15. September 2023
Seit Monaten blockiert Aserbaidschan die Lieferung von Nahrungsmitteln und Medikamenten in die Enklave Bergkarabach und rüstet sich für eine Invasion. Armenien wendet sich verzweifelt an den Westen – doch dieser hat längst Frieden mit Baku geschlossen.
Tumult bei einer Demonstration in Jerewan im August 2023. Die Protestierenden, darunter Veteranen, forderten, Armeniens Regierung solle Schritte unternehmen, um Aserbaidschans Blockade von Bergkarabach aufzulösen.
IMAGO / ITAR-TASSAserbaidschan befördert Truppen an die armenische Grenze. Militärtransporte aus der Türkei und Israel sind in Baku gelandet. Das Zeichen der aserbaidschanischen Mobilmachung ist ein umgedrehtes »A« – das »Z« der russischen Invasion der Ukraine lässt grüßen. Die Parallelen zum Ukrainekrieg sind in der Tat unverkennbar, nur werden sie hierzulande ignoriert. Das hat jetzt schon grausame Folgen. Der nächste Krieg kann jederzeit ausbrechen.
Aserbaidschan hat bereits 2020 in einem Krieg um die armenisch bewohnte Enklave Bergkarabach seine militärische Überlegenheit unter Beweis gestellt. Damals – vor Russlands Invasion der Ukraine – wurde unter russischer Führung ein Waffenstillstand vereinbart. Anschließende Verhandlungen, die den Konflikt endgültig lösen sollten, blieben jedoch erfolglos.
Seine Wurzeln hat
dieser Konflikt in der frühen Sowjetunion, als Moskau das
mehrheitlich armenische Bergkarabach der Sowjetrepublik Aserbaidschan
zuschlug. Nach Auflösung der Sowjetunion verlangte die armenische
Bevölkerung Bergkarabachs zunächst die Vereinigung mit Armenien,
was Aserbaidschan aber nicht zuließ. Den anschließenden Krieg
konnte Armenien für sich entscheiden. Dennoch gilt Bergkarabach seit
der Auflösung der Sowjetunion als Teil des aserbaidschanischen
Staatsgebiets. Wirtschaftlich hing die Enklave bisher an der
armenischen Nabelschnur und war nach Armenien hin geöffnet, blieb
aber politisch weitgehend autonom.
»Das autoritäre Regime in Baku scheint mit dem Gedanken zu spielen, sich über Bergkarabach hinaus auch international anerkanntes armenisches Territorium einzuverleiben.«
Nun hat Armeniens Präsident Nikol Pashinjan sich bereit erklärt, Aserbaidschans Souveränität über Bergkarabach anzuerkennen. Damit hat er die Niederlage von 2020 akzeptiert, was den Weg für eine Lösung freimacht. Das Einzige, was Armenien angesichts aserbaidschanischer Kriegsverbrechen und Drohrhetorik noch verlangt, sind international garantierte Zusicherungen, dass die Bevölkerung Bergkarabachs unversehrt bleibt. Dazu ist Aserbaidschan aber nicht bereit. Im Gegenteil: Das autoritäre Regime in Baku scheint vielmehr mit dem Gedanken zu spielen, sich über Bergkarabach hinaus auch international anerkanntes armenisches Territorium einzuverleiben.
Den armenischen Zugeständnissen zum Trotz deutet also kaum etwas darauf hin, dass es zu einer Einigung um Bergkarabach kommt. Aserbaidschans Machthaber Ilham Aliyev hat die Konzession Bergkarabachs ungerührt angenommen, die Kriegsvorbereitungen fortgeführt, und blockiert weiterhin den seit neun Monaten verschlossenen Latschin-Korridor, der Bergkarabach mit Armenien verbindet. Es handelt sich, man kann es nicht anders sagen, um eine Hungerblockade – ein so altes wie brutales und selbstverständlich völkerrechtswidriges Druckmittel, das in Europa zuletzt von Serbien gegen die bosnische Enklave Srebrenica im Bosnienkrieg eingesetzt wurde.
Nahrungsmittel und Medikamente sind knapp geworden. Es gibt Berichte von ersten Hungertoten und Fehlgeburten aufgrund von Mangelernährung und fehlender Medikamente. Menschen stehen stundenlang an für Brot, das es nicht mehr gibt. Julian Morena-Ocampo, ehemaliger Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, spricht deswegen bereits jetzt vom Tatbestand des Genozids.
Aserbaidschanische Diplomaten lassen offen durchblicken, dass ethnische Säuberungen und Genozid teil ihrer Kriegsplanungen sind. So gab zum Beispiel Elchin Amirbayov, Sondergesandter aus Baku, der Deutschen Welle ein Interview, um ein westliches Publikum von der aserbaidschanischen Sicht der Dinge zu überzeugen. Dort verneinte er zunächst, dass es sich um einen Genozid handle, fügte aber hinzu, dass es »zum Genozid kommen könnte, wenn die Separatisten-Clique von Bergkarabach an ihren Zielen festhält«. Die Journalistin der Deutschen Welle schwieg zu dieser Vernichtungsandrohung – womit sie ganz auf der bundespolitischen Linie zu liegen scheint.
Denn der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Hebestreit, hat auf journalistische Nachfrage hin Berichte wie die von Morena-Ocampo als »Propaganda« und die Rede vom Genozid als »Kampfbegriff« bezeichnet. Deutschland hat, nach dem Wegfall direkter russischer Gaslieferungen, großes Interesse an den Energievorräten des kaspischen Meeres. Im Sommer 2022 versprach Aliyev, die aserbaidschanischen Gaslieferungen in die EU bis 2030 zu verdoppeln. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lobte Aserbaidschan als »stabilen Partner«. Dabei ist es anders als im Falle Russlands nicht so, dass Europa oder Deutschland von aserbaidschanischen Gaslieferungen abhängig wären: Die Lieferungen umfassen etwa 7 Prozent der jährlichen europäischen Einfuhren.
»Wer von der Ukraine spricht, sollte vom Kaukasus nicht schweigen. Hier wie dort wird um die Herrschaft über den postsowjetischen Raum gerungen. Hier wie dort bedroht ein autoritär geführter Petro-Staat ein sich demokratisierendes Land.«
Wer will, kann hier ein Echo der Geschichte vernehmen: Das Deutsche Kaiserreich verschloss während des Ersten Weltkriegs wissentlich die Augen, als die osmanischen Verbündeten einen Genozid an der armenischen Bevölkerung vollstreckten.
Kritikerinnen und Kritiker der deutschen Kaukasuspolitik weisen aufgrund dieser Umstände darauf hin, dass das von den Grünen geführte Auswärtige Amt doch versprochen hätte, eine »wertegeleitete Außenpolitik« zu führen. Wie Karl Marx einmal sagte, blamiert sich in der Politik die Moral stets vor dem Interesse. Den meisten Appellen an die Bundesregierung ist denn auch bewusst, dass die deutsche Außenpolitik eine primär interessengeleitete ist, und dass die Rede von »Werten« vor allem dazu nützt, diese Interessen mit dem hehren deutschen Selbstbild in Einklang zu bringen. Leider verbleibt aktuell kaum ein anderer kritischer Hebel, als auf den Widerspruch zwischen Wort und Tat hinzuweisen. Die Alternative zur machtpolitischen Naivität wäre der machtpolitische Zynismus.
Deutsche Regierungsvertreter bestreiten routiniert jeglichen Vergleich zwischen der Ukraine und Armenien. Aber wer von der Ukraine spricht, sollte vom Kaukasus nicht schweigen. Hier wie dort wird um die Herrschaft über den postsowjetischen Raum gerungen. Hier wie dort bedroht ein autoritär geführter Petro-Staat ein sich demokratisierendes Land. Hier wie dort werden Gründe herbei konstruiert, die eine Invasion als leider unvermeidlichen Verteidigungsakt erscheinen lassen sollen.
Zbigniew Brzeziński, ähnlich wie Henry Kissinger eines der großen Orakel US-amerikanischer Hegemonialpolitik, hat nach dem Kalten Krieg ein vielgelesenes Buch veröffentlicht, das sich auch heute wieder zu lesen lohnt: Die einzige Weltmacht. Es geht darin um das »große Schachbrett« des von Westeuropa bis nach China reichenden eurasischen Raumes. Das Buch ist eine Anleitung für US-amerikanische Geopolitiker, wie dieser Raum zu sichern sei. Zu diesem Zweck sei es wichtig, gewisse Achsenländer zu sichern – darunter die Ukraine und Aserbaidschan. Die Ukraine, so Brzezinski, müsse im westlichen Orbit bleiben, da Russland ohne die Ukraine keine europäische Hegemonialmacht sein und somit eingehegt werden könne. Aserbaidschan hingegen sei der »Korken« zur »Flasche« des Kaspischen Meers – auch Aserbaidschan müsse deswegen mindestens neutral oder besser dem Westen zugewandt sein.
Wer sich mit dem nationalistischen Konflikt um Bergkarabach befasst, bemerkt schnell die weitläufigen geopolitischen Interessen, die sich an ihn anheften. Selbst ein Land wie Indien, das man in dieser Region nicht vermuten würde, spielt als Waffenlieferant Armeniens eine Rolle, um dem Einfluss von Pakistan, das sich mit Aserbaidschan und der Türkei »verbrüdert« sieht, etwas entgegenzuhalten. Der Konflikt um Bergkarabach ist ein besonders explosiver Schauplatz des sich aktuell verfestigenden neuen Kalten Krieges. In diesem Konflikt, in dem sich die imperialen Fantasien aus Baku und Ankara mit dem Großmachtkonflikt um den postsowjetischen Raum überlagern, ist der Gewinner noch nicht ausgemacht. Die Verlierer aber schon: all jene, die zwischen diesen Macht- und Raumansprüchen zerrieben werden. Bisher sind das vor allem die Armenierinnen und Armenier von Bergkarabach.
Nach dem alten Kalten Krieg wurde Russland zur Schutzmacht Armeniens. Das ändert sich aktuell. Armenien signalisiert, dass es vom Westen Unterstützung erhalten möchte. Erstens hat Armenien seinen Botschafter aus der Organisation des Vertrages für Kollektive Sicherheit (OVKS) abgezogen. Dieses von Russland angeführte Verteidigungsbündnis erscheint aus armenischer Sicht nutzlos, kamen doch weder im Krieg von 2020, noch 2022, als Aserbaidschan armenische Stellungen beschoss, die anderen Mitgliedsländer zu Hilfe.
Zweitens schickt sich das armenische Parlament derzeit an, das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu ratifizieren. Das brüskiert Russlands, liegt doch seitens des Strafgerichtshofs ein Haftbefehl gegen Wladimir Putin vor. Drittens wird gemeldet, dass Armenien humanitäre Hilfe an die Ukraine schickt. Natürlich ist diese Hilfe für die Ukraine nicht kriegswichtig. Aber sie unterstreicht, was der armenische Präsident schon früher bekundet hat, nämlich dass Armenien den russischen Krieg gegen die Ukraine nicht unterstützt.
»Armenien macht zwar Schritte in Richtung Westen, doch die NATO und die EU werden nicht ihre Kaukasuspolitik auf den Kopf stellen und damit Aserbaidschan in die Hände Russlands oder Chinas treiben.«
Die Antwort folgte sogleich. Die USA kündigten an, Mitte September mit Armenien Militärübungen abhalten zu wollen. Das ist eine ungeheure Blamage für Russland – und ein klares Signal an Aserbaidschan, die Kriegsvorbereitungen zu unterlassen. Interessant ist dabei: Aserbaidschan wird vom NATO-Partner Türkei militärisch und diplomatisch unterstützt. Noch pikanter ist, dass Israel Aserbaidschan mit Waffen beliefert, weil Baku aus Jerusalemer Sicht eine Gegenmacht zu Teheran darstellt.
Armenien macht zwar Schritte in Richtung Westen, doch die NATO und die EU werden nicht ihre Kaukasuspolitik auf den Kopf stellen und damit Aserbaidschan in die Hände Russlands oder Chinas treiben. Vielmehr geht es dem Westen darum, gleichzeitig Russland den Rang als Ordnungsmacht abzulaufen und die energiepolitischen Verbindungen zu Aserbaidschan zu wahren. Dafür spricht auch, dass die EU seit Ende letzten Jahres eine bewaffnete Beobachtermission entsandt hat, die von armenischer Seite aus die Grenzaktivitäten überwacht.
Viele der deutschen Twitter-Generäle, die von ihrem Sofa den ukrainischen Verteidigungskrieg gegen Russland dirigieren, haben für Armenien dennoch kaum ein Schulterzucken übrig. Selbst schuld, wer sich mit den Russen einlässt, so der Refrain. Das ist insofern heuchlerisch, als für die Unterstützung der Ukraine das Argument angeführt wird, dass sich hier eine Demokratie gegen eine imperialistische Diktatur behauptet. Wäre das der Maßstab, müsste der Westen die Energiepartnerschaft mit Aserbaidschan sofort beenden und Armenien mit Waffen beliefern.
Das armenische Lavieren weg von Russland und hin zum Westen zeigt, wie verzweifelt die Lage kleiner und ressourcenarmer Länder in einem Großmachtkonflikt ist. Armenien hatte aufgrund seiner geografischen und historischen Situation nie eine andere Wahl, als sich unter den russischen Schutzschirm zu stellen. Denn mit der Türkei und Aserbaidschan zur Linken und zur Rechten hat es Nachbarn, die entweder bereits einen Genozid an den Armenierinnen und Armeniern begangen haben und ihn bis heute leugnen oder aber fähig und willens zu sein scheinen, neue Großverbrechen zu begehen. Dass sich Armenien jetzt von Russland löst, ist eine späte Verzweiflungstat. Ob die Arme des Westens rettende sein werden, ist fraglich. Sicher ist: sollte es zu einem aserbaidschanischen Angriff kommen, klebt auch an deutschen Händen Blut.
Daniel Marwecki arbeitet im Department of Politics and Public Administration der University of Hong Kong. Er hat zuvor in England promoviert und gelehrt.