10. April 2023
Nach dem Ende der französischen Kolonialherrschaft legte die erste Regierung Algeriens den Grundstein für einen algerischen Sozialismus. Doch ein blutiger Militärputsch zerschlug dieses Projekt demokratischer Selbstverwaltung und errichtete das Regime, das bis heute an der Macht ist.
Kämpferinnen der FLN bei einer Kundgebung für die algerische Unabhängigkeit, 1962.
IMAGO / United ArchivesDie Schlussszene von Gillo Pontecorvos Filmklassiker Die Schlacht von Algier aus dem Jahr 1966 ist berühmt geworden: Nachdem die französischen Fallschirmjäger in den vorangegangenen anderthalb Stunden die Schlacht durch Folter und Mord zu gewinnen schienen, erreicht der Film seinen Höhepunkt, als die algerische Bevölkerung mit ihren im Wind wehenden Flaggen und Bannern aus der Kasbah stürmt und die Unabhängigkeit und Freiheit Algeriens verkündet.
Diese Szene ist kein schnödes Happy End à la Hollywood, sondern historische Wirklichkeit. Denn während die Unabhängigkeitsbewegung Front de Libération Nationale (FLN) 1957 in der Schlacht um Algier vernichtend geschlagen wurde, organisierte sich das Volk selbst weiter.
Als der französische Präsident Charles de Gaulle im Dezember 1960 Algerien besuchte, organisierten die Menschen in Algier und einem halben Dutzend anderer Städte im ganzen Land Massenkundgebungen. De Gaulle sollte zu spüren bekommen, wie unerschütterlich der Wille des algerischen Volks zur Unabhängigkeit war.
Es war nicht die letzte spontane Intervention der algerischen Bürgerinnen und Bürger. Als 1962 die Unabhängigkeit erreicht wurde, entschieden sich die meisten der Millionen europäischen Kolonisten, lieber auszuwandern, als unter algerischer Herrschaft zu leben. So fehlten dem Land von heute auf morgen Fachkräfte in Krankenhäusern und Praxen, im Ingenieurwesen, im technischen Bereich und in den Schulen.
Die Europäer hinterließen darüber hinaus eine Spur der Verwüstung. Es war nicht nur die terroristische OAS (Organisation de l’armée secrète, Organisation der geheimen Armee), die Rache nahm und tausende unbewaffnete algerische Menschen tötete. Auch Landwirte und Geschäftsleute zerstörten bei ihrer Abreise Maschinen und verwüsteten Gebäude. Angesichts dessen drohte eine Hungersnot in Algerien; die Siedlerinnen und Siedler hatten sich zuvor das beste Land unter den Nagel gerissen. Hinzu kam, dass die französische Repression der Aufstände zur Folge hatte, dass mehr als 2 Millionen Algerierinnen und Algerier von ihrem Land vertrieben wurden: viele ländliche Teile des Landes waren geräumt worden, um Freiflächen für Militäreinsätze zu schaffen.
Dieser drohenden Hungersnot stellten sich Hunderttausende algerische Arbeiterinnen und Arbeiter entgegen, die die verlassenen Farmen übernahmen und selbst bewirtschafteten. Die Ernte konnte gerettet werden. Auch in den Städten gab es ähnliche Übernahmen durch die Bevölkerung, doch auf dem Land war das Phänomen dieser Selbstverwaltung deutlich ausgeprägter. Allerdings kam auch aus der Stadt Unterstützung: Handwerker-Trupps wurden mobilisiert, um in den landwirtschaftlichen Betrieben Traktoren und andere Maschinen zu reparieren und zu warten.
Diese Selbstverwaltung der arbeitenden Bevölkerung war aus der Not geboren. Sie beruhte nicht auf der Führung oder Initiative der FLN, deren Kader von der französischen Armee mit ihrer halben Million Soldaten zerrieben und aus weiten Teilen Algeriens vertrieben worden waren. Im Sommer 1962 spaltete sich die FLN auf einer Konferenz in Tunesien, was ihre Handlungsfähigkeit weiter schwächte. Wie schon 1960 war es das sich selbst organisierende algerische Volk, das die Lage zum Guten wendete.
Sicherlich sollte man diesen Moment nicht übermäßig verklären. Es handelte sich um eine ungleichmäßige und ungeordnete Übernahme der europäischen Betriebe und Unternehmen. Die lokale Demokratie war dabei nicht immer perfekt: Es gab viele Berichte über lokale Großunternehmer, die Mafia und auch bewaffnete Mudschaheddin, die mit den auswandernden europäischen Großgrundbesitzern Deals ausgehandelt hatten oder europäischen Besitz kurzerhand für sich selbst beschlagnahmten. In den letztgenannten Fällen kam es jedoch häufig zu anhaltenden Kämpfen zwischen diesen ungewünschten Eindringlingen und den lokalen Arbeiterinnen und Arbeitern um die Kontrolle der Höfe.
Diese Spontaneität des Sommers 1962 bereitete die Bühne für den Kampf, der die kommenden drei Jahre beherrschen sollte: direkte Demokratie gegen bürokratisch-bourgeoise Kontrolle. Oder mit anderen Worten: die breite Bevölkerung gegen eine neu entstehende herrschende Klasse.
Nach der Unabhängigkeit setzte sich im Kampf um die Macht die radikalste Option durch – vertreten durch das Duo Ahmed Ben Bella, einen der wichtigsten Vorkämpfer des Unabhängigkeitskrieges, und Houari Boumédiène, den Armeechef der FLN. Die neugewählte Nationalversammlung kürte Ben Bella zum Präsidenten und Boumédiène zum Verteidigungsminister.
Ben Bella wollte aus Algerien ein zweites Kuba machen. Sein Machtantritt fiel mit der Ankunft des griechischen Linksaktivisten Michalis Raptis, besser bekannt als Michel Pablo, in Algier zusammen. Als Sekretär der trotzkistischen Vierten Internationale hatte Pablo das erste (und wichtigste) europäische Unterstützungsnetzwerk für die FLN aufgebaut. Dieses hatte unter anderem ein klandestines Waffennetzwerk organisiert, um die Bewegung mit entsprechender Ausrüstung zu versorgen.
Pablo glaubte fest daran, dass ein wesentliches Merkmal des Sozialismus zunächst die Ausweitung der Demokratie sein müsse. Einerseits war er der Ansicht, in einem unterentwickelten und vom Krieg verwüsteten Land wie Algerien könne es (noch) keinen Sozialismus geben, da dieser ein hohes Maß an wirtschaftlicher Entwicklung und internationale Arbeitsteilung voraussetze. Andererseits argumentierte Pablo jedoch, man könne den Grundstein für einen zukünftigen Sozialismus legen, indem man von Anfang an demokratische Institutionen fördert.
Pablo wurde damit zum lautstarken Verfechter dessen, was er »Autogestion« (Selbstverwaltung) der Gesellschaft nannte. Er begrüßte die spontane Schaffung einer solchen Selbstverwaltung in vielen Betrieben Algeriens. Seiner Meinung nach bot sich in dieser Form die (einzige) Chance, eine tragfähige Alternative zu den kapitalistischen oder bürokratischen Modellen für sich entwickelnde Gesellschaften zu schaffen.
Pablo und Ben Bella kamen schnell ins Gespräch und waren sich einig. Der neue Präsident heuerte Pablo als Wirtschaftsberater an. Eine Handvoll Unterstützer folgte Pablo nach Algier. Hinzu kamen algerische Militante wie Mohammed Harbi und Omar Belouchrani, die sich ebenfalls bereits für eine weitgehende Selbstverwaltung einsetzten.
Ben Bella seinerseits überredete den ägyptischen Diktator Gamal Abdel Nasser, mehrere arabische Kommunistinnen und Kommunisten aus seinen Gefangenenlagern zu entlassen, damit sie in Algerien aktiv werden könnten. Einige von ihnen halfen tatsächlich bei den Planungen für die algerische Selbstverwaltung und die Agrarreform.
Die Zusammenkunft dieses kleinen Stabes kosmopolitischer revolutionärer Intellektueller konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keine nationale politische Kraft gab, die sich für die Selbstverwaltung einsetzte. Die FLN war ein Trümmerhaufen, der zwar schnell wieder aufgebaut wurde, dabei aber ebenso viele Opportunisten wie echte Revolutionärinnen anzog.
Darüber hinaus steckte die Gewerkschaftsbewegung noch in den Kinderschuhen, und ihre Anführer waren Männer, die von Ben Bella und Boumédiène ernannt und nicht von den Mitgliedern gewählt wurden. Das, was man eine Kultur der politischen Demokratie nennen würde, fehlte in Algerien weitgehend.
Dennoch waren die ersten Tage des unabhängigen Algeriens voller Hoffnung. Ben Bella billigte Pablos Forderung nach einem Schuldenerlass für die Bauernschaft und der Aussetzung und Annullierung der jüngsten Verkäufe von europäischen Landwirtschaftsbetrieben und Grundstücken. Er beauftragte Pablo mit der Ausarbeitung der neuen Gesetze für die Selbstverwaltung in der Wirtschaft.
Das Ergebnis waren die März-Dekrete von 1963, in denen die Selbstverwaltung in allen ehemals in europäischem Besitz befindlichen landwirtschaftlichen Betrieben und Unternehmen gesetzlich festgelegt wurde. Generalversammlungen sollten dabei die größte Macht haben, einschließlich der Wahl eines Arbeiterrats. Dieser Rat wiederum wählte den Verwaltungsausschuss, der für die täglichen Geschäfte zuständig war. Die Regierung sollte in Absprache mit den Selbstverwaltungsorganen der jeweiligen Gebiete regionale Generaldirektoren ernennen.
Die Regierung leitete die Umsetzung der März-Dekrete mit viel Brimborium ein. Ben Bella begab sich auf eine landesweite Tour, um für seine Gesetzesvorlagen zu werben. Er leitete die Wahlen der Arbeiterräte und hielt überall leidenschaftliche Kundgebungen ab, in denen er die »Geburt des algerischen selbstverwalteten Sozialismus« verkündete. Das Bureau national d’animation du secteur socialiste (BNASS, Nationales Büro zur Unterstützung des sozialistischen Sektors) wurde gegründet, um die neuen Selbstverwaltungsorgane zu unterstützen. Ebenso ging ein regelmäßiges Radioprogramm – die »Stimme der Selbstverwaltung« – an den Start.
Die Ermordung seines radikalem Außenministers Mohamed Khemisti zwang Ben Bella jedoch bald, seine Reise durch das Land abzubrechen. Zurück in der Hauptstadt musste er sich der Lobbyarbeit langjähriger Mitstreiter stellen, darunter sein alter Zellengenosse Ali Mahsas, der inzwischen Landwirtschaftsminister war. Mahsas argumentierte, dass eine strenge zentralisierte Beaufsichtigung der selbstverwalteten Betriebe unerlässlich sei.
Ursprünglich sollte die Regierung den selbstverwalteten Sektor mit Unterstützung und Investitionen fördern, um die Rentabilität und Produktivität zu steigern (die bisherigen Erträge waren etwa halb so hoch wie die vergleichbarer Betriebe in Europa). Der algerische Staat würde die Steuern auf diese Betriebe dann für die lokale, regionale und nationale Entwicklung verwenden.
Doch die Parteibürokratie hatte andere Vorstellungen, die im Wesentlichen als parasitär bezeichnet werden können: Das Ministerium übernahm die volle Kontrolle über die landwirtschaftlichen Maschinen, den Vertrieb und die Kredite. Es knüpfte enge Verbindungen zu den Generaldirektoren und Vorsitzenden der Verwaltungsausschüsse. In der Folge grassierte die Korruption.
Außerdem nutzten die lokalen Préfets – das Beamtentum in der französischen Verwaltungsstruktur, das das neue Algerien übernahm – die landwirtschaftlichen Betriebe, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. In der Praxis bedeutete das, dass Höfe nun vier- oder fünfmal so viele Beschäftigte hatten wie zu Kolonialzeiten. Ben Bellas Kollegen überredeten ihn außerdem, das BNASS dem Landwirtschaftsministerium direkt zu unterstellen. Auch die Radiosendungen wurden eingestellt.
Pablo und andere protestierten gegen diesen schleichenden Bürokratie-Coup, der im Grunde die selbstverwalteten Räte und Komitees auf den Status von Beratungsgremien – und die arbeitenden Menschen auf den von Staatsbediensteten – reduzierte. Bereits im August 1963 schrieb Pablo an Ben Bella und erinnerte diesen daran, dass alle Revolutionen früher oder später auf einen Kampf zwischen demokratischen und autoritären Tendenzen hinauslaufen. Ben Bella müsse sich für eine Seite entscheiden.
Pablo hielt es für absolut notwendig, das System der Selbstverwaltung von der Bevormundung durch das Ministerium zu befreien und die Möglichkeit zu schaffen, Genossenschaften zu gründen, um die Erzeugnisse zu vertreiben sowie die Kontrolle über Traktoren und andere Maschinen zu behalten. Ben Bellas Regierung müsse außerdem eine Agrar-Investitionsbank einrichten, die den selbstverwalteten Betrieben Kredite geben könne.
Ben Bella ließ sich Zeit. Er beauftragte Pablo mit der Ausarbeitung eines Agrarreformgesetzes, das die Umverteilung von Land vorsehen und die Gründung von landwirtschaftlichen Genossenschaften fördern sollte. Die meisten algerischen Bäuerinnen und Bauern hatten zuvor nicht auf den europäischen Höfen gearbeitet und lebten in Subsistenzwirtschaft mit winzigen Parzellen. Pablo entwarf außerdem Vorschläge für lokale Gemeinderäte, die sich aus direkt gewählten Vertreterinnen sowie Delegierten der lokalen selbstverwalteten Bauernhöfe und Unternehmen zusammensetzen sollten.
Nach Pablos Plan sollten diese Gemeinderäte verpflichtet werden, regelmäßig Vollversammlungen mit Bürgerinnen und Bürgern einzuberufen, um deren Arbeit anzuleiten. Diese Räte sollten die Grundlage für eine föderale Republik bilden, die Bevölkerung für öffentliche und gemeinnützige Arbeiten mobilisieren sowie bei der Ausarbeitung eines Gesamtplans für die algerische Wirtschaft helfen.
Die Initiativen blieben zunächst unberücksichtigt, bis im April 1964 der erste nationale Kongress der FLN nach der Unabhängigkeit stattfand. Bei diesem Kongress wurde die sogenannte Charta von Algier verabschiedet, die Mohammed Harbi weitgehend in Absprache mit Pablo verfasst hatte. Darin wurde als Ziel der FLN der selbstverwaltete Sozialismus proklamiert.
Doch leider führte diese (rhetorische) Errungenschaft weder zur tatsächlichen Kontrolle der Befürworter der Selbstverwaltung über den offiziellen Parteiapparat noch zu wesentlichen Veränderungen in den Regierungsministerien. Daher und angesichts der bürokratischen Konterrevolution gegen die Selbstverwaltung wuchs die Unzufriedenheit unter den Landarbeitenden. Im Dezember 1964 gipfelte diese Unzufriedenheit im Zweiten Kongress der Agrararbeiter.
Diese Versammlung von rund 3.000 Personen wurde von Delegierten aus den landwirtschaftlichen Betrieben dominiert, nicht von den handverlesenen Vertreterinnen und Vertretern des Ministeriums und der Gewerkschaften. Die Mehrheit der Delegierten kritisierte die bürokratischen Missstände und bekräftigte die Forderung nach mehr statt weniger Selbstverwaltung.
Ab Ende 1964 mehrten sich die Anzeichen für eine Radikalisierung der Massen. In aufeinanderfolgenden Gewerkschaftskonferenzen wurde das bisherige Marionetten-Führungspersonal, das Ben Bella 1962 eingesetzt hatte, aus dem Amt entlassen. Die neuen Führungskräfte waren der Selbstverwaltung eher positiv gegenüber eingestellt, wobei sie (verständlicherweise) Ben Bella selbst misstrauten.
Die wohl dramatischste Äußerung dieser Radikalisierung war eine Demonstration in Algier anlässlich des Internationalen Frauentags am 8. März 1965. Fotografien zeigen, dass der Großteil der Teilnehmerinnen Frauen aus den einfachen Schichten der algerischen Gesellschaft waren. Es war eine kämpferische Demonstration, keine Modenschau.
Henri Alleg hat in seinen Memoiren eine einprägsame Anekdote von diesem Marsch festgehalten. Alleg selbst war der legendäre Herausgeber von Alger Républicain, der meistverkauften – und kommunistischen – Tageszeitung der Hauptstadt, sowie Autor eines Buches über seine Foltererfahrungen durch die französischen Behörden während des Unabhängigkeitskampfes.
Als »Zehntausende Frauen«, so Alleg, an den Büros von Alger Républicain vorbeizogen, lehnten sich die Angestellten der Zeitung aus den Fenstern und von den Balkonen, um den Frauen zuzujubeln und in ihre Gesänge einzustimmen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich das Landwirtschaftsministerium. Dort sah man mit versteinerter Miene und schweigend zu.
In seiner für ihn typischen Art begann Ben Bella nun – trotz der anhaltenden Angriffe in der Armeezeitung der FLN auf die »atheistischen Kommunisten«, die bereits einige einflussreiche Positionen in seiner Regierung innehatten – weiter nach links zu schwenken. Er deutete an, dass er den Außenminister Abdelaziz Bouteflika, einen wichtigen Verbündeten von Armeechef Boumédiène, entlassen wolle. Auf der Sitzung des Zentralkomitees der FLN Mitte Juni unterstützte Ben Bella eine Reihe radikaler Anträge.
Ben Bella war zwar innenpolitisch nicht konsequent und durchgehend radikal, aber er machte Algerien neben Kuba zum stärksten Unterstützer der antiimperialistischen Kämpfe in der sogenannten Dritten Welt. Bewegungen wie Nelson Mandelas African National Congress (ANC) in Südafrika, die angolanische MPLA, die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO und sogar die portugiesische antifaschistische Allianz eröffneten Büros in Algier und schickten Kader und Guerillas zur Ausbildung dorthin.
Amílcar Cabral, der große panafrikanische Dichter aus Guinea-Bissau, nannte das Algier dieser Zeit »das Mekka der Revolution« – eine Formulierung, die der amerikanische Historiker Jeffrey James Byrne kürzlich für eine herausragende Studie über die Außenpolitik Algeriens während der Ben-Bella-Jahre entliehen hat. So scheint es ganz logisch, dass Che Guevara Algier als ersten Ausgangspunkt für seinen Versuch wählte, die kongolesische Revolution wiederzubeleben.
Infolge der neuen politischen Maßnahmen Algeriens wählte die blockfreie Bewegung das Land als Tagungsort für ihre anstehende zweite Konferenz. Alle Größen der antiimperialistischen Revolutionen – von Fidel Castro und Jawaharlal Nehru über Sukarno und Abdel Nasser bis hin zu Josip Broz Tito und Ho Chi Minh – sollten an dem Treffen im Juli 1964 teilnehmen oder zumindest Stellvertretende entsenden. Ben Bella würde den Vorsitz führen, so die Pläne.
Boumédiènes Coup
Die Aussicht auf diesen Prestige-Schub für Ben Bella, in Verbindung mit seinem Linksruck und seiner Absicht, wichtige Boumédiène-Unterstützer aus ihren Ämtern zu entlassen, dürfte Boumédiène dazu veranlasst haben, seinen Putsch gegen Ben Bella zu starten. In den frühen Morgenstunden des 19. Juni 1965 drang eine Gruppe Soldaten unter der Führung des Generalstabschefs in Ben Bellas Villa Joly ein und verhaftete ihn dort.
Soldaten und Panzer bezogen in allen Städten und größeren Ortschaften Stellung. Der Putschist Boumédiène verkündete ein Ende des »Chaos« und die Rückkehr zur vermeintlichen Ordnung. Er beschimpfte Personen wie Pablo als »ausländische Atheisten«. Die Konferenz der Blockfreien wurde abgesagt.
Landwirtschaftsminister Mahsas unterstützte den Putsch natürlich. Die Gegenproteste blieben größtenteils erfolglos, obwohl Harbi festhält, eine der kraftvollsten Demonstrationen habe in der Stadt Annaba stattgefunden, wo »militante Selbstverwalter [...] die Bevölkerung mobilisierten und erklärten, dass die Putschisten der Volksdemokratie ein Ende setzen würden«.
In den Straßen von Annaba beschoss und tötete die algerische Armee erstmalig ihre eigenen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Das algerische Experiment der Selbstverwaltung war damit zerschlagen und Geschichte. Die Befürworter der Selbstverwaltung wurden zu gejagten Männern und Frauen; Pablo musste das Land verlassen.
Ben Bella blieb bis nach dem Tod Boumédiènes 1978 unter Hausarrest. Auch Harbi verbrachte einige Zeit unter Hausarrest, während der er begann, eine Geschichte der FLN zu schreiben. Nach seiner Flucht aus Algerien 1973 wurde er zum führenden kritischen Historiker der Bewegung.
In den 1990er Jahren wurden die neu aufkeimenden Hoffnungen auf eine Demokratisierung schnell zunichte gemacht, als Algerien in einen brutalen Bürgerkrieg rutschte, in dem das Militär gegen religiöse Fundamentalisten kämpfte. Die Militärdiktatur hält bis heute an.
Gleiches gilt allerdings auch für die regelmäßigen Volksaufstände und die Forderung nach der Einführung einer echten Demokratie. So musste Boumédiènes Verbündeter Bouteflika schließlich 2019 von seinem Amt als Präsident zurücktreten, nachdem in Massenprotesten ein Ende der Diktatur des herrschenden Blocks (bekannt als »Le pouvoi«, die Macht) gefordert worden war.
Hall Greenland ist Journalist und Historiker. Er ist Autor einer Biografie von Michalis Raptis (aka Michel Pablo).