05. September 2022
Neuerdings werfen sich Großmächte gegenseitig vor, imperialistisch zu sein. Ein analytischer Begriff wird zur moralischen Empörungsfloskel degradiert.
Das ist Imperialismus!« So verurteilte Olaf Scholz die russische Invasion der Ukraine auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos, dem Marktplatz der globalen Schicht der Superreichen und politischen Eliten. Boris Johnson sprach kurz nach Kriegsausbruch von einem Kampf zwischen Demokratie und Tyrannei, zwischen »Gut und Böse«. Umgekehrt bezeichnet Wladimir Putin das westliche Militärbündnis NATO als »imperial«, da es Russland bedrohe. Plötzlich ist der Imperialismus überall.
Scholz spricht von einem Bruch der Ordnung, weil Russland für sich in Anspruch nimmt, als Großmacht »Grenzen neu zu ziehen«, und für eine Weltordnung steht, »in der der Stärkere diktiert, was Recht ist« und »in der Freiheit, Souveränität und Selbstbestimmung nicht allen zustünden«. Das klingt rigoros, aber neu daran ist eigentlich wenig, denkt man an die Öl-Kriege der letzten Jahrzehnte. Höchstens, dass zum ersten Mal seit 1991 eine Großmacht ohne Segen der USA einen Krieg anfängt – und nun eine militärische Eskalation droht, die weit über die Ukraine hinausgehen könnte.
»Imperialismus« ist zu einem inflationären Kampfbegriff verkommen. Doch auch auf der Linken mangelt es an tieferer Analyse: Imperialistisch ist alles, das in großem Stil Kriege führt oder zumindest daran beteiligt ist. Dieser Kurzschluss führt aktuell entweder dazu, sich – einer Logik des geringeren Übels folgend – der NATO-Position anzuschließen oder aber den russischen Angriffskrieg zu relativieren. In beiden Fällen werden die Erzählungen Herrschender übernommen.
Dabei meint der Begriff mehr als das Führen von Kriegen, wie ein Blick auf die Imperialismustheorien der letzten 120 Jahre zeigt. Geschichtlich stammt das Wort vom lateinischen imperium – wer darunter eine Expansionspolitik von Großreichen versteht, hat also schon den richtigen Riecher. Doch seine Umwandlung vom einfachen Wort zur Analysekategorie hat eine verzweigte Wurzel mit marxistischen und bürgerlich-liberalen Strängen.
Erst mit der britischen Besetzung Ägyptens 1882 und der Aufteilung Afrikas unter den europäischen Mächten kommt der Begriff im anglofonen Raum in Mode. In dieser Atmosphäre schrieb der liberale Ökonom John A. Hobson 1902 sein Buch Imperialism: A Study. Wladimir Lenin, Leo Trotzki, Hannah Arendt und weitere würden sich später auf ihn beziehen. Hobson war der erste, der den Imperialismus innerhalb eines kapitalistischen Systems analysierte. Jedoch aus einer anderen Motivation: Für Hobson stellte Krieg ein schlechtes Geschäft dar. Zwar würden einige Wenige davon profitieren, die Kosten für das System seien aber eigentlich zu hoch. Er wollte den Kapitalismus also nicht abschaffen, sondern reformieren.
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Simin Jawabreh (@siminjawa) arbeitet an der Humboldt-Universität zu Berlin im Lehrbereich Theorie der Politik, in der politischen Bildung und ist Kolumnistin bei JACOBIN.