beitrag auf Facebook oder einer anderen Plattform –, droht ihm die Suspendierung.
Du hast die Kommunistische Partei schon kurz erwähnt. Warum war sie früher so mächtig und populär in Israel, besonders unter den vielen Palästinensern, die die Partei unterstützten?
Als Israel gegründet wurde – zumindest bis 1967/1968 –, war das Land darum bemüht, gute Beziehungen sowohl zur Sowjetunion als auch zu den Vereinigten Staaten zu pflegen. Man hoffte außerdem, dass Juden aus der Sowjetunion irgendwann nach Israel auswandern würden. Aus diesem Grund wurde der Kommunistischen Partei erlaubt, zu existieren und zu arbeiten – während beispielsweise jeder Versuch von Palästinensern innerhalb Israels, eine rein nationale Partei zu gründen, unterbunden wurde.
Einige Palästinenser fühlten sich vielleicht tatsächlich von sozialistischer oder marxistischer Ideologie angezogen, aber für viele war die Kommunistische Partei schlicht die einzige politische Option, die ihnen erlaubte, Palästinenser zu sein. Es war auch die einzige Partei, in der Araber und Juden gleichberechtigt behandelt wurden.
»Wie überall in der arabischen Welt hat die Linke schlicht nicht geliefert. Deshalb wandten sich viele Menschen anderen ideologischen Richtungen zu.«
Es gab zwar Palästinenser in anderen Parteien, aber sie waren selten mehr als symbolische Vertreter – auf jeden Fall keine gleichgestellten Mitglieder. In der Kommunistischen Partei hingegen arbeiteten Palästinenser und Juden Seite an Seite, auf Augenhöhe, mit gegenseitigem Respekt und Gleichbehandlung. Wahrscheinlich bot die Partei das beste Modell dafür, wie ein gemeinsames Leben hätte aussehen können.
Wie so viele andere linke Bewegungen spielt sie heute kaum noch eine Rolle. Warum ist das so?
Als Israel seine Beziehung zur Sowjetunion aufgab – vor allem, als deutlich wurde, dass die Sowjetunion sich auf die Seite der palästinensischen Befreiungsbewegung stellte – wurde Israels Haltung gegenüber der Kommunistischen Partei zunehmend ablehnend.
Und wie überall in der arabischen Welt hat auch die Linke schlicht nicht geliefert. Sie hat weder die Befreiung Palästinas erreicht, noch soziale Gerechtigkeit, Demokratie oder Rechte gebracht. Deshalb wandten sich viele Menschen anderen ideologischen Richtungen zu.
In Israel fühlten sich viele Palästinenser zunehmend von einer klareren nationalen Identität angezogen – einer, die nicht durch kommunistische Ideologie überdeckt werden musste – sowie von Strömungen des politischen Islams.
Wenn man sich die unterschiedlichen politischen Fraktionen der Palästinenser ansieht, wird sehr schnell deutlich, dass die meisten militanten Gruppen im Exil entstanden. Ihre Basis war vor allem in den Flüchtlingslagern im Libanon, Syrien oder Jordanien stark. Gab es auch unter den Palästinensern in Israel militante Organisationen?
Nein, das gab es nicht – aus zwei Gründen: Erstens beschloss die PLO in den 1970er-Jahren, dass jede palästinensische Gruppe entsprechend den Umständen, in denen sie sich befindet, für die Befreiung Palästinas kämpfen sollte. Es gab keinen Druck auf die Palästinenser in Israel, sich dem Guerillakampf anzuschließen, wie ihn andere palästinensische Gruppen in den besetzten Gebieten oder aus den Flüchtlingslagern führten.
Zweitens traf die palästinensische politische und intellektuelle Führung in Israel die strategische Entscheidung, keinen Guerillakampf einzusetzen, um ihre Rechte zu sichern und zur palästinensischen Sache beizutragen.
Das war eine sehr bewusste Entscheidung. Und es bestand natürlich immer die Angst vor einer möglichen israelischen Reaktion. Wie wir heute in Gaza sehen können, wäre eine solche Reaktion mit hoher Wahrscheinlichkeit völkermörderisch gewesen.
Dein Buch wurde auf Englisch erstmals im Jahr 2011 veröffentlicht. Seither hat sich viel verändert. Du hast das Nationalstaatsgesetz erwähnt und natürlich können wir heute nicht über Israel und Palästina sprechen, ohne dass der Krieg in Gaza über allem schwebt. Wie hat sich die Zeit nach dem 7. Oktober auf das tägliche Leben der Palästinenser innerhalb Israels ausgewirkt?
Wie ich bereits gesagt habe: Schon seit dem Jahr 2000, und besonders seit der Wahl der rechtsgerichteten Regierung im November 2022, wurde die Politik der israelischen Regierung und des Parlaments gegenüber Palästinensern sehr hart – sowohl durch Gesetze als auch durch die Praxis vor Ort. Und das war alles noch vor dem 7. Oktober.
Ein weiterer Punkt, der nichts mit dem 7. Oktober zu tun hat, ist die Art und Weise, wie Israel kriminellen Banden erlaubt, in palästinensischen Dörfern und Gebieten weitgehend ungehindert zu operieren. Das sind Banden junger Männer, die schwer bewaffnet sind – und niemand versucht, sie zu entwaffnen. Weder die Polizei noch der Geheimdienst oder das Militär. Sie dürfen sich völlig frei bewegen.
»Der 7. Oktober wurde als Vorwand genutzt, um selbst die wenigen verbliebenen Freiheiten des Ausdrucks und Protests, die Palästinenser in Israel noch hatten, zu beseitigen.«
Zwar bekämpfen sie sich in erster Linie gegenseitig im Kampf um Territorium und Einfluss, aber wie immer trifft es auch viele Unschuldige. Fast täglich kommt es zu Morden – darunter auch an Kindern. Es ist offensichtlich, dass einige dieser Bandenmitglieder früher mit dem israelischen Geheimdienst zusammengearbeitet haben, vor allem vor dem Oslo-Abkommen, und aus den besetzten Gebieten rekrutiert wurden. Die israelische Regierung glaubt von diesem, wie sie es nennen, »Araber töten Araber« zu profitieren. Deshalb kümmert sie sich nicht darum, wenn Menschen in palästinensischen Dörfern terrorisiert werden.
Der 7. Oktober wurde als Vorwand genutzt, um selbst die wenigen verbliebenen Freiheiten des Ausdrucks und Protests, die Palästinenser in Israel noch hatten, zu beseitigen. Israel tut so, als wäre das, was die Hamas getan hat, von den Palästinensern in Israel ausgeführt worden. Deshalb ist es ihnen nicht einmal erlaubt, Mitgefühl mit den getöteten palästinensischen Babys in Gaza zu zeigen – das wird als Unterstützung von Terrorismus gewertet. Menschen werden dafür verhaftet, ohne Gerichtsverfahren.
Viele haben Angst, sich zu äußern – sie fürchten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder verhaftet zu werden. Einer der Anführer der palästinensischen Gemeinschaft in Israel sagte kürzlich, dass die Situation heute sogar schlimmer sei als während der Militärherrschaft zwischen 1948 und 1966. Es ist aktuell wirklich ein schwieriger und gefährlicher Moment für Palästinenser in Israel.
Mit Bezug auf das Kafr-Qasim-Massaker von 1956, bei dem israelische Grenzpolizisten 48 palästinensische Staatsbürger Israels töteten, weil diese unwissentlich eine Ausgangssperre verletzt hatten, schreibst Du, dass es in Israel immer »irgendeiner Katastrophe« bedarf, damit sich etwas ändert. Die Lage in Gaza ist vielleicht die größte vorstellbare Katastrophe. Wie wird diese Situation die Zukunft Israels und insbesondere die der Palästinenser in Israel verändern?
Wir hatten gehofft, dass nach dem anfänglichen Schock und Trauma diejenigen, die sich in Israel noch als Liberale sehen, erkennen würden, dass der einzige Weg, Israel zu verändern, über die Bildung einer starken Allianz zwischen palästinensischen und progressiven jüdischen Staatsbürgern führt. Aber das passiert nicht.
Was der 7. Oktober bewirkt hat, ist, dass diejenigen, die sich als liberale Zionisten betrachteten, zu radikaleren rechten Zionisten wurden. Liberale zionistische politische Kräfte gibt es praktisch nicht mehr. Das bedeutet, dass die palästinensische Gemeinschaft in Israel weiter isoliert wird. Das ist die kurzfristige Perspektive. Langfristig denke ich, dass der 7. Oktober ein Weckruf war: Die Art und Weise, wie der jüdische Staat entwickelt wurde – als rassistischer Staat, der auf Unterdrückung, Besatzung und ethnischer Säuberung basiert – funktioniert nicht.
Ja, Israel ist weiterhin mächtig, hat starke Verbündete, und die Palästinenser sind schwach und können sich nicht selbst befreien oder ihre Unterdrückung beenden. Aber sie werden ihren Kampf fortsetzen. Und die Welt beginnt zu verstehen, dass sie die Opfer sind – und nicht Israel. Diese Prozesse werden weitergehen.
Wir sehen bereits jetzt, dass diejenigen Israelis, die ein normales, demokratisches, liberales Leben führen wollen, es in Israel nicht finden – sie gehen nach Deutschland oder anderswohin. Und diejenigen, die zurückbleiben, scheinen nicht fähig zu sein, einen Staat zu führen.
Ich bin mir nicht sicher, ob die Vereinigten Staaten immer da sein werden, um Israels Ausgaben zu finanzieren. Wir sehen auch, dass die internationale Gemeinschaft – zumindest die Zivilgesellschaft – genug davon hat. Ja, das hat sich bisher noch nicht auf die Politik ausgewirkt, aber auch das wird noch passieren.
Ich denke, dass ironischerweise gerade die Palästinenser in Israel die einzigen sind, die eine Brücke schlagen können – von der unerträglichen Realität von Apartheid, Völkermord und ethnischer Säuberung hin zu einem echten Zusammenleben, wie es vor der Ankunft des Zionismus in Palästina existierte.
Du schreibst in Deinem Buch, sie sind die einzigen, die Israelis nicht nur als Siedler oder Soldaten kennen.
Ja, genau. Und eines Tages, wenn es Versöhnung gibt und eine andere Realität zwischen dem Fluss und dem Meer, dann sind es gerade diese Palästinenser, die eine Win-Win-Situation für beide Seiten schaffen können. Denn wenn nicht, folgt statt Wiedergutmachung Rache – und das ist ein schrecklicher Gedanke.
Deshalb ist die palästinensische Gemeinschaft in Israel so wichtig. Und anstatt zu verstehen, dass ihre Zukunft in hohem Maße in den Händen genau dieser Gruppe von Palästinensern liegt, versuchen die Israelis, sie zu zerstören.